Auch wenn es bestimmt schwer ist, sich Kinder wie die laut lachende Claudine, den zerfransten, zerfaserten Bernard und Thomeo, den Großartigen, vorzustellen, wenn man sie nicht wenigstens einmal im Waisenhaus gesehen hatte, vielleicht beim Spielen draußen in dem Park, um den sich seit Jahren keine rechte Hand mehr kümmerte, oder beim Schlendern durch die große Eingangshalle – wobei sie alle sehr bedacht darauf achten, dass sie dem unheimlichen Bild nicht zu nahe kommen und gleichzeitig dass man ihnen nicht anmerkt, dass sie diesen Abstand bewusst halten – denn Kinder sind immer außergewöhnlich und immer schwer vorstellbar, ganz egal, wie gut man sie einem beschreibt. Trotzdem ist das Waisenhaus Heiliger Geist noch schwerer vorstellbar und beschreibbar. Bestimmt liegt das daran, weil Waisenhäuser grundsätzlich zu selten zu finden sind und dann auch noch unscheinbar wie gewöhnliche Häuser aussehen. Und deshalb geht man an einem gewöhnlichen Waisenhaus ja auch schon einfach gedankenlos vorbei. Und kaum einer hat wirklich eine Vorstellung davon, wie es darin aussieht. Vielleicht haben die meisten auch eine recht romantische Vorstellung von einem Waisenhaus, geprägt von den Geschichten von Oliver Twist, David Copperfield oder Gottes Werk und Teufels Beitrag. Und diese Vorstellungen haben nichts mit echten und noch weniger mit dem Waisenhaus Heiliger Geist gemeinsam.
Denn zusätzlich ist das Heilige Geist Waisenhaus ein sehr einzigartiges Haus, besser gesagt: es ist mehr ein Bauwerk als ein Haus. Denn es ist so alt, dass die Wände noch unglaublich dick sind und die Böden alle aus glatt geschliffenem Stein. Die einzige Ausnahme ist die Mensa, also der Raum, wo die Waisenkinder sich dreimal am Tag zum Essen versammeln. Und deshalb beginnt die Beschreibung in diesem Raum. Denn hier ist es am leichtesten, ihn so zu beschreiben, dass man ihn sich vorzustellen kann:
Der Raum ist ein großer Würfel. Und die eine Wand ist ganz aus Glas, an denen man weiße Jalousien runterlassen kann, was aber nie gemacht wird, weil die Fensterfront in die Richtung zeigt, in der nie die Sonne steht.
Die Stühle sind alle aus kaltem Metall. Die Tische auch. Genau wie die Lampenschirme, die aussehen wie umgedrehte Schüsseln, aber innen leuchtend kupferfarben sind.
Der Boden ist aus einem dunkelbraunen Holz mit schwarzen, viel geschwungenen Linien, die wie schwarze Flüsse aussehen. Wenn es hier nicht nach Essen riecht, dann nach Kälte.
Die Erwachsenen essen an dem einen Tisch, der ganz nah an der Tür ist. Und die Kinder verteilen sich, wie sie wollen. Es sind immer zu viele Kinder und an der ein oder anderen Stelle quetschen sich schon mal zwei auf einen Stuhl. Oder die Mädchen sitzen aufeinander und kichern, obwohl es wenig zum Kichern gibt, wie Marie Mallarmé findet. Das Essen jedenfalls ist nicht zum Kichern. Es ist zum Sattwerden.
Bernard nennt es Fraß. Und wenn Claudine beim Essen laut lacht, dann liegt das an den Grimassen, die ihr Bruder mit den viel zu großen Zinken der Gabel in den Kartoffelbrei zeichnet.
Thomeo war felsenfest davon überzeugt, dass Bernard zum Malen und zum Zeichnen geboren war. Er konnte alles malen, was sich die menschliche Phantasie auszudenken gestattete. Und manchmal sogar, meist wenn es sehr dunkel in der Mensa war, dann saß Bernard über einem großen irgendwo unsauber abgerissenen Plakat und malte mit Kohle- oder Wachsmalstiften, selten auch mal mit einem Kugelschreiber mit der sonderbar verschnörkelten Aufschrift ‚Waking Life’, Bilder, über die Thomeo sagte, die könne sich keine menschliche Phantasie ausdenken. Sondern eben nur Bernard.
Das waren Gemälde, die dann ein paar Wochen lang in Bernards und Claudines Zimmer an den Wänden hingen. Oder einmal sogar an der Außenseite ihrer Tür (das war ein Bild, das Bernard und Claudine zeigte, und es war das erste, was Marie Mallarmé von Bernard und Claudine zu sehen bekam, am Tag als sie das Waisenhaus zum ersten Mal betrat und Charlesdos zu ihr sagte: ‚Gleich kommt dein Zimmer. Dein neues Zuhause.’).
