Die Linde von Kehl (2/4)

Die Schwalbe aus Papier bekam einen Ehrenplatz über meinem Schreibtisch und die Geister der Erinnerung riefen nicht nach mir.

Meine neue Einrichtung wurde, wenn man von meinem Vater absah, von vielen sehr positiv aufgenommen. Ich lag voll im Trend damit, das Alte mit dem Neuen zu verbinden. Es gab in der Stadt ganze Geschäftszweige, die ihre Nische darin fanden, einen modernen Antiquariatismus zu definieren. Das Alte, selbst Designs und Stücke, die bislang als Fehltritte der Historie des Geschmacks galten und allenthalben mustergültig waren für das Verstaubte und das Verquere, gerieten wieder in die Wohnzimmer des mondän Weltläufigen.

Das Alte kam aber nicht allein. Es brachte Düsteres aus der Vergangenheit mit sich in die Gegenwart. Dunkle Vorboten traten aus dem nebulösen Dämmerschein der Geschichte bis in die Gegenwart hinein.

Im Juli gab es Krawall auf den Straßen der Stadt. Vermummte Gestalten zogen quer durch Hamburg, lärmten bis tief in die Nacht und legten sich mit der Polizei an. Es war ein internationaler Lärm. Ein Sturm hatte sich eingeschlichen und kreiste über den Ländern Europas. Von meinem Balkon aus konnte ich beobachten, wie Feuer gelegt wurden und geschrien wurde. Ich sah eine vermummte Frau, die weinend in einem Hauseingang gegenüber zusammenbrach. Sie nahm die Maske ab und ich sah im flackernden Feuerschein ein schmerzverzerrtes Gesicht, das mit Narben gezeichnet war. Sie hielt sich die rechte Seite. Sie begann sich einen langen Schal um die Hüfte zu wickeln und immer wieder vergewisserte sie sich, dass sie ganz straff und fest angezogen hatte. Dann stand sie auf und humpelte hastig davon, ehe zehn Minuten später ein Polizeitrupp mit gezückten Schlagstöcken auf ihrer Spur durch die Straße rannte.

Mein Schlaf war in jenem Sommer unruhig geworden. Ich fühlte mich auf vielen Ebenen unruhig und angespannt. So, als würde ein empfindsamer Teil in mir drin sich auf die Lauer legen. Die vernarbte Frau, die ich eigentlich nur undeutlich im Flackerschein dieser Nacht gesehen hatte, hatte einen unerklärlich tiefen Eindruck auf mich gemacht. Ich träumte immer wieder davon, wie sie da unten saß und ich da oben auf dem Balkon stand. Wie ich zu ihr runterblickte und sie sich eine blutende Wunde mit ihrem Schal abband. Ich träumte, dass ich runtergehen würde, um ihr zu helfen. Oder dass sie aufblickte und mich ansah. Ich träumte, dass die Polizei gerade käme, wenn ich auf der Straße stand. Und dass sie mich zusammenprügelten. Oder dass sie oben an meiner Tür stand und dagegen hämmerte und rief: „Mach die scheiß Tür auf! Die Bullen sind gleich da! Mach auf! Ich verblute.“

Meinen Vater log ich an, als er mich fragte, ob ich etwas von den schrecklichen Ausschreitungen dieser Tage mitbekommen hätte. Ich sagte, das sei in einem anderen Stadtteil passiert. Hier bei uns ist alles sicher, log ich. Und er glaubte es mir, weil er sich nicht auskannte mit den ganzen Straßennamen und Stadtteilnamen. Für ihn lebte ich in genug Sicherheit, um sich anderen Dingen zuzuwenden. Zum Beispiel den Belangen der Familie Sinter.

Bei unseren gelegentlichen Telefonaten erzählte er mir von Renovierungsarbeiten, die von der Familie Sinter angestoßen worden waren und die er nur zu gern ausführte. Einerseits hatte er etwas zu tun, andererseits war er dankbar für alles, was das alte Haus aufwertete. Ich hatte mich endgültig damit abgefunden, dass es nicht mehr das Haus meiner Großmutter war. Es war kein Ort der Erinnerung mehr für mich. Alles, was von Bedeutung war, hatte ich mit zu mir genommen. Mein Wohnzimmer mit den alten Dielenböden aus Großmutters Haus löste mehr Wohlfühl-Kindheitserinnerung aus als das eigentliche saarländische Haus in Kehl.

Zumindest war es so, bis zum Herbstbeginn dieses Jahres. Dann erzählte mir mein Vater am Telefon, dass die alte Linde endlich sterben durfte. Der uralte Lichtfresser könne weg.

Weil der Baum das Dorfbild prägte, hatte er die Erlaubnis vom Bürgermeister einholen müssen. Die Anfrage wurde im Gemeinderat diskutiert und nach monatelanger Entscheidungsfindung schließlich bewilligt.

Ausschlaggebend musste wohl gewesen sein, dass der Baum so sperrig geworden war, dass er kein ordentliches Verkehrsschild an der Kreuzung je hatte angebracht werden können. Die Moderne siegte also aus rein pragmatischen Gründen über das Überkommene.

Ich war einsilbig geworden, als mir mein Vater das alles berichtete.

Er nannte es eine Win-Win-Situation, bei der jeder glücklich und zufrieden nach Hause gehen könne. Eine Seltenheit in der heutigen Zeit, wie er mehr als einmal betonte. Und fast war es mir, als sei er sogar stolz darauf, so als habe er allein es bewirkt.

