4 – Festspiele

Die ganze Stadt brennt vor Eifer. Ein ununterbrochener Fackelzug trieb durch die Straßen. Fahnen wehten aus allen Fenstern. Ein ständiger Menschenstrom, der die Hauptstraßen hinaufzog, so dass Martin meinte: „Sie ziehen wie die willenlosen Tiere den Berg hinauf. Weißt du, was ein Fest ist, Sokrates? Eine Gelegenheit zur Schlemmerei! Das ist ein widerliches Menschsein, da unten. Man hat geradewegs Lust dazuzugehören. Lust! Hörst du! Wir stehen hier oben und während du nicht fertig wirst, bleibt mir nur dieser Anblick einer geistlosen Armut. Wenn man den Menschen aufgelöst in diesem Pulk betrachtet und man gar nicht mehr deinen Einen von den Anderen unterscheiden kann, dann läuft es einem glatt kalt den Rücken herab. Findest du nicht?“

Sokrates war immer noch dabei sich für den heutigen Abend fertig zu machen. Er hätte ja nicht darauf bestanden, etwas außergewöhnliches anzuziehen. Er wäre in seinen ganz normalen Kleidern vor die Tür gegangen. Aber Sandra hatte sich ihnen in den Weg gestellt, zuerst ihren Mann gescholten, dass er einfach so nach draußen gehen wollte, und dann Martin, weil er es zuließ, dass sein Mann sich zum Gespött der Nachbarn machte.

Also standen sie wieder hier oben und Sokrates musste Kleider finden, in denen er das Haus verlassen durfte.

„Besser als die Lust ist nur der Wahnsinn! Um der Lust willen sollte man niemals auch nur einen Finger rühren.“

Sokrates hatte endlich etwas gefunden und als sie wieder nach unten ins Erdgeschoss gingen, sagte Martin: „Das Traurige an dem Treiben ist, dass man von außerhalb so gut sehen kann, dass das Leid den Menschen trifft, sobald er sich von seiner Streu erhebt.“

„Hör endlich auf!“, fuhr Sokrates den Freund an. „Sag mir lieber, ob es so gehen wird?“

„Du meinst: ob wir so gehen werden.“

Sokrates gab einen mürrischen Laut von sich und setzte ein honigsüßes Lächeln auf sein Gesicht, dann stellte er sich in den Zugang zur Küche und rief nach seiner Frau.

„Wir gehen jetzt ins Kino!“

Sandra kam auf ihn zugerannt, musterte ihn, dann beugte sie sich zu ihm vor und gab ihm je einen Kuss auf jede Wange und schließlich einen zärtlichen Kuss sogar auf den Mund.

„Amüsier dich gut.“, sagte sie.

„Bist du sicher, dass du nicht mit uns kommen willst?“

„Wir würden uns freuen, wenn du dabei wärst.“, bestätigte Martin.

Sandra schüttelte den Kopf so heftig, dass ihre dunklen Locken flogen.

„Ihr sollt euch amüsieren. Da könnt ihr mich nicht gebrauchen.“ Sokrates rollte mit den Augen und sie küsste ihn ein zweites Mal auf die Lippen. „Bestellt dem guten Thomas meine Grüße, ja? Ich drücke ihm die Daumen.“

Wenig später befanden sich die beiden Männer auf der Straße. Zuerst konnten sie dem großen Treiben ausweichen, indem sie auf Nebenstraßen auswichen, doch das Kino lag auf der anderen Seite der Stadt.

Die diesjährigen Festspiele waren enorm besucht. Es war unmöglich, dem ewigen Menschenstrom zu entgehen. Normalerweise hätten sie zu Fuß bis zur Freilichtbühne Friedrichshain keine viertel Stunde gebraucht. Unter den vorliegenden Umständen machte Sokrates den Vorschlag die U-Bahn zu nehmen. Obwohl er es sich nicht hatte vorstellen können, waren die Bahnen überfüllt und die Luft widerlich stickig. Es war ein noch unbarmherzigeres Gedränge hier unter der Erde. Eine Gruppe Großstadtpunks versuchte hier unten Programmhefte für alternative Szenenevents zu verkaufen. Laut priesen sie alternative Kinos und Discos an, schimpften auf den Kommerz und die Industrialisierung der Filmwelt, die das große Festspektakel dieser Tage zur Farce verkommen ließ.

Martin fluchte nahezu ununterbrochen. Unter dem Druck der Menschenmenge und der unbarmherzigen Spätsommerhitze dieses Abends, stand ihm der Schweiß schnell auf der Stirn und seine langen, schwarzen Haare klebten ihm auf dem hageren Schädel.

