Demokratisch zerbricht die Demokratie (Essay)

Es ist schon ein paar Jahre her, da schrieb ich einen kurzen Post auf Facebook, wie überdurchschnittlich oft, man in jenen Tagen von einem „Narrativ“ sprach.

Der eigentliche Anlass war für mich, dass ich bis dahin überhaupt kaum diesen Ausdruck im Alltag vernommen hatte. Und dann, auf einmal, waren die Zeitungen voll von diesem Wort. Man hatte festgestellt, dass man viel damit erklären konnte. Da es nun so einfach war, wurde auch viel damit erklärt.

Das Narrativ der Fake News, das Narrativ der bedrohlichen Elite, das Narrativ des American Dream. Ja, Narrative gab es schon immer, aber ganz offensichtlich war die Zeit auf einmal voll von einander konkurrierender Narrative, oder diese Narrative begannen sich zu ändern und weil man das immer erst an den Symptomen bemerkt, dienten die Narrative immer der Erklärung, wie es in diesen Tagen zu diesem oder jenen Symptom kam.

Zwei dieser Symptome waren der Wutbürger und schließlich die AfD. Man erklärte die große Unzufriedenheit, das emotionale Aufbegehren damit, dass  vom Internet gefördert, bestimmte Narrative von der gefährlichen Elite und dem gefährdeten Individuum zu diesen Ausbrüchen führten: Weil die Menschen dieses Narrativ glaubten, beurteilten sie die Welt und ihre derzeitige Lebenssituation auf eine bestimmte, gefärbte, Art. In diesen Erklärungen waren dann immer auch kleine, unterschwellige Botschaften versteckt: Es gäbe richtige und falsche Narrative; nach dem Motto: „Wer schreit hat unrecht“ schlussfolgerte man: Wutbürger hätten das falsche Narrativ.

Die so Angegriffenen verteidigten sich – in ihrer Wut angestachelt: „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen“, was in diesen Debatten oft ersetzt werden konnte durch: „Wieso nimmst du dir das Recht, mir zu sagen, dass meine Perspektive die falsche und deine die richtige ist?“

Es war auf den ersten Blick ein Streit um die Deutungshoheit der Wirklichkeit. Aber wenn man genauer hinsah, dann war es ein über lange Hand vorbereiteter Streit des großen Missverständnisses des Werte-Pluralismus und des psychologischen Konstruktivismus: Wir alle, so der Konstruktivismus, kreieren unsere eigene Sicht auf die Welt, jeder hat nur seine eigene Perspektive, niemand hat wirklich recht, denn niemand hat das eine, perfekte Bild von der Wahrheit. Pluralismus: In einer Gesellschaft leben verschiedene, gleichwertige Werte nebeneinander.

Vielleicht lebten wir jetzt in der Zeit, in der man das falsch verstand: Alles ist erlaubt; jeder hat recht.

Oder auch: alle Narrative sind gleichwertig.

Der Unterschied zwischen der Wahnvorstellung des Nachbarn und meiner Vorstellung von der Welt lag lediglich darin, dass er in seiner Wahnvorstellung allein war und ich meine mit einer Mehrheit teilte. Daraus schlussfolgerte die Gesellschaft 2020: „Mein Narrativ ist keine Wahnvorstellung, wenn nur genug Menschen sie teilen.“ Dank der „Sharing“ und „Liking“ Kultur der sozialen Medien, ein viel zu glaubwürdiger Trugschluss.

Die Quantität wurde zum Maßstab der Wahrheit und je lauter man brüllte, umso mehr hatte man auf einmal recht.

War dieser Gedanke einmal generell akzeptiert, war es den zerstörerischen Kräften im Land ein leichtes, sich machtvoll wieder in den Vordergrund zu drängen.

Das entscheidende war, dass man von allen derzeit herrschenden Narrativen, die größten gemeinsamen Teiler erkennen musste.

Und dieser Teiler war das Elitenbashing.

Elitenbashing war nämlich ein Wort, womit man jeden Menschen belegen konnte, der gerade Kritik übte. Kritik an der Umweltpolitik, dem Umgang mit Kriegsflüchtenden, mit Wirtschaftskrisen, der Bildungspolitik, der Digitalisierung, den Corona-Maßnahmen, … es hatte zehn Jahre lang viele diskutable Themen und Entscheidungen gegeben, aber kein Jahr war so emotional aufgeladen wie 2020.

Auf einmal brach sich eine Fülle an Kritik und Diskussionen Bahn, da, bedingt durch die extremen äußeren Umstände der Corona-Pandemie, extreme politische Entscheidungen getroffen wurden.

Berechtigte und unberechtigte Kritik wurde geäußert, doch statt in einem politischen Diskurs aufgegriffen und bearbeitet zu werden, wie man das gewohnt war, griff das Narrativ von „der unnahbaren Elite“ und dem „hilflosen Volk“ zu und wurde zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

Wer von seinem Stimmrecht Gebrauch machte und gegen die politischen Maßnahmen demonstrierte, sah sich alsbald von einer vollkommen unübersichtlichen Gemengelage vereinnahmt. Denn auf den Demonstrationen trafen ruhige Kritiker mit verängstigen Mittelständlern, Reichsbürger mit Neonazis, Identitäre mit Umweltschützern, Freiheitsrechtler mit Ausländerfeinden und Reaktionäre mit unter Wahnvorstellung leidenden konfrontiert.

