Meine Großmutter nannte es „den Sinn für eine Sache verlieren“. Sie sagte, dass es so eben mit der Zeit sei. In der Zeit verlieren sich die Dinge. Erinnerungen würden verloren gehen und eine Vorstellung davon, was einmal wichtig gewesen ist, würde sich auflösen. Das, so sagte sie, sei ganz normal. Was aber nicht normal sei, dass die Menschen inzwischen den Sinn verlieren würden. Früher hätten die Menschen wenigstens gespürt, wenn sie vor etwas Bedeutungsvollem stehen. Heute könnte man sie mit dem Gesicht in die Scheiße reintunken und sie würden den Dreck noch nicht mal riechen. Kaum auszudenken, wie das ganze in Zukunft sein wird.
Meine Mutter schimpfte meine Großmutter dann natürlich aus.
„Wie kann eine so gebildete alte Dame, nur so furchtbare Wörter in den Mund nehmen?“, fragte sie dann tadelnd. Sie sah meine Großmutter dann an, wie sie mich ansah, wenn ich gerade mal wieder Mist gebaut hatte.
Und meine Großmutter antwortete dann mir statt ihr: „Merk dir für den Rest deines Lebens: Manche Dinge sind so schlimm, dass man ihnen auch schlimme Wörter geben muss. Was soll es groß nützen, wenn du bis zum Scheitel in der Scheiße steckst, dann aber nur von Puhpuh sprichst? Schöne Wörter helfen dir nur, dich ordentlich selbst zu belügen.“ Und dann sah sie meine Mutter wieder an: „Und das ist genau das, worauf ich rauswollte. Ihr habt den Sinn für die Wahrheit verloren. Mit all euren schönen Worten.“, brummelnd ließ sie meine Mutter und mich dann stehen.
Sie war eine großartige Frau. Und sie wurde älter, als wir alle gedacht hatten. Aber irgendwann starb sie dann doch und mein Vater erbte das kleine gemütliche Haus in der Dorfmitte von Kehl. Dieses Dorf direkt an der Kreuzung, wo es links in den Wald hineingeht und rechts den Berg hoch in Richtung alte Kapellenwiese. Das Grundstück lief zur Kreuzung spitz zu. Und vorm Haus war eine alte Bank, auf der noch ältere Frauen immer saßen und quatschten. Ein Brunnen mit metalligem Quellwasser und dem Baum. Eine wahnsinnig breit gewachsene Linde. Es gab vier Stützbalken, die dafür sorgten, dass dieses schrundige Holz nicht zusammenstürzte. Der Stamm hatte sich in Richtung Bank hin geneigt und sich fast ein Drittel eines alten Grenzsteins einverleibt.
Mein Vater nannte das Ungetüm „Lichtschlucker“. Und als wir durch das Haus gingen, uns Zimmer für Zimmer genauer ansahen, erklärte er uns allen, dass das Haus nur roch, weil der Baum draußen hier drin alles modrig machte.
„Das ist die Dunkelheit, in der Pilze wachsen.“ Und er sagte: „In hellen Räumen ist noch keiner depressiv geworden.“
Wir gingen durch und er kommentierte alles, während mir die Räume nur unglaublich viele Erinnerungen an meine Kindheit schenkten. Ich hätte am liebsten geweint als wir durch die Küche gingen und ich mich erinnerte, dass meine Großmutter mir hier versucht hatte beizubringen, wie man Marmelade einkocht. Der Geruch im Schlafzimmer verband mich sofort mit dem Gefühl, dass sie jeden Augenblick reinkommen würde und so weiter. Aber mein Vater öffnete sofort das Schlafzimmerfenster mit einer gerümpften Nase und fragte, was ich denken würde: ob dieser Geruch jemals wieder raus ginge?
Ich wollte überhaupt nicht ungerecht sein und deswegen sagte ich bei dem Rundgang fast gar nichts. Am Ende fragte er mich, ob ich hier einziehen wollte. Und ich lehnte ab.
„Zu finster, was?“, fragte er und legte seinen Arm um meine Schultern, um mich fest an sich ranzuziehen.
Er wollte natürlich auch nicht rein. Aber ich weigerte mich, dass das Haus verkauft würde und warum auch immer hatte mein Wort ein wenig Gewicht. Wir vermieteten das Haus, obwohl mein Vater den Ärger scheute, den Miete angeblich immer einbrachte.
Ich wäre sofort eingezogen, wenn mich das Leben nicht fort aus dem Saarland getrieben hätte. So einfach kann man sich heutzutage nicht entscheiden, wo man leben will. Nicht wahr? Wir hängen an unseren Berufen und leben dort, wo die Arbeit uns braucht. Ein Stück von meiner Heimat und von meiner Kindheit wurde hergegeben an eine Familie Sinter, fremde Menschen mit fremden Geschichten. Sie zogen ein unter der Bedingung einiges renovieren zu dürfen und dafür finanzielle Unterstützung zu bekommen.
Mein Vater kam überraschend gut mit Herrn Sinter aus. Sie hatten ähnliche Vorstellungen. Und die beiden arbeiteten gemeinsam daran, das alte Haus wohnlich zu machen. Ich hatte da natürlich nichts mitzureden. Man nahm den alten Dielenboden raus und öffnete ein paar Wände, um die Rohre und Leitungen zu überprüfen. Die Fenster wurden neu gemacht und die Wand zwischen Wohnzimmer und Esszimmer fast komplett weggeschlagen.