Sie entstiegen dem U-Bahn-Tunnel, doch anstatt der ersehnten frischen Luft, schlug ihnen nur die Schwüle der Stadt entgegen. Die Sommernacht, die über Berlin gekommen war, konnte nicht bis zum Boden vordringen. Die Straßen waren dekoriert mit goldenen, leuchtenden Bären mit erhobenen Tatzen. Zudem hatte die Stadt zu den diesjährigen Festspielen den Weg mit kleinen Holzbuden gesäumt. Aus all diesen drang ein Übermaß an Essensdüften zu ihnen herüber, so dass selbst dem hungrigsten Menschen schlecht geworden wäre. Neben Essen und Trinken gab es zahlreiche Buden, die Talismänner verkauften, Schnitzereien, Kerzen, Windlichter, Lichtspiele, Spielwaren, Kleider. Und noch während Martin sich darüber aufregte, dass niemand, der klar bei Verstand sei, hier irgendwo stehen bleiben würde um einzukaufen, kam der Menschenstrom immerzu ins Stocken, gerade weil die Menschen stehen blieben.

Sie erreichten den Volkspark. Aber anstatt hier endlich Platz zu finden, wurde es nur noch viel enger. Denn auf den Grünanlagen standen Spielmänner und Gaukler. Auf einer kleinen Bühne wurden Kunststücke aufgeführt und rund herum wurde mit Messern und mit Feuer jongliert. Man hielt automatisch Abstand und drängte sich nur enger aneinander.

Mit Mühe und Not gelangten sie schließlich zu der großen Bühne. Das Areal war hier eingezäunt. Überall standen die großen Schriftzüge von Radio- und Fernsehsendern. Überall prunkte der goldene Bär und das Logo der diesjährigen Veranstaltung. Die Menge hinter den Zäunen johlte und grölte. Es stank nach Bier und Schweiß. Dann kamen die Rote-Kreuz-Zelte. Dann endlich Platz zum Atmen. Sie nahmen die Abkürzung durch die Märchenbrunnenanlage. Die Steinskulpturen am Brunnenrand waren von einem namhaften Künstler herausragend beleuchtet. Ein zusätzliches Lichtspiel strahlte kinematografische Szenen auf Leinwände, die in den Arkadenbögen eingespannt waren. Doch für all den Rausch hatten die beiden Männer keine Augen.

Endlich gelangten sie zum Frelichtkino Friedrichshain und es war ein echtes Wunder, dass sie nicht schon zu spät kamen. Der untersetzte Mann an der Kasse hatte ihre schon vor Tagen bestellten Karten zurückgelegt. Ihre Plätze waren reserviert und von daher gab es ab jetzt endlich keine Eile mehr. Im Gegenteil: sie hatten sogar noch ein paar Minuten Zeit.

„Wenn es nicht ein Freund wäre“, beschwerte Martin sich. „hätte ich heute noch nicht mal die Stadt betreten.“

Noch ehe Sokrates antworten konnte, mischte sich eine Stimme ein.

„Warst du nicht immer schon ein wahrer Menschenfreund!“, und noch ehe Martin oder Sokrates sich umdrehen konnte, hatte der Unbekannte ihnen beiden von hinten zum Gruß auf die Schultern geschlagen. „Es ist so schön euch zu sehen! Ich habe euch schon von weitem gesehen und gerufen und gewunken. Aber bei diesem Treiben hier, kann man ja sein eigenes Wort nicht verstehen.“

Der da hinter ihnen stand war Christian. Obwohl er zehn Jahre jünger war als Sokrates, war Christian um gut zwei Köpfe größer. Er war ein durchtrainierter Mann. Sein Auftreten wirkte heute zwar brüsk, aber die gesamte Haltung sprach von der Anmut einer außergewöhnlichen Erziehung. Christian sprach schnell aber deutlich. Aus jedem Wort blitzte seine messerscharfe Intelligenz. Jetzt, da er die beiden Bekannten gefunden hatte, wagte er es mit einer schnellen Geste, beide zugleich zu begrüßen und er setzte sich auf einen freien Platz direkt hinter ihnen. Sein Grinsen entblöste eine Reihe makelloser Zähne.

„Ihr habt ein paar ausgezeichnete Meisterwerke verpasst! Aber das macht nichts. Es hat den Eindruck, als würde jedes Werk das vorherige um Längen schlagen.“, dann blickte er Martin an. „Ja natürlich, wie konnte ich es nur vergessen. Thomas muss ein Freund von dir sein. Ihr wart in der selben Schule, nicht wahr?“

„Wir hatten nur den selben Lehrer.“, verbesserte Martin.

