Marie Mallarmé – Kapitel 3 (2)

„Ein Tag“, sagte Dr. Zeller. „Du bist jetzt ein Tag hier. Du hast dir alles anschauen kann. Wir lassen den neuen Gästen immer Zeit, um sich hier zurecht zu finden, um sich umzuschauen. Und wir beobachten ein wenig. Nein, nein. Kein Grund, rot zu werden, Marie. Das ist nichts schlimmes. Es gehört zu unserem Beruf. Wir passen auf euch auf. Wir haben zum Beispiel gesehen, dass du schon Freunde gefunden hast. Das ist gut. Sehr gut, sogar.“

Marie Mallarmé sagte gar nichts.

„Was siehst du da? Ah. Hier.“, er rollte mit seinem Bürostuhl über den Holzboden. „Du darfst es dir ruhig näher ansehen. Hier.“, er rollte wieder zurück. „Hier. Nimm ruhig. Sieh es dir ruhig an.

Ein Kalottenmodell nennt man das. Das ist ein Mole-“

„ein Molekülmodell.“, unterbrach Marie Mallarmé den Arzt.

„Richtig. Man kann es drehen und bewegen. Mach ruhig. Die Moleküle in der Wirklichkeit sind auch nicht starr.“

Das Geräusch, dass Marie Mallarmé mit dem Molekülmodell machte, war laut und schneidend. Sie drehte an den Kugelteilen und verschob die Verbindungen. Es klang ein wenig wie das Bewegen der Würfelteile eines Rubikwürfels.

Früher hatte Thomeo einmal geglaubt, wenn man die Lösung eines Rubikwürfels raus hätte, würde er sich öffnen und ein Geheimfach offenlegen.

Das knarrzende und knirschende Geräusch erklang in immer kürzeren Zeitabständen.

„Willst du wissen, was für ein Molekül das ist? Es ist ein Hormon. Epinephrin, heißt es. Ein Stresshormon. Du siehst, du kannst da viel hin und her drehen, aber das Grundbild bleibt immer erhalten.“, man konnte Dr. Zeller durch die Worte hindurch lächeln hören.

„Weißt du, wofür wir hier im Haus da sind, Marie Mallarmé?“

„Ihr helft.“, antwortete sie.

„Ganz richtig. Wir helfen. Wir passen auf euch auf. Und wir wissen, dass ihr voller Ängste und Sorgen seid. Vor allem Ängste, hab ich Recht. Die Welt da draußen hat euch die Ängste in eure Herzen und in eure Köpfe reingelegt. Und wir sind dafür da, dass wir auf euch aufpassen, damit diese Ängste verschwinden.“

„Die Welt da draußen …“, wiederholte Marie Mallarmé gedankenabwesend. Sie hörte sogar kurz auf, das Epiprin, oder wie er es genannt hatte, zu drehen.

„Ich hab gelesen, was mit deinem Vater passiert ist.“, sagte Dr. Zeller ernst. Er hatte eine Stimme angeschlagen, als würde er nicht mehr zu einem kleinen Mädchen, sondern zu einer erwachsenen Frau reden. Das gehörte zu seiner Magie dazu. Das war eine seiner Strategien.

„Man hat es mir hier in dieses Heft hier hineingeschrieben. Hier stehen Sachen drin, von denen es heißt, dass sie wichtig sind. Aber ich weiß natürlich nicht, ob alles drin steht. Oder ob man etwas vergessen hat. Weil die Sachen, die da drin stehen, alles deine Sachen sind, darfst du mich natürlich jederzeit danach fragen. Und du darfst jederzeit sagen, wenn etwas in diesem Heft stehen sollte.“

„Was meinen Sie?“, fragte Marie Mallarmé.

(Krrk. Krrrrrrk, machte es.)

„Ich meine zum Beispiel Ängste. Sieh mal, sagen wir mal, du hast Angst vor Spinnen. So wie ich. Ich hab Angst vor Spinnen, weißt du.“

„Hm.“

(Krrrrrrk. Kriiiik.)

„Aber sagen wir mal, du hättest das nie jemandem erzählt. Dann würde es auch nicht hier in deinem Heft stehen. Im Marie Mallarmé Heft.“

(Krrrrrrrrk Kräk Krrrrkärrkk)

„Dann solltest du mir das sagen und ich schaue nach, ob es drin steht. Wenn du dann irgendwo in unserem Haus eine Spinne siehst und auf einmal anfängst zu schreien, dann wissen wir: Ach, ja, die gute Marie hat Angst vor Spinnen.“

So spricht man nicht zu Erwachsenen, dachte Thomeo. Das sind Worte, die man zu kleinen Marie Mallarmés sagen kann. Aber doch nicht in dieser Erwachsenen-Stimme.

Um die kommende Stille zu überbrücken, tauchte Thomeo kurz mit dem Kopf unter Wasser.

Als er wieder auftauchte hörte er ganz laut das Rubik-Molekül.

„Ich habe nicht viel Angst.“, meinte Marie Mallarmé auf einmal. „Nicht in echt.“

„Das ist gut.“, sagte Dr. Zeller durch sein professionelles Lächeln hindurch. Er setzte wieder zum Sprechen an, aber:

„Nur hier.“

„Was meinst du?“

„Nur hier. Hier muss man Angst haben, glaube ich.“

(Krrrrk. Krr – Klock.)

„He! Das … Nicht zerbrechen!“

Klock!

„Nein!“

Er versuchte es ihr offenbar aus der Hand zu reißen.

Es gab ein Gemenge.

Dann hörte man die Tür zufallen und hastige Schritte, die davon rannten.

Es musste Marie gewesen sein, denn Dr. Zeller war ganz offensichtlich noch da: „Zerbrochen. Prima.“, er seufzte schwer und warf die Molekülteile in einen Papiereimer, wo sie Thomeo eine halbe Stunde später herausfischte.

Seine Haare waren noch nass und sein Körper dampfte immer noch ein wenig. Er sah sich das Modell an. In drei Teile hatte sie es zerbrochen.

Ohne lange darüber nachzudenken, steckte er das Modell unter seinen Pullover und rannte wieder nach oben in seine Kammer.

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