Der freie Wille – Alice hinter den Spiegeln – Ein Essay

Der freie Wille ist eine Illusion.
Eltern haften trotzdem für ihre Kinder.
(nach: Christian Geyer)

 

Ich bin ein Homo cerebralis.

Ich habe keine Seele, ich habe ein Gehirn.

Meine Seele hätte erklären können, wie es mir gelingt, freie, unabhängige, spontane Entscheidungen zu treffen.

Mit meinem Gehirn wird erklärt, wie es zu meinen Entscheidungen kommt.

Jeder Gedanke ist mit einem bestimmten Gehirnzustand gleichzusetzen. In „Wirklichkeit“ denkt niemand. Das Gehirn spielt „ein Spiel der Neuronen“ (ebd.)

Es gibt seit jeher verschiedene unbefriedigende Lösungsansätze. Aber mir gefällt die Romantik, die hinter Douglas Hofstadters „I’m a strange loop“ steht. Letztlich geht es in dieser Theorie um einen Taschenspielertrick, der aus dem Zylinder, dem naturwissenschaftlichen Gesetz: „Ich bin nicht mehr als die Summe meiner Teile“ ein Kaninchen hervorzaubert mit der Aufschrift: „Selbst“.

Wenn wir die Theorie ganz kurz zusammenfassen, dann steht da die Vorstellung, dass ab einem bestimmten Komplexitätsgrad eines Systems es durchaus passieren kann, dass unvorhergesehene Nebeneffekte auftreten. Diese Komplexität entsteht beim Menschen vor allem dadurch, dass er dazu im Stande ist, die Gedanken auf sich selbst zu richten und dadurch aus dem natürlichen Ich ein selbst-bewusstes Ich zaubert. Erst durch die Selbstbetrachtung und das sich Gedanken machen über die eigenen Denkprozesse gelangt der Mensch zu dem, was er fälschlicherweise die letzten Jahrtausende eine Seele genannt hat.

Bei anderen Philosophen, und ich denke da zum Beispiel an Hannah Arendts Studentenfreund Günther Anders oder Nietzsche und viele andere, ist die Rede davon, dass wir Dividuen sind, also keine Individuen. Nein, wir sind geteilte Wesen. Wir haben so etwas ähnliches wie zwei Persönlichkeiten in uns, die miteinander reden, sich miteinander auch übereinander unterhalten. Wir führen doch auch Selbstgespräche. Die sind so etwas wie die Luftbläschen, die an der Wasseroberfläche unseres Denkens platzen. Wir reden mit uns selbst, sagen: „Das war dumm von mir!“ etwa oder: „Hey, endlich hat es geklappt. Gut gemacht, alter Junge!“.

Auf einer psychologisch tieferen Ebene findet eine „seltsame (Bewusstseins-) Schleife“ statt. So als würde man eine Videokamera auf den Fernsehbildschirm richten, der das Bild zeigt, das die Kamera gerade aufnimmt. Ein visuelles Feedback in unserem Innern.

Ich persönlich finde diese Theorie viel spannender und bewegender als Religion. Sie beherbergt genug Sprengstoff ohne an Romantik einzubüßen.

Und sie gibt einigen alten Gedankenspielen sogar neuen Zündstoff. Ein Beispiel?

Martin Bubers Geschichte des Toren, der so dumm war, dass man ihn den Golem nannte: „Jeden Morgen beim Aufstehen fiel es ihm immer so schwer, seine Kleider zusammenzusuchen, dass er am Abend, dran denkend, oft Scheu trug, schlafen zu gehen. Eines Abends fasste er sich schließlich ein Herz, nahm Zettel und Stift zur Hand und verzeichnete beim Auskleiden, wo er jedes Stück hinlegte. Am Morgen zog er wohlgemut den Zettel hervor und las: ‚Die Mütze’ – hier war sie, er setzte sie auf, ‚die Hosen’, da lagen sie, er fuhr hinein, und so fort, bis er alles anhatte.

‚Ja aber, wo bin ich denn?’, fragte er sich nun ganz bang, ‚wo bin ich geblieben?’ Umsonst suchte und suchte er, er konnte sich nicht finden.“

Natürlich ist dieser Golem nur halb so dumm. Er leidet unter der Erkenntnis, dass er nicht unabhängig von den Symbolobjekten der äußeren Einflussnahme existiert. Er versucht eine Selbsterkenntnis völlig losgelöst von den ihn umgebenden Objekten zu bewerkstelligen. Dabei ergeht es ihm wie dem Betrachter des Gemäldes „Les Valeurs Personelles“ von René Magritte. Alle persönlichen, prägenden Objekte sind da, aber so wichtig sie einem auch sind, sie sind doch nur die Konturen des Selbst und nicht das Selbst selbst.

