„Das ist die Oase von Cherom.“, erklärte uns Sandran.
Ich sah gar nichts. Nur Sand. Und das schon seit Monaten. Jeder Hügel sah verdammt gleich aus. Wenn man von den farbenprächtigen Sonnenuntergängen und dem Zauber des erwachenden Lichts jeden Morgen absah, dann gab es nichts, aber auch gar nichts, was diesem Trip durch die Wüste gutgesprochen werden konnte.
Keine Ahnung, warum sie in Barun immer von der Wüste schwärmten. Vielleicht weil es dort Wasser im Überfluss gab und man sich einfach nicht der harten Realität stellen wollte. Die Wüste war kein Ort zum Leben, sondern zum Überleben. Jeden Tag hatten wir darum kämpfen müssen, dass wir das Ende des Tages überhaupt erreichten. Und jede Nacht war ich mir nicht sicher, ob ich den nächsten Sonnenaufgang überhaupt noch miterleben würde.
Die Skarabäen hatten sich als treue Reitkäfer herausgestellt. Teuer, als ich es für mögliche gehalten hatte. Das war die erste von so vielen Sachen gewesen, in denen Sandran Recht behalten hatte und es vergingen wenige Tage, in denen er nicht Gelegenheit fand, es mich spüren zu lassen, dass jeglicher Zweifel an seiner Autorität unangebracht war. Als er jetzt meinen Blick las und darin weniger die Erschöpfung der Reise als vielmehr erneute Skepsis erkannte, kam er mit seinem Sandkäfer zu mir herüber geritten und grinste mich breit mit seinen schiefen Zähnen an.
„Das ist die Oase von Cherom.“, wiederholte er. Und er ergänzte: „Die Sandkäfer haben uns wohlbehalten hergeführt. Wie versprochen!“, er sah mich herablassend an.
Ich stieg von meinem Käfer und ging ein paar Schritte weiter. Hier war nichts, aber auch gar nichts. Keine Oase, nichts von dem, was er mir von Anfang an versprochen hatte.
„Soll das ein Scherz sein, Sandran?“
Er lachte mir in den Rücken.
Ich bückte mich, nahm eine handvoll Salz und ließ es vom Wind davon tragen.
„Ein gottverdammter Scherz.“
So wie die Sonne, die einem das Denken aus dem Kopf brannte.
„Du glaubst nicht!“, lachte Sandran. „Wieso fällt es dir so schwer, etwas zu glauben.“
„Etwas, was man nicht sehen kann? Ich verrate dir was, Sandran. Was man nicht sehen kann, das ist auch nicht da. Das existiert nicht. Verstanden? Die ganze Reise war ein einzelner Reinfall. Ein elendes Treiben, immer tiefer in den Untergang hinein. Es gibt keinen Winkel dieser Welt, die so verkommen und leer ist wie diese verdammte Salzwüste.“
Jetzt sprang er auch von seinem Käfer und kam zu mir. Er legte mir die Hand auf die Schulter und meinte: „Herr. Du hast mir bis hierher vertraut. Vertrau mir noch ein letztes Mal. Und jetzt komm, lass uns das Lager aufschlagen.“
„Hier?“, fragte ich widerwillig.
„Genau hier.“
Sandran hatte von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass er sich zwar von mir bezahlen lassen wollte, aber dass er auf keinen Fall mein Diener war.
„Du musst dich um dein Lager immer selbst kümmern. In der Wüste kannst du den Tod nicht bezahlen. Wenn er dich erwählt, wirst du ihm folgen. Und ihm werd ich als einziger Sklave sein. So wie alle Menschen sein Sklave sind.“
Ein romantischer Gedanke, nicht wahr? Und so unfassbar beruhigend, wenn man sich darauf verlassen muss, von einem selbsternannten Experten einmal in die Mitte der großen Salzwüste hinein und am Ende auch wieder hinausgeführt zu werden.
„Ich habe noch lange nicht vor, meinen Dienst bei ihm anzutreten.“, hatte ich ihm damals geantwortet. Und er hatte wie immer herzhaft gelacht und gesagt: „Ein Sklave entscheidet nicht, wann sein Dienst beginnt. Der Herr tut es.“
Er ließ mich mein Lager also jeden Abend selbst aufbauen und verkaufte es mir als einen Akt der Treue. So lange er mir nicht versprechen konnte, dass wir die Reise, die wir gemeinsam angetreten waren, auch gemeinsam beendeten, so lange musste ich gut genug in der Lage sein, für mein eigenes Überleben sorgen zu können.
