Die Einschulung

Es war schon merkwürdig, wie sich die Gesprächsthemen bei Tisch verändert hatten. Da war mal eine Zeit, in der man einfach schweigend an einem Grill gestanden hatte, Schulter an Schulter, in die Glut geblickt hat und alles war gut. Man nannte so was: „Den Gott einen lieben Mann sein lassen“. Und während die Tischgespräche dann langsam gewechselt waren zu bedenklichen, politischen Zuständen, man sich über Präsidenten genauso intensiv unterhielt wie über die Schreibfähigkeiten deutscher Abiturienten, gelangte man inzwischen nur noch zu dem einen leidigen Thema: „Die Menschen werden insgesamt immer egoistischer“ abgewechselt von „Boah, diese Hitze, diese Klimaerwärmung.“

Meine Tochter hat dafür den Satz gefunden: „Es gibt auf der ganzen Welt nix, was mich abkühlt: Ich schwitze mich zu Tooooode.“ Mit wirklich lang gezogenem O.

Zum Glück hat die Schule begonnen. Und für sie ist das ein enormes Glück. Denn sie ist uns bei der Hitze ins Haus gefesselt gewesen und beinahe schon wortwörtlich die Wände hoch gelaufen. Es ist ihr aller erstes Schuljahr. Sie war und ist so aufgeregt, dass ihr Gesicht gar nicht mehr aufhört zu glühen. Sie strahlt ihren Ranzen an, will „Aufgaben“ machen aus ihren Rätselbüchern, sie will endlich „groß sein dürfen“. Und vor allem: Sie will endlich, dass das Warten aufhört. Denn Warten ist etwas dem Menschen höchst Widerwärtiges.

Der Einschultag bei uns war merkwürdig organisiert. Es hatte vor den Ferien einen Abschlussgottesdienst für alle Kindergärten der Stadt gegeben und jetzt sollte es einen Einschulungsgottesdienst für alle Erstklässler geben. Wir waren eine halbe Stunde zu früh und nicht nur unsere Tochter war irre aufgeregt und aufgekratzt. Wir scharrten auch schon mit den Füßen. Aber als erstes in die Kirche geht man nicht. Und so warteten wir ein paar Minuten bis man drei, vier andere Eltern getroffen hat, die man kennt und dann gingen wir gemeinsam hinein. Die ersten Bankreihen der recht gemütlich, kleinen Kirche waren besetzt, wir fanden hinter der ersten trennenden Säulenreihe zwei freie Reihen und saßen dann da: die Kinder vorne, daneben befreundete Eltern. Wir dahinter: meine Frau, die stolze Oma, ich.

Ich habe seitdem lange darüber nachgedacht, ob und wie ich diese Messe beschreiben darf. Denn ich bin eigentlich katholisch erzogen worden, mitunter aber von Religiösität nie ergriffen worden. Und mein Verhältnis zum Glauben ist mindestens ein „Auf der Suche sein“. Jemand, der von sich behauptet, er sei gläubig, behauptet meiner Ansicht nach dagegen eher „angekommen“ zu sein. Und so ist der Glauben das Gegenteil meiner eigenen Einstellung. Aber das erschwert mir nicht, Kirchen zu besuchen, Predigten zuzuhören, mitzusingen (oft aber nur so zu tun als ob, weil ich nur ein leidiger Singer bin), kurz: mich an die Regeln zu halten. Ich mache das nicht, weil ich an diesen Regeln etwas habe, sondern eben nur weil andere etwas daran haben. Es versteht sich für mich von selbst, Respekt anderen Gemeinschaften entgegenzubringen. Wenn ich eine Moschee besuche, ziehe ich meine Schuhe aus und lasse sie am Eingang, wenn ich eine Synagoge betrete, ziehe ich eine Kippa auf, beim Eintritt in die Kirche ziehe ich meinen Hut.

Und es war erschreckend, was um uns vorging. Die Kirche wurde immer Voller. Eltern, Großeltern, Paten, Tanten, Nichten, Cousinen und selbstredend die Kinder strömten wie ein zäher Pulk in die kleine Halle. Dreimal begann die Frau, die die Messe hielt, ihre Ansprache in ein viel zu leise eingestelltes Mikrofon. Dreimal bat sie dabei um Ruhe. Dreimal wurde sie ignoriert. Die Messe begann dennoch und immer wieder stellten sich Eltern mit ihren Kindern in den Mittelgang, womit sie nicht nur den hinter ihnen sitzenden Kindern die Sicht verdeckten, sondern auch den sitzenden Erwachsenen. Nun gut, es war eng. Man kann nicht viel erwarten. Man hätte, dachten wir uns, die ersten Bankreihen für die Kinder reservieren können. Wir nannten das im Nachhinein einen traurigen aber hinnehmbaren Planungsfehler.