„Jeder Mensch, dem du begegnest, ist ein anderer Spiegel. Und da du selbst ein Mensch wie sie bist, bist du vielleicht auch nur ein Spiegel, und du wirst nie wissen, ob die Art, in der du dich selbst siehst, nicht nur eine Verzerrung ist. Vielleicht ist alles, was du je siehst, nichts als Spiegelung. Vielleicht sind Spiegel alles, was du je zu sehen bekommst. Zuerst die Spiegel deiner Eltern, dann die deiner Freund und Lehrer, dann die deiner Chefs und dann die der Amtsträger, der Priester und Geistlichen, vielleicht auch der Schriftsteller und Maler, denen du begegnest. Es ist ihr Beruf, Spiegel hochzuhalten.“ (Robert M. Pirsig: Lila …)

Das ist die „stranger than strange“, was unsere Schleife in uns wahrnimmt. Nicht nur sind wir auf uns selbst rekurrierend, sondern mit dem Bildschirm, auf den die Kamera gerichtet ist, sind weitere Kameras verbunden, allerdings solche, die nach außen filmen und Inputs über einen Selbst sammeln. Wir sehen in Spiegel, die nun auf dem Bildschirm erscheinen und von der Selbst-Kamera sogleich wieder in das Feedback geschickt werden. Unter dieser Komplexität entstehen „Seelen“.

Und unter diesem Rückkopplungseffekt entsteht ein Ding, völlig unabhängig von der ihr zugrunde liegenden Physik. Es entsteht eine Illusion eines Selbsts als ein Mehr als die Summe seiner Teile, ohne dass es de facto vorliegt.

Mir hat dieses Bild von Hofstadter imponiert.

Bei Ernst Block heißt es: „Keinen Blick auf sich werfen, das ist etwas. Aber für den kleinen angestellten Mann heißt es gewöhnlich nur, zu Ende zu sein.“

Keinen Blick auf sich selbst werfen, das kann befreien, weil die Komplexität, die im Innern tobt wie der Wirbelsturm über Kansas, belastend anstrengend sein kann.

Wer aber im gesellschaftlichen darauf verzichtet, bei denen spricht man in der Regel von „sich gehen lassen“. Das sind fallende Kreaturen. Unser Selbst führt dazu, dass sie ein Grundbaustein unserer Gesellschaft darstellt. Wem die Selbstreflexion fehlt, der verkümmert, der de-naturiert oder besser: re-naturiert.

Psychopathen sagt man oft nach, ihnen fehle Empathievermögen. Sie können sich weniger in andere Leute hineinversetzen. Sie sind „nicht so bewusst wie normale Erwachsene, sie haben also kleinere Seelen.“ Mir gefiel dieser Ausdruck nicht, ich schrieb damals in Hofstadters Buch an den Rand: Nicht kleiner, geringer ausgebildet.

Aber ein Absatz weiter habe ich nichts notiert. Das habe ich so stehen lassen:

„Obwohl ich normalerweise kein großes Gewicht auf die Etymologie von Worten lege, hat es mich gefreut, als ich vor einigen Jahren bei der Vorbereitung eines Vortrags zu diesem Thema auf die Tatsache stieß, dass das Wort ‚Großherzigkeit’, ‚magnanimity’, das für uns normalerweise ein Synonym für ‚Edelmut’, ‚generosity’ ist, ursprünglich im Lateinischen bedeutete: ‚eine große Seele haben’. (…) Eine weitere ansprechende Etymologie ist die des Wortes ‚compassion’, die aus einer lateinischen Wurzel mit der Bedeutung ‚das Leid des anderen teilen’ stammt.“

Das klingt so, als ob die höchste Komplexität an Spiegel-Betrachtungen uns nicht nur zu komplexeren, sondern in mehrerer Hinsicht auch zu besseren Menschen macht.

Zeit, unser Gehirn in den Spiegel schauen zu lassen.

Und da gibt es tatsächlich ein Experiment, wofür ich mich sofort freiwillig melden würde: Man schließe mein Gehirn an einen Scanner an und zeige mir live das Ergebnis. Ich will sehen, wie meine Neuronen feuern, wenn ich den linken Arm hebe, wenn ich an meine Kinder denke, wenn ich an einen Unfall denke, wenn ich Schmerzen empfinde, wenn die Schmerzen aufhören, wenn ich liebe.

Momentan wird dieses Projekt tatsächlich angewandt bei jungen Epilepsie-Patienten. Immer wenn der Anfall kommt, lässt sich vorher ein bestimmtes Gehirnsignal messen. Ein Computerprogramm rechnet dieses Signal um in ein willkürliches Bild, sagen wir einen roten Ball, der, je stärker der anschwellende Nervenreiz im Gehirn ist, umso höher steigt. Die Patienten, oft Kinder, werden gebeten, sich auf den steigenden Ball zu konzentrieren. Sie trainieren anschließend, diesen Ball, den sie da sehen, mit Gedankenkraft nach unten zu drücken. Sie trainieren also über ein visuelles Metaphernbild ihres eigenen Gehirnreizes, eben denselben zu kontrollieren! Sie lernen ihre eigene Epilepsie zu kontrollieren!

Ich habe keine Epilepsie.

Aber ich würde wissen wollen, was passiert, wenn ich meine Gedanken auf die visuelle Lifeshow meines eigenes Gehirns konzentriere.

Was, wenn im Spiegelkabinett meines Selbst, ich einen echten Spiegel aufstelle?

9 thoughts on “Der freie Wille – Alice hinter den Spiegeln – Ein Essay

    • Nein, leider nicht. Ich hab davon vor einem Jahr gelesen. Leider zu einer sehr stressigen Zeit und daher weiß ich nicht mal mehr wo. 😔 ich weiß noch, dass die Rede davon war, dass das viel mit Kindern gemacht wird, und man sich davon versprach, den Kindern früh eine Kontrolle über den Auslöser beizubringen.
      Ich meine, es war eine englischsprachige Fachzeitschrift. Sorry

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