Auf der Karte ganz oben.
Nach Wochen Fahrt.
Mit zwölf schrieb ich in mein Notizbuch: „Der Fels ist stark wie eine Festung, ein schwarzes Bündel der Kraft, das er sich nie wird untertan machen können.
Und wieder und wieder Wellen. Wasser und Fels. Grau und Schwarz. Ein Labyrinth aus grobkantigem Gestein. Das Gefühl, unbedeutend zu sein, steigt, gemeinsam mit den Schwingen des Kormorans, der sich jetzt abstößt, jetzt, hinter dem Fels in die Luft. Dem eisigen Wind trotzt, der mir entgegenatmet. Trotzt durch den Sprühnebel der Meergewalt.
Der Kies unter den Füßen knirscht. Aber das Geräusch ist stumm, tost dahinter doch der schäumende Fjord in halsbrecherischem, unstillbarem Jähzorn gegen den Fels, der ihn immer wieder in Schranken weist. So wie vor Jahren. So wie in Jahren.“
Die Schrift ist ganz zittrig. Weil ich mit diesen Handschuhen nicht schreiben konnte. Und weil der Wind wirklich wie Stecknadeln kalt war und durch die Stirnhöhlen hindurch das Gehirn malträtierte.
Ich stand mit einem Fuß auf einem alten Brecher: ein stern- wie korkenförmig gegossener Betonklotz, den man mit seinen tausend Geschwistern in Ufernähe versenkt hatte, damit die Kriegsschiffe nicht anlegen konnten. Was ein Witz. Denn diese Brecher sahen hier so hoffnungslos verloren aus. Weil es hier etwas Gewaltigeres gab. Schären. Schwertspitzenähnliche Steine. Als ob das Land hier mit Dornen ins Meer hinausgewachsen wäre. Dornen, aneinandergereihte Dornen. Die ganze Küste entlang. Das Meer jagte dagegen und zog sich brausend, zornig zurück.
Für nur Sekunden.
Bei diesem Wind donnerten die Wellen sekündlich.
An diesem Tag, an dieser Küste, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass der Himmel hier oben im Norden viel tiefer hing und gleichzeitig viel größer und weiter gespannt wirkte. Dabei war vom Himmel gar nichts zu sehen. Sondern nur eine dichte, graue Masse. Als sei hier oben auch alles voller Beton gegossen worden.
Es roch nach nassem Tang. Und nach Salz.
Ich erinnere mich, dass als ich den vergessenen Ort verließ, das Salz auf meinen Lippen schmecken und spüren konnte. Die Zunge kratzte regelrecht über die Lippen.
Es klingt merkwürdig, ich weiß, aber dieses besondere Felsengrau, halb Schiefer, halb Silber, ist in vielen meinen Träumen.
Dieses kleine Fischerdorf, dem wir uns später näherten, begrüßte uns widerwärtig.
Kinder bewarfen uns mit Dosen.
Sie riefen uns „Nazideutschländer“ hinterher.
Obwohl es eiskalt war, lagen Männer mit bronzenen, nackten Oberkörpern auf Wellblechflachdächern, jeden noch so kleinen Sonnenstrahl erhaschend.
Ich weiß, dass es kein Fjord war. Sondern die Barentssee.
Ich weiß, dass die Brecher in Wahrheit Tetrapoden heißen.
Und ich weiß, dass wenn ich irgendwann wieder dorthin komme, es anders aussehen wird als in meiner viel zu alt gewordenen Erinnerung.
Ich werde das nächste Mal den Tanahorn suchen. Aus Interesse.
Und wieder diese Luft atmen, die noch die selbe sein wird, der selbe uralte Atem.
Wir werden uns wiedererkennen.
„Hi, alter Freund.“, werde ich flüstern. „Ich bin zurück.“