„Die Familie Sinter muss für die Kosten und die Arbeit aufkommen.“, erklärte er mir. „Aber von jeder Seite gibt es grünes Licht.“

Ich wusste, dass ich ihn beglückwünschen müsste oder loben oder sagen, dass es jetzt ja gut sei. Aber ich sagte nichts. Ein tief in mir schlummerndes Sensorium war durch die Nachricht geweckt worden. Ein sanftes Vibrieren und ich fühlte mich erinnert an Tiere, die schon Wochen vorher spüren konnten, dass ein Sturm aufzog.

Ich spürte ihn kommen.

Ein dunkler Schatten, der über allem lag, ein tiefer, kaum hörbarer Unterton begleitete neuerdings das Leben. Und in meinen Träumen reagierte mein Unterbewusstsein sich aus.

In ihnen vermischte sich die Geschichte mit der Narbenfrau mit der Geschichte mit der Linde. Aber ich konnte mir keinen rechten Sinn darauf machen.

Ich träumte, dass draußen wieder die Unruhen wären. Und ich stand wieder am Fenster und sah nach unten. Da saß sie, diesmal aber nicht in einem Hauseingang, sie saß auf den Wurzeln dieser Linde auf diesem halb eingewachsenen Grenzstein. Und sie blutete auf die Wurzeln herab und sah mit gequältem Gesicht zu mir auf. Ich hörte Schritte im Treppenhaus. Was ja eigentlich nicht sein konnte, weil ich sie doch da unten sitzen sah. Dann wurde meine Tür aufgestoßen und die Dunkelheit strömte mit einem eiskalten Windstoß zu mir herein und verschlang mich.

Ich erwachte im Zugabteil und sah draußen das Land vorbeirauschen. Es war ein ungemütlicher Herbst in diesem Jahr. Ein Schietwetter der übelsten Sorte. Der Zug fuhr durch ein verregnetes Land, das dunkel und kalt geworden war.

Wir hatten inzwischen Oktober. Die Unruhen waren aus Hamburg ausgewandert und fanden jetzt in Spanien statt. Man sagte, Europa kämpfe im Innern um sich selbst. Innere Grabenkämpfe um den Zusammenhalt. Kämpfe, die geführt wurden und bei denen jeder Beteiligte wusste, dass es um das Gefühl von Identität ging.

Als ich am Bahnhof in Merzig ausstieg, kam mir alles ganz still vor. So, als habe jemand den Ton auf dumpf gedreht. Ich wartete, bis mein Vater mich abholte und dann fuhren wir nach Kehl.

„Schön, dass du hier bist. Wir sind immer froh, wenn es dir in Hamburg zu viel wird.“, sagte mein Vater.

„Ich bin gern hier.“, log ich. Den Rest der Fahrt verbrachten wir schweigend. Zumindest bis wir Schwarzholz hinter uns hatten und die alte Gerbermühle passierten. Dann erinnerte sich mein Vater, dass im hinteren Fußraum noch etwas für mich lag.

„Das soll ich dir von Herrn Sinter geben.“, erklärte er.

Ich öffnete das Paket und legte das Papier nach hinten auf die Rückbank.

Es war ein Buch, eins von der alten Sorte. Mit ausgefranstem, richtig dünnem Papier. Fast Seidenpapier. Auf dem Buchdeckel war nicht mehr lesbar, um welches Buch es sich handelte. Aber auf dem Innendeckel war mit alter Handschrift noch der Name meiner Großmutter lesbar.

„Er hat es auf einem Flohmarkt in Merzig gefunden.“, erklärte mir mein Vater. „Er hat den Namen zufällig gesehen und musste an dich denken. Ich fahr das Buch jetzt schon seit einem Monat durch die Gegend. Aber ich wollte es dir nicht mit der Post schicken, wenn du ja sowieso kommen wolltest.“

„Danke.“, ich blätterte darin. Es war in Frakturschrift gedruckt, was ich kaum lesen konnte. Auf einigen Seiten waren Bilder, größtenteils Pflanzen und Bäume.

„Ein Naturkundebuch.“, sagte mein Vater. „Vermute ich. Hab’s mir nicht genauer angesehen. Vielleicht ein altes Schulbuch von ihr.“

„Ja, kann sein.“, antwortete ich und mir kam der Gedanke, wie passend es doch war, dass ein Buch über Pflanzen auftauchte, wo wir kurz davor waren, einen alten Baum klein zumachen.

Wir fuhren gerade durch den halben Torbogen von Kehl. Auf der linken Seite der Straße wuchs der Steinbogen empor. Dann wurde er weitergeführt durch ein Metallgerüst, über welches im Sommer Rosen spaliert wurden. Die Hauptstraße führte ohne Umschweife zur Kreuzung mit dem Haus meiner Großmutter. Aus dem kleinen, gedrungenen Häuschen war ein strahlend weißes Prachtstück geworden. Positiv überrascht war ich, dass die Sinter die alten Holz-Klappläden beibehalten und neu angestrichen hatten. Das Dach war neu gedeckt, die Fassade gedämmt und gestrichen. Der Vorplatz war schöner angelegt. Neue Blumen saßen in den Kästen an den Fenstern.

„Sie haben uns zu zwei Essen eingeladen. Ein Vorher-Nachher-Essen.“

„Ich versteh’ nicht.“

„Heute Abend essen wir bei den Sinters im Dunkeln. Und morgen Abend, wenn die Linde nicht mehr steht, genießen wir das neue Raumgefühl, das durch das schöne helle Tageslicht entsteht.“

Mir lief ein Schauer über den Rücken als wir an der Linde links abbogen.

„Im Hellen ist noch keiner depressiv geworden.“, sagte mein Vater. „Wirst sehen.“

(Fortsetzung folgt hier)

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