Als ich die Baustelle einmal besuchte, erkannte ich das Haus fast gar nicht wieder. Sie veränderten den Charakter des ganzen Hauses und auch wenn es mir der Seele wehtat, waren alle Entscheidungen natürlich irgendwie klar und auch gut. Es gab ja wirklich keine Argumente gegen bessere Fenster und größere Räume. Die Modernisierung zerstörte die Vergangenheit zu Gunsten der Aktualität. Das war schon ok. Ich nahm trotzdem die Holzdielen mit zu mir und tauschte meinen neueren Laminatboden gegen den alten Dielenboden aus. Ich ließ sogar eine zweiteilige Flügeltür mit vielen Einfachverglasungen bei mir einbauen und war fasziniert davon, wie gut diese alten Elemente sich in dem modernen Haus, das ich bewohnte, einfügten. Mein Vater hatte für so was tatsächlich „keinen Sinn“. Er verstand nicht, dass ich mich mit so was Altem umgeben wollte und redete davon, dass ich mir Holzwürmer als Untermieter nehmen würde. Er fragte, ob ich mich damit nicht lächerlich machen würde, wenn Besuch käme.
Das war also ein merkwürdiger Prozess. Das alte Dorfhaus meiner Großmutter wurde moderner und mein modernes Stadthaus in Teilen älter.
Als in Kehl das Haus fertig war, bezog die Familie Sinter glücklich ihr neues zu Hause und lud meinen Vater und mich zur Einweihungsfeier ein. Alle wirkten glücklich und zufrieden und stolz auf die getane Arbeit und das angenehme Leben, das hier geführt werden sollte.
Herr Sinter war ein ruhiger Mann. Einer von der tatkräftigen Sorte. Breite Schultern und ein starker Nacken. Einer, auf den man sich verlassen konnte. Die Augen verrieten eine andere Seite. Darin lag sehr viel Sanftheit und Gemütlichkeit. Er hatte ein sanftmütiges Lächeln, so als wäre er nicht der allerklügste. Aber so wie er sprach, so langsam und jedes Wort erst abwägend, ehe es ihm über die Lippen trat, verriet er, dass er auch nicht der dümmste sein konnte.
Er war jetzt also mit seiner Frau, Eleonore, hier. Sie war viel kleiner und im Vergleich zu ihm fast schon zerbrechlich. Sie war blass, hustete viel und jedes Mal, wenn sie das tat und sich abwandte, sah ich wie ihr Mann besorgt zu ihr rüberblickte, fast unauffällig seine Hand auf die ihre legte oder ihr sehr zart über den Rücken strich. Jedenfalls solche Kleinigkeiten ihr gegenüber sprechen ließ, dass kein Zweifel an seiner Liebe für sie aufkommen konnte.
Wenn ich auch nicht glücklich darüber war, dass sich so viel im Haus meiner Großmutter verändert hatte, so war ich doch glücklich genug, dass es ausgerechnet jemand wie die Sinters hierher verschlagen hatte. Das fühlte sich gut an.
„Wir haben gehört, dass es Ihnen sehr viel ausgemacht hat, dass wir hier so viel getan haben.“, meinte Herr Sinter im Laufe des Abends zu mir. „Das verstehen wir sehr gut. Es war das Haus Ihrer Großmutter.“
„Ich habe hier sehr viel Zeit meiner Kindheit verbracht.“, bestätigte ich. „Hier steckt sehr viel Erinnerung in den Wänden. Und jetzt, wo das Haus nicht mal mehr so riecht wie früher … Das klingt albern, nicht wahr?“
„Ganz und gar nicht.“, versuchte er recht schnell, mich zu beruhigen. „Ich kann das sehr gut verstehen. Das geht, glaube ich, jedem so. Bei mir ist es kein Geruch, bei mir ist es ein Geräusch. Wenn ich das höre, dann muss ich sofort an meine Kindheit denken – und an meine Mutter.“
Wir verstanden uns und traten in ein einvernehmliches Schweigen. Wir beobachteten, wie mein Vater auf eine Leiter stieg, um sich um eine flackernde Lampe zu kümmern. Er schraubte sie von der Decke, löste die Verkabelung und drahtete sie wieder neu an.
„Hier“, sagte seine Frau auf einmal dicht bei uns. „Das hier wolltest du ihm noch geben.“
Dieses ‚Das hier’, was sie ihm reichte und von seiner Hand direkt in meine wechselte, war ein schwarzer Briefumschlag mit goldener Innenseite. Darin war eine von diesen aufwändigen Postkarten, die man zu einem dreidimensionalen, wackligen Bild bauen konnte. Hier war es eine schwarze Schwalbe aus Papier, die über einer wackligen Stadt kreiste.
„Danke, Leo.“, sagte Sinter zu seiner Frau und er zeigte mir, dass ich auf der Rückseite etwas aufklappen konnte, und dass dahinter etwas stand.
„Das ist unsere Nummer. Sie sind uns hier jederzeit willkommen, falls die Sehnsucht Sie packt.“
„Oder die Geister der Erinnerung nach mir rufen.“, das sagte ich, weil es die Formulierung auf dem Brief war.