Auf diesem Bild sahen die beiden Geschwister sehr echt aus, fast wie eine Fotografie. Aber mit viel zu großen Augen und einem Kopf, der so nicht ganz auf die zierlichen Schultern passen wollte. Aber der Flur, den Bernard dahinter gezeichnet hatte, der sah so gar nicht echt aus, hätte man denken können. Aber Thomeo hatte in einer Nische gestanden, an dem Tag, als Marie Mallarmé im Waisenhaus ankam. Und er hatte ihren Blick bemerkt und aus dem Schutz des Schattens heraus, in den er sich gedrückt hatte, sodass Marie Mallarmé ihn zuerst einmal gar nicht richtige sehen konnte, aus dem Schutz dieses also Schattens heraus hatte er gesagt: „Gefällt dir der Flur nicht, den Bernard da gemalt hat? Gewöhn dich dran! So sieht die Welt nämlich eigentlich aus. Wenn nur nicht alles verändert wäre.“
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Marie Mallarmés allererster Eindruck von dem Bauwerk war zu komplex für ein kleines Mädchen. Und deshalb soll hier nur gesagt werden, dass dieses kleine Mädchen sich von Anfang an im neuen Zuhause unwohl fühlte. Sie fühlte sich nur wohl, weil Thomeo diesen einen Satz gesagt hatte. Aber in einem Satz kann man nicht schlafen. Sie fühlte sich geborgen, weil Bernard und Claudine da waren, und sich einfach so um sie kümmerten. Aber ein Kümmern ist nicht aus Mauern und Dächern gestaltet. Sondern um Nähe. Thomeos merkwürdige Art fühlte sich warm und wohlig an. Aber das ist keine Wärme, die einem gegen das Zittern hilft. Oder gegen die Albträume.
Die Einrichtung Heilig Geist, so hatte man ihr versprochen, wäre ein Ort, der das alles bieten möchte. Er bestand aus Mauern, die einen vor der Welt schützte. Ein Dach gegen jedes Unglück, das von oben zu kommen pflegt. Da gab es Heizungen, die zwar nachts ein dumpfes, unaufhörliches Klopfen durch die Leitungen schickte, aber die auch jedes Schlafkämmerchen, egal wie groß oder klein, ununterbrochen in Hitze tunkte. Naja, bis auf die Mensa.
Aber nichts von all dem hielt bei Marie Mallarmé das, was es versprach.
Nicht nur half nichts gegen das Zittern. Es half sogar eher den Albträumen und der Angst.
Es gab neben Thomeo noch einen Mann, den Marie Mallarmé singen hörte. Und dieser Mann war Doktor Zeller. Ein Arzt, mit dem Marie Mallarmé reden musste. Und zwar jeden Tag. Und dieser Dr. Zeller versprach ihr auch etwas, sogar gleich am ersten Tag. Er versprach ihr: Sie bräuchte nie über etwas zu reden, worüber sie nicht reden wollte. Und sie bräuchte keine Angst zu haben, denn es gäbe hier im Heiligen Geist nichts, was ihr Schaden zufügen würde. Kein Kind, kein Erwachsener. Dies, bekräftigte Dr. Zeller sogar mehrfach, sei ein Haus des Friedens und des Lebens. Und damit wäre die Zeit der Angst und des Sterbens vorbei.
Und das, spürte, erkannte und verstand Marie Mallarmé schon vom ersten Tag an, war vielleicht nicht gelogen, aber es so weit von der Wahrheit entfernt, wie Marie Mallarmé von ihren Albträumen.
Dieses Haus war kein Ort des Friedens.
Das Waisenhaus Heiliger Geist mit seinen dicken Steinwänden, den großen Hallen, den weitläufigen Treppen, dem silbernen Kronleuchter, der aussah wie aus einem Märchenfilm, die Wandteppiche in den Kellerfluren, vor allem das riesengroße Gemälde in der Eingangshalle mit dem goldenen, geschwungenen Rahmen, das einem gierig hinterheratmete, wenn man an ihm vorbeischritt, selbst der Staub auf den dicken Fensterbänken, auf denen sich Kinder hinter den Handläufen der Treppen gerne in die tiefen, schattigen Nischen drückten, all das war voller Gefahren und voller Angst machender Gier, voll höllischer Schwärze und abgrundtiefer Sehnsucht nach Elend, Leid und Tod.
*
Deshalb fällt es so schwer, dieses Haus im Ganzen zu beschreiben. Und es fällt sicher auch schwer, es sich vorzustellen, wenn man selbst noch nicht da gewesen ist. Warum sollte man auch? Marie Mallarmé, die längst nicht mehr als einzige begriff, dass die Welt, in der sie lebte, im wahrsten Sinne des Wortes aus den Fugen geraten war, wäre am liebsten nicht hier gewesen.
Aber nun war sie es, und das erste große Abenteuer sollte beginnen.
Natürlich hatte es etwas mit dem Gemälde in der Halle zu tun. Und alles begann mit roter Götterspeise und einem unfassbar widerlichen Regen.
(Ende des ersten Kapitels)