Kay und Simon hatten die Straßenbahn genommen. Auch wenn es nur ein kurzes Wegstück war, reiste man bei diesem Wetter angenehmer unter der Erde. Es regnete in Strömen. Das Wasser klatschte nur so auf die beiden herab. Um nach unten zu gelangen, mussten sie nur zum Ende des Häuserblocks sprinten. Aber da waren sie schon so durchnässt, dass ihnen die Zähne aneinanderschlugen.
Die Stadt hatte sich ganz schön verändert, seit sie beide das letzte Mal hier gewesen waren. Schon am Tag ihrer Ankunft hatte Simon zu Kay gemeint, es könne genausogut eine ganz andere Stadt sein, wohin man zurück kehrte. Nicht nur ihr äußeres Erscheinungsbild war anders – Kay hatte spontan an das Bild einer grob aufgebrochenen Schatulle denken müssen – auch die Art, wie einem die Menschen neuerdings begegneten spielte eine Rolle. Diese Mischung aus Misstrauen, seit Jahren unterdrücktem Wut und der latenten Bereitschaft zum Handeln. Dass die Hauswände zahlreicher beschriftet waren mit aggressiven, fordernden Parolen, hätte Simon gern als ein weiteres Zeichen der Zeit gedeutet. Aber der Nachgeschmack dieser Worte war schrecklich bitter.
Kay erinnerte sich, dass ein Jahr vor ihrer Abreise neue Waggons eingesetzt worden war. Aber man konnte vom Neuen nichts mehr ahnen. Von vielen Sitzen war das Polster abgelöst worden. Auf dem hellgrauen Plastik stand noch immer die durchgestrichene Zahl 30. In einem ihrer frühesten Artikel hatte Pia Silbermann die Berliner U-Bahn-Waggons als letztes echtes demokratisches Printmedium gelobt. Es bringt das geschriebene Wort durch die ganze Stadt. Es gibt keinen Zensor. Und erst recht gibt es keine Flucht davor. Du siehst die Worte, weil sie dich unweigerlich anglotzen. Du erwiderst nur ihren Blick. Je kryptischer und missverständlicher die Symbole, desto besser. Dann liegt es an dir, was sie bedeuten, dann ist es so gut, als hättest du sie selbst dahin geschrieben.
Als Simon die durchgestrichene 30 sah, sagte er: „Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir die Stadt nie verlassen hätten.“
„Das hätte nichts an den bestehenden Tatsachen geändert.“, antwortete Kay. „Es hätte nur dazu geführt, dass wir beide uns in der Fremde nicht begegnet wären.“
Aber er wusste, was Simon gemeint hatte. Aus der Ferne hatte alles ganz anders ausgesehen. Der Krieg hatte nicht unmittelbar stattgefunden. Man hatte Mühe gehabt, sich die Zeitungen aus der Heimat zu besorgen. Es waren die selben Worte, die man auch zu Hause gelesen bekam. Und doch hatte die Ferne ihnen etwas von der Schärfe weggenommen.
Natürlich hatte man überall über den Krieg gesprochen, der einen selbst in der Fremde nichts anging. Man hatte über ihn diskutiert und war von seinen Bildern erschüttert gewesen. Was in der Zwischenzeit im Land selbst geschah, und dass unabhängig vom Ausgang des Krieges im Irgendwo, gleichzeitig bedeutende Schlachten, die im Innern des Landes stattfanden, längst entschieden waren, hatte man erst viel zu spät erfahren.
Kay fand die Luft in diesem Waggons unerträglich. Abrupt wandte er sich Simon zu und machte den Vorschlag, hier auszusteigen. Sie waren zwei Stationen zu früh wieder an der Oberfläche. Der Regen war noch immer unbarmherzig und die Luft viel zu kalt. Simon fragte nicht, was mit Kay los war. Sie gingen schweigend nebeneinander her bis der Regen in einen stärkeren Schauer überging. Hastig stürzten sie in den Hauseingang eines kleinen Juweliergeschäftes und starrten hinaus in die Stadt, die dunkel geworden war, obwohl es noch mitten am Tag war.
„Ich habe das vorhin anders gemeint.“, sagte Simon auf einmal.
„Was denn?“
„Ich habe doch gesagt, wir wären besser daheim geblieben. Ich meinte damit: wir hätten uns besser nicht auf Studienreisen begeben.“
„Du meinst, wir wären besser dumm geblieben.“
„Ich hab manchmal das Gefühl, dass vor unserer Reise, das Leben einfacher war.“
„Das Leben war nicht einfacher“, sagte Kay strikt. „Aber es lebte sich einfacher, das ist richtig.“
„Als wir noch an Gewissheiten glaubten; an Unveränderliches.“
Misstrauisch erwiderte Kay den Blick. „Glaubst du nicht mehr an Gewissheiten?“
„Doch schon, aber das, was wir für sicher gehalten haben, ist uns unter den Füßen weggebrochen. Wir waren wissbegierig, nicht wahr? Das Land haben wir verlassen, weil Menschen wie Sokrates es uns damals schmackhaft gemacht hat.“
„Du wirst mir doch jetzt nichts bereuen, oder?“
Simon zuckte mit den Schultern.