Wenn es je eine ultimative Darstellung der Absurdität des missverstandenen Pluralismus gab, diese war es:

Als die Bundesregierung sich traf, um über die Einführung des Infektionsschutzgesetzes zu bestimmen, gab es vielerorts berechtigte Kritik. Dass es bei der Einführung eines Gesetzes, welches zum Schutz der Bevölkerung temporär die Grundrechte einschränkt, zu einer Demonstration kommt, ist per se löblich; zeigt es doch, dass man den Wert der Grundrechte für so hoch erachtet, dass man sie nicht mal im äußersten Notfall beschnitten sehen möchte. Eine Vielzahl an Demonstranten mag sich stolz gefühlt haben in dieser immer weiter anwachsenden Menge zu stehen, ein Teil einer großen Bewegung zu sein. Dieses Gefühl ist provoziert worden durch den Schulterschluss verschiedenster Gruppierungen. Wie sehr diese Emotionalität ausgenutzt wird, erkennt man, wenn exakt während einer großen Demonstration für die Freiheit und den Erhalt der Grundrechte, eine gewählte Partei gezielt Störenfriede in den Reichstag einlädt, die im Kontext der stattfindenden Diskussionen die passenden Minister belästigt.

Man darf nicht vergessen, dass sich immer alles um das große Narrativ dreht. Was vier Leuten hier machtvoll gelingt, ist ein Musterbeispiel für die moderne Variante von Propaganda. Was parallel abläuft und mit der gleichen Lautstärke in die gleiche Kerbe schlägt, das muss folgelogisch auch miteinander zusammenhängen.

Die Stoßrichtung bleibt: Die da unten gegen die da oben; oder: Elitenbashing.

Auf einen Schlag wird die rechtsradikale Szene unglaublich groß und durch die Notwendigkeit, über sie zu berichten, wird sie unglaublich laut. Wer zu Hause noch aus der Haustür trat, in der Absicht etwas für die Demokratie zu tun, wird schlagartig instrumentalisiert, ohne dass er es bemerkt.

Wenn dann noch – ob begründet oder nicht – die Polizei mit Wasserwerfern gegen die Demokratieverteidiger vorgeht, manifestiert das nur die Narrative auf beiden Seiten: Die, die unten stehen, jammern von Ungerechtigkeit und sehen sich bestärkt in der Tatsache, dass die Demokratie gerade ausgehebelt wird. Sie fühlen sich an einer Zeitenwende, erinnern sich an die 20er/30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Und die, die oben stehen, müssen machtlos mit ansehen, wie der politische Diskurs zu Grabe getragen wird und die Systemsprenger ihre Macht über die Narrative nutzen.

Worum es nie geht: Die Wahrheit. Denn die Aufdröselung zu den Tatsachen und das zerteilen der Menge in Teilnehmer eines Diskurses, Demokratieverteidiger und Systemsprenger, Wahnvorstellungen und Krawallmacher ist zur Unmöglichkeit geworden.

Warnend muss man sagen, dass sich hier die wahre Bedeutung des alten Sprichwortes: „Sage mir mit wem du gehst, und ich sage dir, wer du bist“ offenbart.

Seien wir ehrlich: Wer die Demonstration anmeldet, muss heutzutage damit rechnen, dass die Veranstaltung von rechten Kräften missbraucht wird. Dieser Missbrauch wird aber dankbar in Kauf genommen, weil er ja die eigene Sache stärkt. Wer in diesen Fällen sich allerdings in seiner eigenen Absicht bestätigt fühlt, der muss eines besseren belehrt werden. In dieser Geschichte siegen immer die Lautstarken, die, die hinter den Kulissen den Reichstag mit ihrem Narrativ stürmen.

Das mag ungerecht erscheinen, aber für jeden, der ansatzweise die Geschehnisse aus der Ferne beobachtet, muss es auch vorhersehbar gewesen sein.

Das ist der Grund, weshalb Kritik und ein politischer Diskurs derzeit nicht mehr über die Demonstrationsrechte geführt werden können. So wichtig das Demonstrationsrecht ist, tragischer Weise ist diese Art der politischen Diskussion korrumpiert worden.

Dadurch ergibt sich ein weiteres Paradoxon der Moderne: Wer das Recht zum Demonstrieren verteidigen möchte, der darf dieser Tage nicht mehr demonstrieren gehen. Und das wiederum ist nicht eine Konsequenz, die von den Oberen auf die Gesellschaft wirkt, das ist von den Unteren heraus erwirkt worden. Die Existenz dieses Paradoxon ist ein weiteres Symptom der Macht derer, die antidemokratisch wirken. Ihnen gehört die Macht des Narrativs. Ihnen gehört die Kommunikationsform „Demonstration“.

In Platons Politeia gibt es einen kurzen, aber bemerkenswerten Absatz:

„In seiner Seele sich über das Wahre zu täuschen und in der Täuschung zu verbleiben, sie nicht zu erkennen und daher in sich den Irrtum zu tragen und zu besitzen, das will doch keiner, jeder hasst es gerade in diesem Fall! (…) Und mit vollem Recht nennt man dies, wie ich eben sagte, eine echte, eine wahre Lüge, eine in der Seele wohnende Unwissenheit dessen, der sich im Irrtum befindet.“

Wer das Paradoxon des aktuellen Politdiskurses nicht verstanden hat, wer darüber hinaus sein gutes Recht in Anspruch nimmt, demonstrieren zu gehen als Signal der Demokratie, dem bewohnt die wahre Lüge die Seele, er würde der Demokratie und der Freiheit nützen.

Demokratisch zerbricht die Demokratie.

Sie wird von ihren eigenen Kindern gefressen.

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