7 – Beziehungen

„Pia Silbermann, meine Damen und Herren, ist mit Sicherheit nicht irgendwer. Jedem hier im Gericht wird, sobald ich diesen Namen erwähne, sofort das Gesicht vor stehen. Und mit Sicherheit werden sich auch viele an die ein oder andere Geschichte von ihr erinnern. Vielleicht haben sie sogar ihre Worte parat. Ist es nicht so? Vielleicht sogar diese hier: Krieg destabilisiert den Menschen.“

Krieg, dachte Sokrates und über seine schmalen Lippen floss der Anflug eines Lächelns. Jetzt sprachen sie es also aus. „Krieg“ war ein Wort, das erst im Hinterher geboren wurde. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Sokrates heimlich die Worte gesammelt, die man statt dessen verwendete. Man hatte, erinnerte er sich, über das „feindlich gesinnte Ausland“ gesprochen. Die Soldaten waren in „kämpferische Auseinandersetzungen“ verwickelt worden, sofern es denn Soldaten gab. Die meisten waren nur „Uniformierte“, „Hilfstruppen“, Mitglieder der „Ordnungsarmee“. Sein Lieblingsausdruck war inzwischen der „kriegsähnliche Zustand“ geworden. Offensichtlich konnten kriegsähnliche Zustände nur wenn sie vorüber waren als das enttarnt werden, was sie nun einmal waren: unbarmherzig, unheilsbringend und tödlich.

„Wir wissen heute, dass Pia Silbermann auf der Gehaltsliste Christians stand. Ihm ist es zu verdanken, dass ihre Artikel über den gesamten Kriegsverlauf und in der Zeit der Tyrannei der 30, sogar noch darüber hinaus, veröffentlicht wurden. Sie schrieb für den Krieg. Sie stachelte das Volk an, verhinderte den Frieden, gab sich immerzu als Kämpferin für die Demokratie aus und hat doch nie etwas anderes getan, als diese zu unterlaufen.“

Sokrates war überrascht von diesen Worten. Im Prinzip dachte er ja genauso. Aber er empfand auch Respekt vor ihr. Sie war ausgesprochen redegewandt, war es etwa nicht so? Wenn man das vergaß, konnte sie mit ihrem nächsten Artikel bereits wieder erfolgreich sein. Sie wusste, was das Publikum lesen wollte. Achja, das Publikum! Jeder schimpfte über Pia Silbermann, wagte es kaum, ihren Namen auszusprechen, und doch las man sie, weil man gierig war auf die Sensation, weil ihre Worte so klangen, als habe man selbst eben noch so gedacht. Nur begannen sich im Laufe des Artikels ihre Worte zu drehen. Wie ein Wirbel, der zwischen den Zeilen die Bedeutungen der Worte hin und her drehte, vollzog sich das größte Kunststück dieser Zeit. Und was mit dem größten Einvernehmen begann, endete mit einer manipulativen Überzeugungskraft sonders gleichen. Wenn Pia Silbermann schrieb, man dürfe den Frieden mit dem feindlich gesinnten Ausland nicht erhalten, dann wandelte sich das demokratische Blatt. Auf der großen Politbühne wurde darüber diskutiert, worüber man sich bis eben noch einig war. Wenn doch nur zu rechten Zeiten kein Politiker ihren Worten Aufmerksamkeit geschenkt hätte! Der Frieden war doch schon da gewesen, sogar zur rechten Zeit.

Es gab einen Artikel über den Nikiasfrieden, in dem der erreichte Zustand zwischen den sich bekriegenden Völkern als „ruhender Sturm“ bezeichnet wurde. Das eigene Land, das diesen Frieden so sehnlichst gewollt hatte, sogar die Politiker, die diesen Frieden errungen hatten, wandten sich nun dagegen. Und so hatte man sich ein zweites Mal in den Kampf gewagt – in kriegsähnliche Zustände – und dabei hoffnungslos verloren.

Der Krieg destabilisiert die Menschen, hatte Pia geschrieben. Sie brauchen in diesen Zeiten die Sicherheit, die sie verdienen. Ihnen muss versichert werden, dass alles wieder gut wird, dass ihre toten Söhne lächelnd und lebendig wieder zurückkehren. Dass die Sünden, die ihre geliebten Ehemänner im Ausland begehen, Sünden sind, die ihnen der Staat befiehlt, das sollten sie hören. Aber sie hören nur: ihr seid Hilfstruppen in einem fremden Land, das unsere Hilfe braucht, aber nicht will. Also zieht los und tötet. Also nehmt eure Fahne in die Hand, rammt sie in die feindlich gesonnene Erde und sterbt. Sterbt was das Zeug hält. Sterbt darauf los, weil euer Blut die feindliche Erde milde stimmt, weil es sie fruchtbar macht, weil es das Elend in der Fremde vertreibt.

Krieg destabilisiert den Menschen, da ist es ganz einfach, ihnen einen falschen Halt zu geben! Wenn ich jetzt schreibe, dass alles wieder gut wird, dann lüge ich. Ich schreibe aber die Wahrheit, habe noch immer die Wahrheit gechrieben: Nichts wird gut. Unser Land wird untergehen. Wir werden die Mütter sein, die keine Kinder mehr haben. Die Ehefrauen, denen die Männer fehlen. Und wir werden die Toten sein, die allein im Jenseits darauf warten, bis die Sünden der Geliebten verbüßt sind.

Wie oft hatte Pia Silbermann die Seite gewechselt, Sokrates rechnete nach. Waren es drei- oder waren es viermal?

Er wusste es nicht, weil er sie aus den Augen verloren hatte.

Die Hand des Anklägers war auf Sokrates gerichtet.

„Was wird er wohl auf unsere Vorwürfe erwidern?“, fragte der Ankläger. „Wird er wohl abstreiten, dass Pia Silbermann seine Schülerin war?“

Nein, dachte Sokrates. Diesen Vorwurf abzustreiten wäre zu einfach. Aber so einfach lagen die Dinge nicht.

„Und was wird er uns antworten, wenn wir ihn fragen, ob sie darüber hinaus noch mehr war? Sokrates, werden wir fragen: war sie deine Geliebte?“

 

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