„Du bist sicher mit deiner Familie hier.“, fragte Sokrates und bereute sogleich seine Neugier.

Denn Christian verneinte nicht nur und sagte „mit Freunden“, zugleich zeigte er in Richtung der vordersten Ränge und dort sahen einige Gesichter die ganze Zeit schon in ihre Richtung. Jetzt, da Christian auf sie zeigte und sogleich ihre Namen nannte, fühlte diese Gruppe sich dazu berechtigt, zu ihnen aufzubrechen. Die Namen fielen inzwischen so schnell aus Christians Mund, dass man selbst mit fotografischem Gedächtnis keine Chance gehabt hätte sie sich einzuprägen. Es waren vier junge Männer, alle in etwa im selben Alter. Sie waren braun gebrannt, modisch ähnlich gekleidet wie Christian und doch in ihrem Stil nicht derart vollkommen. Hände wurden geschüttelt und Christian stellte sie als „die wertvollen Martin und Sokrates“ vor, woraufhin Martins Gesicht verriet, was er von nun ab über diese Männer denken würde.

Es war typisch für ihn, dass er, kaum dass er seine Meinung gebildet hatte, den Männern keine Chance mehr geben würde.

„Es freut mich, dass noch so viele ihren Spaß an diesem Festival finden.“, sagte Sokrates. Er wirkte keineswegs verlegen, aber Martin kam es so vor, als würde sein Freund nur deshalb mit ihm reden, weil es höflich war.

„Um ehrlich zu sein, sind ein paar Bekannte von uns heute da unten zu sehen.“, er zeigte nach vorne. „Wir haben Freikarten bekommen. Sonst wären wir wohl auch nicht hier. So ehrlich muss man sein, nicht wahr Sokrates? Selbst wenn die Wahrheit schmerzt, muss sie heraus.“

„Sicher.“, brummte Martin und zeigte nach vorn. „Gleich fangen die Trailer an, nicht, dass ihr in der Dunkelheit über die Stufen fallt.“

„Kein Problem, wir haben Nachtaugen.“

„So ein Mist!“, meinte auf einmal einer aus der Gruppe, er stieß Christian an und zeigte zum anderen Ende des Saals. „Wenn das da drüben mal nicht Kay ist.“

„Es ist Kay.“, brummte Christian.

„Ein Freund von euch?“, murmelte Martin ohne hinüber zu sehen.

Christian beugte sich verschwörerisch vor, so dass sein Kopf zwischen ihren Köpfen war, und er flüsterte: „Man muss wohl mit Bedauern sagen, dass wir seine Freunde sind und nicht, dass er einer von uns ist. Seht ihn euch an. Ist er nicht mitleiderregend?“

Kay hatte die Gruppe selbstverständlich schnell gesehen, denn allmählich war es etwas dunkler geworden und die ersten Trailer wurden vorn auf die Leinwand projiziert. Sie waren die einzigen, die jetzt noch standen. Dadurch waren sie überhaupt nicht zu übersehen.

Sokrates und Martin musterten Kay. Er war ungleich stämmiger als die anderen, das machte ihn aber nicht weniger athletisch. Im Gegenteil hätte Sokrates jede Wette auf den Neuankömmling gesetzt, wenn es zu einer Auseinandersetzung gekommen wäre. Kay schob sich zwischen den sitzenden Zuschauern vorbei und lächelte breit, als er die Gruppe erreicht hatte.

Ganz im Unterschied zu den anderen, erlaubte Kay es nicht, dass man ihn vorstellte. Gut gelaunt hielt er Martin und Sokrates die Hand entgegen und stellte sich selbst vor. Martin stand zur Begrüßung auf, nahm die ihm angebotene Hand in zwei Hände und hielt sie einen Augenblick länger fest, als es hätte sein müssen. Dann erst nannte er dem Neuankömmling seinen Namen. Sokrates wusste diese Geste zu deuten. Er wusste, dass sein Freund sehr viel auf den ersten Eindruck gab, den er von einem Menschen hatte. Etwas, das in Kays Benehmen war, unterschied ihn ganz gewaltig von den anderen. Vielleicht war es auch einfach, dass Christian ihn so schlecht vorgestellt hatte, weshalb er Kay eine besondere Aufmerksamkeit zu Teil werden ließ.