„Sokrates hat mir einmal gesagt, dass man sich davor hüten muss ein ‚Redefeind’ zu werden.“
„Ein Redefeind? Was meinst du damit?“
„So wie es Menschenfeinde gibt.“, antwortete Kay vorsichtig. „Das Reden und Diskutieren zu hassen hat er als schlimmer bezeichnet als die Menschen zu hassen. Dabei kann beides den selben Ursprung haben. Man fängt an, menschenfeindlich zu werden, wenn man einem auf kunstlose Weise zu sehr vertraut und von ihm enttäuscht wird. Wenn man jemanden für besser hält als er ist und dann eines besseren belehrt wird, sich immer wieder und wieder irrt, dann wird man misstrauisch, zieht sich zurück und glaubt nur noch an das Kranke im Menschen. Und alles nur, weil man zu Beginn nicht im Umgang mit den Menschen geübt war, oder falsch geübt war. Hätte er sich auf die Kunst des Umgangs mit Menschen verstanden, wäre es schwerer gewesen, ihn zu enttäuschen.“
„Und?“
„Der Trick bestand für Sokrates darin, nicht an das Extreme zu glauben. Es gibt ganz wenig Helden auf der Welt, oder?“
„Mit Sicherheit.“
„Es gibt ganz wenig Großartiges, Herausragendes, Besonderes, Gigantisches, Winziges, … Aber es gibt sehr viel Mittelmaß. Kein Schwarz und kein Weiß: Graustufen.“
„Eine ganze Welt aus Mittelmaß.“, sagte Simon. Er verzog das Gesicht. „Mit dieser Einstellung könnte ich mich anfreunden.“
„Wer glaubst du, würde den Wettbewerb gewinnen: schlechtester Mensch der Welt?“
Simon lachte. „Auch wenn es ein paar Favoriten gibt. Ich fürchte, den Pokal kriegen wir nicht los. Es wird immer einen geben, den wir für schlechter halten. Und selbst der wird uns noch mit einer tollen Eigenschaft überraschen. Aber auf was willst du raus?“
„Darauf, dass dies der wesentliche Unterschied zu den Reden ist. Wenn jemand mit der selben ungeübten Naivität einer Rede getraut hat, und sie ihm dann falsch vorkommt – vielleicht zu Recht, vielleicht zu Unrecht – und dann nochmal von schönen Worten hinters Licht geführt, …“
„Wird er das unsinnige Gerede hassen.“
„Er wird es hassen, weil er ständig enttäuscht wird.“
Simon lächelte und senkte den Kopf: „Hat es denn einen Sinn?“, fragte er.
„Wenn einer, weil er auf solche Reden stößt, die ihm bald wahr zu sein scheinen, und bald wieder nicht, sich selbst nicht die Schuld gibt und seine Unfähigkeit erkennt, sondern er der Rede die Schuld gibt, wird er am Ende keine Wahrheit und keine Erkenntnis erlangt haben.“
„Aber er wird stolz auf seine falsche Erkenntnis sein, wass diese Reden anging. Er wird seine eigene Dummheit nehmen und ihr den Anstrich von Selbstgefälligkeit und Klugheit geben. Nur kommt jetzt das Tragische mein Freund: dadurch, dass er ohne die Enttäusch lebt, lebt er glücklicher.“
„Ich bezweifle, dass der Dumme wirklich glücklicher lebt.“, sagte Kay. „Aber er steht zumindest nicht vor Gericht, weil er seine Mitmenschen ständig mit seinen eigenen Reden enttäuscht.“
Sie setzten ihren Weg fort als der Regen schwächer wurde. Die gesuchte Adresse war nicht mehr weit entfernt.
In den Rinnsteinen hatte sich das Wasser gestaut und breiten Lachen gesammelt. Je näher sie der besagten Adresse kamen, umso schlimmer wurde die Straße. Schließlich mündete der Fußgängerweg in eine schlecht abgesicherte Baustelle, die sie leider betreten mussten, weil der Verkehr hier zu stark war, um auf die Straße auszuweichen.
Sie fanden das Haus in einer abzweigenden Nebenstraße. Es war ein niedriges Mehrfamilienhaus mit einem breiten Flur, der zu einem typischen berliner Innenhof führte. Hier gab es drei Zugänge ins Haus, drei Treppenhäuser. Sie mussten eine Weile suchen, bis sie an einem ausgeblichenen Schild den Namen fanden, der auf dem Notizzettel stand.
Professor Platon öffnete ihnen gut gelaunt. Seine Stimmung wurde sogar noch besser, als sie Sokrates erwähnten und den Grund ihres Besuchs angaben.
„Wenn es sie nicht stört“, sagte Professor Platon, „dass ich in der Zwischenzeit koche, ich stelle gern noch zwei Portionen extra auf.“, und dann stemmte er die Hände in die Hüften und sagte sehr ernst: „Es sei denn, sie verabscheuen Hülsenfrüchte, wie mir das von einigen Bekannten meines Freundes Sokrates zu Ohren gekommen ist!“
Simmias errötete: „Nicht mehr.“, gestand er.
„Dann herein in die gute Stube.“, rief der Professor schallend, der ihnen überhaupt nicht wie ein Professor vorkam. Überhaupt: sie hatten ganz anderes erwartet.