Sir Lancelot: Was sind Schönheit und Hässlichkeit – Essay

Wenn ein Archäologe einen Fetisch oder eine Maske einer fremden Kultur findet, eine unförmige Darstellung, fratzenhaft verzerrt, wie soll er wissen, ob diese Darstellung ein Schönheitsideal oder ein Hässlichkeitsideal darstellen sollte?

Wir haben sowohl eine Vorstellung davon, was wir als schön empfinden, als auch davon, was hässlich ist. Und sowohl das eine wie das andere haben wir im Bedürfnis, aufzufangen und wiederzugeben. Es gibt eine Reihe an Kunstwerken, die nicht den Anspruch erheben, ‚schön’ sein zu wollen. Auch wenn wir oberflächlich gerne dazu neigen, Kunst immer als die „Schöne Kunst“ wahrzunehmen, das Schaffen um die Schönheit herum, so gibt es doch immer wieder erschreckende, unförmige Gestalten.

Wir glauben doch sicher nicht, die antike Griechen hätten den Minotaurus erfunden, um ein schönes Geschöpf dem Kanon hinzuzufügen.

Das Hässliche wurde oft mit dem Unmoralischen verknüpft. Es diente der Abschreckung. Der Horror, der Thriller, der Krimi sind Erzählungen über die Abgründe der Menschlichkeit.

Es gibt aber auch eine Hässlichkeit, die nicht rein abschreckend wirkt, sondern die mit dem moralisch Wertvollen in Verbindung steht.

Sokrates wird im Symposium so beschrieben:

„Ich behaupte nämlich, er sei äußerst ähnlich jenen Silenen in den Werkstätten der Bildhauer, welche die Künstler mit Pfeifen oder Flöten vorstellen, in denen man aber, wenn man die eine Hälfte wegnimmt, Bildsäulen von Göttern erblickt, und so behaupte ich, dass er vorzüglich dem Satyr Marsyas gleiche.“ Nirgendwo ist davon die Rede, dass dieser Weise erste Philosoph schön gewesen sei.

Im Mittelalter diskutierte man, ob man in bildlichen Darstellungen, den Teufel schön zeigen dürfe. Und wie müsse man das Leiden Jesu darstellen? Das Böse, das an einem Messias vollzogen wird.

Das Hässliche bleibt immer die Abnorm. Seien es drei Augen, also eines zu viel, oder ein Mangel an einer Sache, das Hässliche ist das, was anders ist. Nicht viel anders verhält es sich doch mit der Schönheit, hier reden wir von Exotik. Die großen Augen in Animes verraten, dass im japanischen Kulturkreis diese Außergewöhnlichkeit begehrenswert ist.

Bei der Schönheit reden wir oft von einer abnormalen Vervollkommnung, eine mathematisch perfekt angenäherte Symmetrie, eine Gleichmäßigkeit, Ebenmäßigkeit.

Bei der Hässlichkeit haben wir dann wohl die extreme Asymmetrie, eine Ungleichmäßigkeit, Unebenmäßigkeit.

Dass Schönheit und Ethik miteinander verknüpft sind, lässt sich auch daran sehen, dass in grundlegenden ethischen Schriften, etwa der des Aristoteles, auch Moral und Immoralität von diesen Symmetrien die Rede ist. Es heißt bei Aristoteles in der Nicomachischen Ethik etwa, dass die tugendhafte Handlung eine „Mitte“ darstellt zwischen zwei Extremen. Und die Extreme, das zu viel oder zu wenig, ist immer unmarlisch. Zwischen Gier und Verschwendsucht steht der rechte Umgang mit Geld. Das Extreme ist hässlich und unmoralisch.

Und wir neigen dazu, diese Dinge miteinander zu assoziieren. Die Bösewichter in Filmen sind seit jeher dunkel, düster und hässlich entstellt. Da braucht es einen missgebildeten Glöckner von Notre Dame, um das Klischee als solches zu entlarven. Der Gute ist immer schön. Der Held immer ebenmäßig und rein und unbefleckt.

In der frühen Literatur gibt es einen Gralsritter, der eine besondere Aufmerksamkeit verdient. Es ist kein Geringerer als Sir Lancelot. Er ist ein Geschöpf zweier Welten: der Welt der Mythen Avalons und der Welt der Menschen. Von letzteren geboren, und von ersteren aufgezogen, ist sein Gesicht entstellt. Es fehlt die Symmetrie, heißt es. Die linke Gesichtshälfte passe nicht zur rechten. Hier sieht er ebenmäßig und rein, perfekt, fast engelsgleich aus, dort aber entstellt, hinterhältig und grausam.

Er wird in der Geschichte der Gralsritter einen Ehrenplatz einnehmen. Denn er wird der größte Held am Hofe König Artus. Als dessen bester Freund leidet er darunter, dass er eine reine und innige Liebe mit Artus Ehefrau verspürt. Daran zerbricht das reine Gewissen des Ritters und er flieht in die Welt hinaus, wo er unter tragischen Umständen einen Sohn zeugt, den er nicht kennen lernen wird: Sir Galahad, denjenigen, der einmal den Gral finden wird.