Sokrates stimmte diesem nicht ausdrücklichen Urteilsspruch zu, indem er auf den Platz deutete, wovor Christian die ganze Zeit stand und ihn Kay anbot.

„Erinnerst du dich jetzt noch an meine Frage, Martin?“, und dann tat Sokrates, als müsse er wieder überlegen. „Ja, ich habe dich gefragt, ob du glaubst, Freunde haben ebenso ihren Wert wie ein Schauspieler einen Wert hat?“

„Von den Schauspielern kann ein Superstar mehrere Millionen wert sein.“, antwortete der. „Es gibt welche, wenn man diese nur auf einer Party haben möchte, muss man schwindelerregende Beträge bezahlen. Und ein anderer kann dagegen froh sein, wenn er überhaupt erst eingeladen wird. Wenn du mich fragst, würde ich manchmal lieber mein ganzes Geld hergeben und einen bestimmten Menschen zum Freund haben, als mit meinem ganzen Geld von Pöbel und Gesocks umringt zu sein.“

„Unter diesen Umständen müssten wir uns fragen, wieviel wir unseren Freunden wohl wert sind. Man muss sich Mühe geben, möglichst viel wert zu sein, damit einen die Freunde weniger im Stich lassen. Man hört ja genug, dass einer von einem Freund verraten wurde.“

„Schon für fünfzig Cent.“, bestätigte Martin.

„Ein schlechter Schauspieler wird von einem gebildeten Publikum jedenfalls nicht lange auf der Leinwand geduldet. Genauso könnte es auch ratsam sein, den schlechten Freund herzugeben, wenn man mehr als er wert ist.“

Christian legte seine Hände wieder auf ihre Schultern, um sie zu unterbrechen.

„Dann hoffen wir einmal, dass wir heute Abend noch ein paar gute Schauspieler zu sehen bekommen. Genießt den Abend.“, bei Kay indes verabschiedete er sich nur mit einem Blick.

Martin seufzte, als Christian fort war. Mehr brauchte er nicht zu sagen. Sokrates konnte seine Gedanken gut nachempfinden. Daher nannte er ihn kameradschaftlich „alter Hund“ und Martin antwortete einfach nur „Danke.“

Die Filmvorführung verlief ohne weitere Komplikationen. Thomas Werk hieß „FlowR“. Es war eine ruhige, tiefsinnige Story. Martin war beeindruckt von den Dialogen. Zwar wurde sehr selten gesprochen, und die Art war unrealistisch, auf eine verstörende Art steif und an seltenen Stellen sogar schwer zu verstehen, doch war das Neue dieser Sprache reizvoll. Die Stille in den langen Einstellungen war geheimnisvoll, die bildsprache atmosphärisch.

Dem Film wurde mit einem frenetischen Applaus begegnet. Teile des Publikums standen sogar auf, als der Regisseur, Thomas, die Bühne betrat und sich verneigte.

„Habt ihr die anderen Filme gesehen?“, wollte Kay wissen. Er hatte sich vorgebeugt.

„Nein, wir sind gerade erst gekommen.“, erklärte Martin. „Und ehe du fragst: weder kenne ich deine Bekannten da drüben, noch will ich sie kennen.“

Kay blickte verstohlen an Martin vorbei zu Christians Gruppe herüber. Er fragte sich bestimmt, was bis zu seinem Eintreffen hier vorgefallen sein mochte. Aber er wagte es nicht nachzufragen, deshalb begann er den Film zu loben, den man gerade gesehen hatte. Damit hatte er Martin sofort auf seiner Seite, der geschickt die Bezüge des Films herauszuarbeiten verstand. Erst am Ende dieses Gesprächs, als längst die Sympathien geklärt waren, verriet Sokrates dem Neuen, dass hinter Martins beeindruckender Leistung eine ganz einfache und ernüchternde Erklärung stand: sie hatten eben beide den selben Lehrer gehabt. Als Martin ihm einen säuerlichen Blick zuwarf, entschuldigte Sokrates sich sofort.

„Es tut mir leid. Ich war eben einem Fehler unterlegen, den ich mit der großen Menge teile, die dazu neigt, die Leistungen der anderen zu beobachten und dabei zu vergessen, sich selbst zu prüfen.“

„Immerhin hast du es bemerkt.“, verzieh Martin ihm.

Kay sagte es nicht, aber dass er über die beiden Fremden dachte, dass sie zwei sehr komische Vögel seien, war ihm ins Gesicht geschrieben.[1]

 

[1]Hossenfelder: Antike Glückslehren; Antisthenes

Xenophon: Erinnerungen an Sokrates; 2. Buch

 

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