Der Mensch hat ein fantastisches Instrumentarium in seinem Kopf. Ein Mikroskop möchte man fast meinen, dazu bestimmt, einen spektakulären Detaillierungsgrad anzuvisieren: Der Verstand. Und nennen wir einen gut funktionierenden Verstand nicht scharf? Man darf nicht dem Irrtum unterliegen, damit sei die gleiche Schärfe gemeint wie bei einem Messer. Vielmehr müssen wir an die Kamera oder wirklich das Mikroskop denken, mit deren Linsen-Apparaturen wir einen Gegenstand „scharf stellen“ können.
„Die natürliche Verstandesschärfe ist eine wunderbare Kraft des Geistes, der zwei natürliche Begabungen umfasst: Scharfsinn und Gewandtheit. Der Scharfsinn dringt ein in die fernsten und feinsten Umstände jedes Gegenstandes, wie da sind Substanz, Materie, Form, Akzidentien, Eigenschaften, Ursachen, Wirkungen, Ziele, Sympathien, Ähnlichkeit, Gegenteil, Identität, das Höhere, das Niedere, die Zeichen, die Eigennamen und die Doppeldeutigkeiten: diese Dinge finden sich in jedwedem Gegenstand.“ (Emanuele Tesauro: das aristotelische Fernrohr).
Unser Verstand kann sogar noch einen Schritt weiter gehen. Nicht nur können wir rationalistisch uns der Welt annähern und sie von allen Seiten betrachten, ehe wir sie anfassen. Wir können auch planen, wie wir uns empirische Möglichkeiten verschaffen, jedweden Gegenstand genauer zu untersuchen. Man mag nun darüber streiten ob der Rationalismus Grundlage der Empirie darstellt, beides konkurrierende Herangehensweise zur Erforschung der Welt darstellen oder ob Empirismus Aspekte der Rationalität enthält, nicht aber von ihr abhängig ist. Doch dieser Aspekt soll ausgeklammert werden, weil es ein drittes gibt, was die Verstandesschärfe mit Hilfe ihrer Gewandtheit anzustellen im Stande ist: die Dystopie und die Utopie, also das Untersuchen von fiktiven Gegenständen. Und darin liegt die Meisterschaft der Verstandeskraft.
Gerne werden diese Fokussierungen als Träumereien abgetan. Im schlimmsten Fall als lediglich faszinierend, wohl aber geistes-gestört, also als Produkt einer Fehlleistung des Verstandes interpretiert. Man denke an Gemälde des großartigen Hyronimus Bosch, dessen Kreaturen verstörend wirken. Man denke an die Farben eines Greco oder die Visualisierungen eines van Gogh.
Es scheint, als läge man nicht falsch, bei Fiktionen von absichtlichen Verstandes-un-schärfen zu sprechen, von Blurry-Effekten, die über die Wahrnehmung reeller Gegenstände gelegt wird.
Boschs Gemälde sind keineswegs Produkte einer reinen Fantasie. Wir sehen Kreaturen, die auf der Grundlage von real existierenden Lebewesen erdacht sind: Menschenkörper mit Vögelköpfen und Insektenflügeln zum Beispiel. Wir sehen bei genauem Betrachten hinter allen Fiktionen die Verankerung an der Realität: Die Tribute von Panem kombiniert ein übertriebener Kapitalismus mit den Gesetzen der Mode, eine Gegenüberstellung von Kunst und Natur, wobei die Diktatur der Kunst über die ursprüngliche Vorherrschaft auf perverse Art triumphiert. Wir sehen die Gladiatorenideen der antiken Römer in einer weitergedachten Realität.
So funktionieren Utopien und Dystopien: eine scharfe Betrachtung der Gegenwart und eine anschließende Unscharfstellung der Verstandeslinse auf die gefundenen Ergebnisse. Im Optimalfall entsteht durch das gefundene Endergebnis eine Art Spiegel der Realität, worin sich ein kritisches Werturteil versteckt.
Bei Utopien mag die Hoffnung des Autors enthalten sein, dass eine bessere Welt möglich ist, bei Dystopien, die Warnung, die Welt könne „aus den Fugen“ geraten.
Bei der Interpretation vieler dieser Dystopien oder Utopien gelangt man schnell zur naheliegenden Formulierung „Was wäre wenn …“, als eine Grundprämisse für die vorliegende Geschichte. Es erscheint aber auf der Grundlage des vorher gedachten, dass sich alternativ etwas anderes anbietet, wenn dies auch nicht auf den ersten Blick und intuitiv beim Rezipieren der Utopien ersichtlich ist: Was ist, bei aller Unschärfe, die gemeinsame (die realistische) Kontur?
Damit diese Fiktionen lesbar werden und nicht als trockene Gedankenspielerei wahrgenommen werden, enthalten sie viel individuell menschliche Geschichten: die Liebesgeschichte in 1984, in „Stadt der Blinden“ oder auch in „Tribute von Panem“; aber auch die Rahmengeschichte in Thomas Morus „Utopia“ zählt hier dazu.
Dies ist aber mit gemeinsamer Kontur nicht gemeint. Gemeint ist der Hass und die Ausgrenzung, die Ghettoisierung in „Stadt der Blinden“, das Bedürfnis nach Friede und Harmonie und Gerechtigkeit in „Utopia“, die Technikbesessenheit in „Brave new world“, das menschlich Animalische in „Animal Farm“, der Krieg und das Elend in 1984, aber auch die Überwachungstechnik, die Propaganda; das amerikanische Fühlen in „The man in the high castle“; der Überlebenswille und die Verzweiflung in „Children of men“.
Das, was hier Kontur genannt wird, das ist das, was der Rezipient mit der acutezza oder Agudeza herausarbeiten kann.
„Das Wesen der Agudeza gehört zu jenen, die man eher im Gesamten als im Detail erkennt, die sich wahrnehmen, nicht definieren lassen; und jede Definition ist deshalb, bei einer so unerfassbaren Materie, gültig; was die Schönheit für die Augen ist und die Harmonie für die Ohren, ist für den Verstand der Begriff.“ (B. Gracián: Die Agudeza und die Kunst der Verstandesschärfe).
Das ist es, was die Verstandesschärfe mit der –unschärfe gemeinsam haben, das, was beide aus der Welt herausfiltern können, weil es – selbst bei höchster Unschärfe – als Kontur sichtbar bleibt. Die Kontur dieser Welt, die sich nicht wegwischen lässt und damit Wesen enthält: bizarrerweise das höchste Detail, das sichtbar wird nicht durch Detailschärfe sondern durch ihr Gegenteil.
Es erinnert an die Technik, wie man einen Stern fixieren soll: Niemals direkt den Stern anvisieren, da er dann im „Blinden Fleck“ des Auges verschwindet. Sondern an ihm vorbei sehen, ihn absichtlich nicht fixieren. Umso deutlicher tritt er zu Tage.