Aurelius Augustinus: „Wenn mich jemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht. Aber zuversichtlich behaupte ich zu wissen, dass es vergangene Zeit nicht gäbe, wenn nichts verginge, und nicht künftige Zeit, wenn nichts herankäme, und nicht gegenwärtige Zeit, wenn nichts seiend wäre.“
Wahrhaftig ist Zeit relativ. Und zwar absurderweise zu der Bewegung. Stellt man sich vor, die ganze Welt existiere nur einmal in einem Koordinatenfeld, dann erleichtert das unsere Annäherung an die Zeit. Wir tragen in dieses Koordinatenfeld einen Punkt ein. Jetzt sehen wir die Gegenwart. Wir haben einen Raum geschaffen, ein Feld, worin wir die Gegenwart gefangen halten. Komplexer in der Wirkung, aber im Prinzip identisch verhält es sich mit einem Bild bei einer Diashow. Die Leinwand ist unser Koordinatenfeld. Das Bild eine ganz konkrete Aneinandersetzung von Punkten. Und wenn nichts vergeht, kein Punkt in diesem Bild sich bewegt, dann existiert von der Zeit auf diesem Bild allenthalben die Gegenwart.
Das Sein kreiert allein noch keine Zeit.
In unserem ersten Koordinatenfeld, unsere „Welt“, wo nur ein einziger Punkt existiert, stellen wir uns als nächstes Bewegung vor: besagter Punkt wandert von seinem Ausgangspunkt um einen Schritt nach rechts. Die Bewegung des Punktes schafft die Zeit in der Welt. Es beginnt eine Vergangenheit zu existieren und als er sich auf den Weg zu seinem Endziel machte, so existierte auch eine Zukunft.
Streng genommen existierte die Zukunft bereits ehe die Bewegung begann, aber erst die Existenz der Bewegung selbst, die simple Tatsache, dass er sich in Bewegung setzen kann, kreierte die Möglichkeit der Zukunft.
Auf der Dia-Welt in unserer Präsentation existiert weder Vergangenheit noch Zukunft. Beide existieren nur, weil die Dia-Welt genauso wie unsere Punkt-Welt, eingebettet ist, besser gesagt: Bestandteil einer Welt ist, in der Gegenwart und Zukunft existieren. Aber gäbe es tatsächlich nur dieses Koordinatenfeld mit nur diesem statischen Dia, dann gäbe es außer der Gegenwart keine Zeit.
Zeit hängt maßgeblich von Bewegung ab. Von der Relation eines existenten Gegenstands zu der Existenz eines Raumes. Ohne Raum kein Sein, ohne Sein keine Gegenwart. Ohne Raum keine Bewegung und ohne diese wiederum keine Zeit.
Gegenwart erscheint in dieser Überlegung also losgelöst von der Zeit zu sein. Gegenwart ist nur von der Existenz abhängig. Und von daher erklärt sich der Begriff „Zustand“. Zustände sind immer gegenwärtig. Kommt ihnen das Prinzip der Bewegung zu, so lässt sich nur noch schwer von einem Zustand reden. Eher von einem Prozess oder von Ereignissen, von Zufällen von Abläufen.
„Diese beiden Zeiten, Vergangenheit und Zukunft, wie sollten sie seiend sein, da das Vergangene doch nicht mehr ‚ist’, das Zukünftige noch nicht ‚ist’?“, fragte Aurelius Augustinus. Die Antwort lässt sich ihm nun geben: Das Vergangene beschreibt einen Seins-Augenblick, einen Zustand, der unserem Punkt einen konkreten Ort zuweisen lässt, ehe die Bewegung die Zeit anstieß. Oder auch ehe der Punkt seine Bewegung vollendete.
Die im Mittelalter gebräuchlichen chinesischen Uhren sind sehr spannend. Sie basieren ausschließlich auf dem Prinzip der Bewegung und der Veränderung: abbrennende Kerzen mit Zeit-Markierungen. Die chinesische Wasseruhr, in welche alle 24 Sekunden sich ein Behälter mit Wasser füllte und durch sein Gewicht ein großes Rad genau um eine Speiche weiter nach unten drehte, wodurch der nächste Wasserbehälter gefüllt werden konnte. Das Rad besitzt 36 Speichen und vollführt in 24 Stunden 100 Umdrehungen.
Durch die Beobachtung der Bewegungsabläufe. Durch das Studium von Bewegungsverhältnissen, welche man durch technische Hilfsmittel in gleich große Bewegungsabstände einteilen kann, war es dem Menschen möglich, Bewegungen zu nutzen, um Zeiteinheiten zu definieren und zu messen.
Die entscheidende Sache ist nun aber, dass wir in einer sich ständig bewegenden, sich verändernden Welt umgeben sind. Zeit ist. Wir sind von ihrem Prinzip umschlossen. Folglich sind auch wir sich bewegende, verändernde Einheiten.
Die Veränderungen und die Bewegungen, und das unterscheidet uns von dem besagten Punkt, können wir selbst steuern. Zur Bewegung verdammt, können wir entscheiden, wohin und wie wir uns bewegen und was wir mit unserer Zeit anstellen.
Tatsächlich können wir uns auch entscheiden, wie wir uns der Zeit gegenüber empfinden. Wir können sie verfluchen, verdammen, genießen. Aber wir können sie nicht anhalten.
„Wenn des Himmels Lichter stille ständen“, fragte Aurelius Augustinus an späterer Stelle, „und eine Töpferscheibe sich drehte, gäbe es wirklich keine Zeit?“