Marie Mallarmé – Kapitel 1 (1)

“Certain kinds of information are like smoke: they work their way into people’s eyes and minds whether sought out or not, and with no regard to personal preference.” (Haruki Murakami)

Es war ein einfaches, ruhiges Gesicht. Ein rundliches, nahezu glanzloses Augenpärchen hinter flachen Brillengläsern, die schwarz umrahmt waren. Der Mund war dünn und ganz fein gezeichnet, wie mit einem blassen, roten Fineliner auf milchigem Papier. Die Lippen bewegten sich kaum, wenn er sprach. Und er sagte: „Es ist super einfach.“ Aber wenn er es sagte, dann klang das natürlich viel weicher und samtener, denn er sprach französisch. Und das ist bekanntermaßen eine sehr wohlige Sprache. Leider auch eine sehr schnelle, und schon fuhr er fort: Es genügt, vor ihren Büros auf sie zu warten.“

Leicht beugte er sich vor und dann kam für einen kurzen Augenblick dieses Funkeln in seine Augen, an das sich Marie Mallarmé noch lange würde erinnern können.

Lasst sie nicht zur Ruhe kommen. Ihr sollt wissen: Ob ihr ein Polizist seid oder ein Journalist, ihr werdet nie wieder zur Ruhe kommen! Jemand wird vor euren Häusern auf euch warten!“ Das Bild zitterte, weil die Hand, die das Handy hielt, mit dem der Film aufgezeichnet wurde, unruhig wurde. Und dann brach das Bild fort.

Der Bildschirm wurde ganz einfach schwarz.

So schnell kann man ein Video ausschalten und in die Realität zurückkehren.

So schnell kann man die Realität nicht wechseln, selbst wenn man in einen Traum einkehren möchte.

Die Welt um Marie Mallarmé erzitterte, so als wehe ein eiskalter Wind zwischen den Molekülen hindurch, aus denen sich alles auf dieser Welt zusammensetzte. Die Atome, jedes einzelne Atom meine ich damit, erzitterte, sodass die Atomkerne gegen die Atomschalen geschüttelt wurden. Und deshalb, so dachte Marie Mallarmé mit nach links geneigtem, unschuldigen Köpfchen, deshalb wird jetzt alles so unerträglich laut. Man kann ja noch nicht einmal seine eigenen Gedanken verstehen.

Die Welt wurde in ihrem Innersten geschüttelt und irgendwie wurde alles durcheinander gebracht.

Atome wechselten ihre Plätze, Moleküle setzten sich nicht mehr richtig aneinander. In dem großen, schwarzen Nebel, der durch die Haustür ins Innere drang und alles umschloss, inklusive Marie Mallarmé, wurde erst alles eins und dann – huschhusch – legte sich alles inmitten von Sturm und Chaos wieder aneinander, bis alles wieder so aussah wie zuvor. Aber nur, so dachte Marie Mallarmé sofort, nur weil wir die Fehler auf molekularer Ebene nicht sehen können. Unsere Augen und unsere Köpfe sind zu groß um zu sehen, was sich alles da unten im Kleinen verändert hatte. Nur wenn man genau aufpasste, konnte man es spüren. Man musste nur über den toten Papa Mallarmé hinwegschauen und über den toten Fremden vor Papa Mallarmés Füßen und man musste dorthin hören, wo die Welt hinter einem lag, also man nicht hinsehen konnte. Wenn man das tat und dabei die ganze Haut des Körpers anspannte, dann konnte man spüren, dass sich in der Welt nach diesem schrecklichen, schwarzen Nebel alles verändert hatte und die Moleküle auf neue Plätze gerutscht und nichts mehr so wie zuvor war.

Und als Marie Mallarmé das tat und erkannte, bekam sie die größte Angst ihres Lebens und sie schrie, obwohl sie nichts mehr hören konnte, weil alles vorhin so laut gewesen war, dass ihre Ohren jetzt einfach aufgehört hatten zu funktionieren. Und sie schrie und schrie und schrie und dann kam jemand, nahm sie in den Arm und trug sie fort von hier. Weit fort.

*

So war das damals, als die Bombe ihr den Vater genommen hatte. Eine Bombe, die ganz unschuldig ausgesehen hatte und wie ein merkwürdiges Kleidungsstück um den Bauch des Fremden an der Haustür gewickelt war.

Marie Mallarmé, damals zwölf Jahre alt, erwachte also nicht nur in einer Welt, in der ihr Papa Mallarmé gestorben war. Sie erwachte in einer Welt, in der alles nicht mehr an seinem rechten Platz war und sie das nicht ändern konnte.