Lancelot, der immer dachte, er würde den Gral finden, weil der Gralsfinder der reinste Ritter der Welt wäre, wird von diesem Schicksalsschlag schwer enttäuscht. Noch mehr, weil die Liebe zwischen ihm und Königin Guinevere die Tafelrunde sprengt. Als Artus am Ende stirbt, zieht sich Lancelot in ein Kloster zurück. Er entsagt allem Weltlichen.

Er ist der zerrissenste Charakter der mittelalterlichen Literatur. Und er ist derjenige, der sich in jeder seiner Geschichten zwischen der Schönheit und der Hässlichkeit entscheiden muss, die ihn prägen. Er ist der moralisch ewig Gespaltene. Wenn er liebt – was der Welt der Schönheit angehört – dann liebt er die Falsche – die Sphäre des Hässlichen. Wem er die Treue schwört, der ist dem Untergang geweiht.

In gewissem Sinne ist er eine ins Mittelalter transferierte antike Figur.

Von daher ist er eine tiefe, dreidimensionale Figur, die nicht einfach nur schön oder nur hässlich ist. Und das macht die Figur spannend.

Karl Rosenkranz schrieb in seiner Ästhetik des Hässlichen (1852):

„Dass das Hässliche ein Begriff sei, der als ein relativer nur in Verhältnis zu einem andern Begriff gefasst werden könne, ist unschwer einzusehen. Dieser andere Begriff ist der des Schönen, denn das Hässliche ist nur, sofern das Schöne ist, das seine positive Voraussetzung ausmacht. Wäre das Schöne nicht, so wäre das Hässliche gar nicht, denn es existiert nur als die Negation desselben. Das Schöne ist die göttliche, ursprüngliche Idee, und das Hässliche, seine Negation, hat eben als solches ein erst sekundäres Dasein. Es erzeugt sich an und aus dem Schönen. Nicht, als ob das Schöne, indem es das Schöne ist, zugleich hässlich sein könnte, wohl aber indem dieselben Bestimmungen, welche die Notwendigkeit des Schönen ausmachen, sich in ihr Gegenteil verkehren.“

Lancelot illustriert gleichzeitig, wie Recht Rosenkranz hat und gleichzeitig wie Unrecht. Das Schöne bei Lancelot ist die göttliche, ursprüngliche Idee. Aber das Hässliche existiert unabhängig davon. Lancelots Hässlichkeit ist nicht eine, die durch Abwesenheit der Schönheit existiert. Sie ist ihm wesentlich beigegeben. Er ist der Schöne, der zugleich hässlich sein kann. In ihm verkehren sich die Bestimmungen dessen, was seine Schönheit ausmacht, nicht in ihr Gegenteil. Er trägt die Widersprüchlichkeit in sich. Und damit wird er zu einer extremen Figur und er droht die hässlichste Figur der Literatur zu werden. Dass er am Ende als der Strahlende Held aus der ruinösen Geschichte, in der jeder einzelne tragisch stirbt nur er selbst nicht, dass er also in dieser Geschichte am Ende positiv hervorgeht, das zeigt, dass seine Hässlichkeit als schön zu interpretieren ist.

Er wollte immer die reinste Seele am Königshof sein. Und daher hätte er den Gral finden müssen. Nur der reinste, so die Prophezeiung, findet den Gral. Als sein Sohn als der reinste in Erscheinung trat, zerbrach etwas in Lancelot. Der Sohn verschwindet mit dem Gral in Avalon und aus der Geschichte. Und Lancelot bleibt zurück um zu sehen, wie das Königreich mit all seiner Pracht und Schönheit zerfällt. Im Kloster schließlich, im höchsten Alter angelangt, gebeugt, fast blind, dem Tode geweiht, erscheint ein schwer kranker Mann. Von dem es heißt: er könne nur von der reinsten Seele, die je gelebt habe und je leben werde, geheilt werden.

Lancelot weigert sich, ihn zu berühren. Er sagt, der Kranke sei viel zu spät. Galahad, sein Sohn, der Gralshüter, sei längst fort.

Natürlich berührt Lancelot den Kranken am Ende doch.

Und natürlich ist es seine Berührung, die heilt.

Galahad mag rein genug gewesen sein, den übernatürlichen Gral zu finden.

Aber das Erdulden des Leidens unter der eigenen Lebens-Hässlichkeit war es, was aus Lancelot einen menschlichen, erdgebundenen Heiligen macht. Die höchste Form der menschlichen Reinheit und des Edelmuts.

Wie heißt es bei Alexander von Hales (13. Jahrhundert):

Das, was man als böse bezeichnet, ist in gleichem Maße hässlich (…). Dennoch gilt: Insoweit sich aus dem Schlechten das Gute entwickelt, wird es als gut bezeichnet, da es auf das Gute ausgerichtet ist: und somit wird es in dieser Ordnung als schön bezeichnet. Es wird also nicht als absolut schön bezeichnet, sondern als schön innerhalb einer Ordnung, ja, man muss vielleicht sogar besser sagen: Diese Ordnung selbst ist schön.“

 

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