Aber dieses Momentum wurde getrübt durch weitere immer stärker zunehmende Details: Die Lieder waren auf die Kinder abgestimmt, liebevoll mit Bewegungen wurde alles untermalt. Und die Erwachsenen blieben so teilnahmslos, dass viele Kinder schüchtern die Arme wieder einzogen und am Ende nur eine Handvoll die Referentin unterstützte, die immer deutlicher unter ihrem weißen Überwurf schwitzte.

Von ihrer Stimme war kaum etwas zu hören. Das lag inzwischen nicht mehr nur am Mikrofon, denn sie hatte begonnen, die schwache Stimme zu erheben.

Wer ganz hinten einen Stehplatz hatte, begann sich zu unterhalten. Wir saßen geschätzt sieben Reihen vor der ersten Stehplatzreihe und wissen nun doch alles über alle möglichen Familientragödien wildfremder Menschen, über Fernsehprogramme über nicht funktionierende Autos, verpatzte Vorstellungsgespräche und Kleidergeschäfte, die gerade günstig am Verkaufen waren. Weil, es ist wahrhaftig eine Schande, die kleinen Läden in den Städten dicht machen, weil alle nur noch im Internet bestellen.

Wir erfuhren so viel, wie wir nur wollten, weil sich niemand für die Messe oder die Kinder interessierte, die sich tatsächlich und sei es nur aus kindlicher Neugier heraus, für die Messe interessierten, die ihren wichtigen Tag einläuten sollte.

Es war ärgerlich bis zu dem Augenblick, da ich die Referentin die Fürbitten und das Vater-Unser durch die Geräusche hindurch aufsagen hörte. Von da ab war mein Ärger verflogen und ich war nur noch traurig. Ich beschloss, mich auf mein Kind zu konzentrieren. Wir verließen die Messe, an der Tür verabschiedeten und bedankten wir uns im Geschobenwerden bei der Referentin und am liebsten hätte ich die Zeit gehabt, mich zu entschuldigen für etwas, was andere getan hatten.

Wir zogen zur Schule und in die erste Klasse hinein, wir zogen nach Hause und setzten uns gemütlich in dieser Hitze in unserem gut gekühlten Esszimmer an den Tisch, um mit einer Tasse Kaffee und ganz viel Wassermelone unser Schulkind zu feiern.

Wir unterhielten uns darüber, dass heutzutage jeder nur noch an sich denkt und dass ein ganz merkwürdiger Egoismus über das Land hinwegzurollen scheint wie eine Planierraupe.

Als es Abend wurde und alle Gäste gegangen waren, wollte meine Tochter in ihrem neuen Zimmer schlafen. Das ist ein Stockwerk höher. Und wir waren stolz darauf, wie mutig und selbstbewusst sie das Großwerden doch machte.

Es war drei Uhr Nachts, als sie mich weckte, ob ich ihr nicht oben im Zimmer ihr Nachtlicht einschalten könnte. Schlaftrunken tat ich es, deckte sie wieder zu und ging zurück ins Bett, wo mir einfiel, dass sie es doch auch selbst hätte tun können und dass es absurd war, dass sie durch die angsteinflößende Dunkelheit zu mir gekommen war.

Am nächsten Morgen, als ich sie für den zweiten Schultag weckte, fiel sie mir um den Hals uns meinte: „Es tut mir so leid. Mir fällt gerade auf, ich hätte dich nicht wecken müssen. Ich hätte es selbst einschalten können. Der Schalter ist doch direkt am Bett.“

„Nicht schlimm, mein Schatz.“, sagte ich und gab ihr einen Kuss.

Sie meinte: „Nicht schlimm, aber es tut mir trotzdem Leid.“

Die Zukunft, dachte ich, könnte empathischer werden als wir.

Weniger egoistisch.

Weniger misstrauisch.

Weniger respektlos.

Aber wenn ich mich umschaue, habe ich Angst, dass die Planierraupe über die Empathie drüberrauschen könnte und den Respekt vor dem Anderen plattwalzt zu dem beklemmenden Gefühl, man könnte zu kurz kommen, wenn man nicht selbst zur Walze wird.

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