Sie sagte immer, in der alten, in der wirklichen Welt, da wären Claudine und Bernard, die sie ein Jahr später im Waisenhaus kennengelernt hatte, ganz anders gewesen. Claudine hätte nicht so laut gelacht, wie sie es jetzt zu tun pflegte, sondern wäre viel stiller und sanftmütiger gewesen. Und Bernard hätte nicht diese viel zu große Mütze getragen, die am Saum schwarz und aufgefasert war.

Ganz, ganz anders wäre aber Thomeo gewesen, der Großartige. Thomeo, der Junge, der im Waisenhaus den Takt angab. Thomeo, der eine halbe Welt unter seinen Fingernägeln begraben hatte und der am Ende der meisten Worte so widerlich mit der Zunge schmatzte, dass ihm immer die Speichelbläschen im Mundwinkel hafteten.

Thomeo, in den sich Marie Mallarmé verliebt hatte, weil er der einzige war, der wie sie, die Veränderungen wahrnehmen konnte, der einzige, der ihr glaubte und nicht von einem Trauma sprach. Der ihr das Leben rettete, als alles noch schlimmer wurde.

*

Am verregnetsten Tag im Jahr, an dem es einfach nicht hell werden wollte, weil der Himmel sich ganz tief über die Welt gesenkt hatte, betrat Marie Mallarmé zum ersten Mal die Eingangshalle des Waisenhauses Heiliger Geist.

Sie mochte alte Häuser gern, die steinernen Fassaden, die von der Zeit dunkel und ehrwürdig geworden waren, die mit steinernen Bildern umspielten Fenster – oft Blätter, Trauben oder Fratzen – und der Geruch, der zwischen den Fugen steckte.

Sie war aufgeregt, weil sie noch nie in einem solchen, schlossähnlichen Gebäude gewohnt hatte. Aber je näher der alte Hausmeister Charlesdos sie zum Eingang führte, umso lauter schien es ihr, knirschte der Kies unter ihren gemeinsamen Schritten. Sie sah zu ihm hoch, zu dem alten Mann, der so groß wie ein halber Riese war und rosige Lippen hinter einem dichten, aschgrauen Bart versteckte. Er lächelte sanftmütig und meinte: „Keine Angst. Es ist drinnen nicht so dunkel, wie man vielleicht meinen könnte.“

Sie wusste nicht, weshalb er das sagte, weil ihr Dunkelheit nie Angst gemacht hatte. Aber sie lächelte zurück, weil sie spürte, dass er es gut mit ihr meinte und sich Mühe mit ihr gab. Aber ihr war nicht nach Lächeln zumute. Sie spürte das Etwas, dem sie sich näherte.

*

Claudine und Bernard waren so etwas ähnliches wie Geschwister. Sie wohnten in zwei gegenüberliegenden Zimmern, jeder für sich allein. Das war Luxus im Heiligen Geist. Thomeo wohnte auch allein. Aber das war kein Luxus, sondern eine Folter. Thomeo der Großartige wohnte in der erbärmlichsten Kammer des ganzen Hauses. Charlesdos erzählte, dass Thomeo sich die Kammer selbst ausgesucht hatte. Das war glaubwürdig. Niemand sonst auf der Welt hätte sich diese Kammer freiwillig zum Leben ausgesucht. Aber Thomeo war nicht wie Jemand sonst auf der Welt.

Die Kammer hätte man niemals zum Leben nutzen können, sagte Charlesdos. Denn dort oben zog es eiskalt, Sommers wie Winters. Man konnte die verschobenen Dachziegel von innen sehen und Thomeo nannte die Kammer seinen „Sarg“.

„Du kennst doch den Spruch: Das Gras von unten sehen. So ist es bei mir. Ich liege ganz oben. Und wenn ich auf der Matratze liege, dann kann meine Nasenspitze den untersten Rand vom Himmel berühren.

Marie Mallarmé sagte dazu gar nichts.

Aber sie stellte sich das vor, wie Thomeo mit der Nasenspitze direkt am Himmel lag und wie der Wind unter ihm hindurchwehte.

Um genau zu sein, als sie ihn da oben liegen sah, und von ihm unbemerkt beobachtete, wie er mit seiner ganz feinen Stimme zu singen begann, da verliebte sie sich zum ersten Mal in ihn.

Thomeo sang:

 

Durch die Wölkchen, da gräbt sich ein Würmlein
Frisst sich Gänge durchs dunkelste Weiß
Die Mutter liegt krank in dem Bettlein
Drum gräbt’s Würmlein nicht laut, sondern leis.

 Dem Vater hat der Himmel ein Häuslein gebaut
Ein Häuslein aus Nebel und Wind
Das Würmlein hat durch ein Fenster zur Sonne geschaut
Drum gräbt’s seither nicht sehend, sondern blind.

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