Dafür reichte es vielleicht inzwischen ein wenig.
Aber für die Orientierung fehlte es mir völlig an Talent. Es gab wortwörtlich nichts als die eigenen Spuren, an denen man sich orientieren konnte.
Einmal hatte er mir zu erklären versucht, dass es ein paar Salzberge gab, die ewig standen und solche, die wanderten und sich veränderten und er hatte mir versucht zu zeigen, woran man den Unterschied erkannte.
Ich war erschreckend lernresistent. Und er nannte mich: den Weglosen.
„Du wirst überleben können. Aber du wirst in dieser Wüste den Weg nicht herausfinden, selbst wenn es mit Menschenhand verfasste Schilder gäbe.“
Ein Weg hätte mir schon gereicht.
Ein Baum vielleicht sogar.
Vor allem Schatten. Ich wusste gar nicht mehr, wie Schatten aussahen.
Sandran hatte mir beigebracht, den ganzen Tag über eine aus Holz geschnitzte Brille zu tragen. In diesem Holz gab es nur zwei Schlitze, durch die man nur sehr wenig sehen konnte. Aber sie funktionierten wirklich gut, weil die Sonne hier viel zu nah stand. So als wäre man statt über die Oberfläche eines Planeten durch das Universum in ihre Richtung gewandert.
Wir suchten härtere Salzschichten, wo wir die Zelte befestigen konnten. Dann schlugen wir sie auf und legten uns stumm hinein. Das war das erste Mal, dass wir bei Tag in den Zelten lagen. Und es tat gut, einmal nicht zu reisen. Sicher, die Sandkäfer hatten die meisten Anstrengungen getan. Aber auf ihnen zu sitzen war bei weitem nicht die angenehmste Reisemöglichkeit. Ihre Chitinkörper waren zu breit, um die Beine auf beiden Seiten bequem hängen zu haben, und dann doch zu schmal, um es nicht zu tun. Die Zügel hingen recht tief und die Sonne beugte einem den Rücken nur noch mehr.
Jeden Abend fühlte sich das Liegen an, als würde der Rücken sich wieder gerade strecken. Aber der Boden war so unerträglich hart, dass man besser auf Nägeln gelegen hätte.
„Das war die schlimmste Reise meines Lebens.“, sagte ich zu Sandran. Und er antwortete wie gewohnt nicht. Wenn wir in den Zelten lagen, wurde nicht gesprochen. Weiß der Himmel, was er dort trieb. Ob er wirklich direkt einschlief, ob er betete oder ob er einfach nur starr auf dem Boden lag und irgend ein Geheimnis kannte, das ihm schneller die Energie zurückbrachte als mir.
Als die Sonne unterging, klopfte er mir mit seinem Stab gegen die Fußsohlen und drängte mich so ins Freie.
Wir hatten das Lichtspektakel jetzt schon oft genug gesehen. Und er hatte gemeint, es wird keinen Abend geben, an dem man nicht davon fasziniert wäre. Er nannte den Einbruch des Abends den „Zauber der Wüste“. Aber ehrlich gesagt hatte ich mich auch davon satt gesehen.
Ich wollte eigentlich nie wieder dieses langsame Aufbrechen des grellen Blaus in das dunklere Violett erleben. Und dann dass die Sandkäfer auch ihre Farbe wechselten. Wie sie zuckten und erzitterten, als ob sie die schwarze Tagfarbe einfach abschüttelten und darunter das schillernde perlmuttviolett zum Vorschein kam. Die Sonne berührte den Horizont und sie sank so schnell, als ob sie es gar nicht erwarten konnte, ihren angestammten Platz am Firmament zu verlassen. Eine leuchtende Flammenkorona blitzte um sie herum auf. Wir sahen wie die Flammen über den Horizont huschten und glitzernd und wie eine organische Masse, halb Schaum, halb Glut über die lila Farbflecke wanderten. Ein leuchtendes Band wurde sichtbar. Die letzten hellen Farben wurden dunkel, schließlich schwarz. Aus dem leuchtenden Band wurde ein Streifen Sterne. Blass zeichnete sich die Kontur eines sichelförmigen Mondes ab, so als trete er seinen Dienst im Unterschied zu seiner Schwester Sonne durch einen Gazeschleier hindurch an.
Meist wurde es nicht nur auf einen Schlag deutlich kühler, wenn nicht sogar frostig kalt, meist kam auch noch ein unangenehm stechender Wind auf. Einer, der nach Salz roch und nach Feuer.
Und heute geschah noch mehr.
Es geschah bereits als die Flammen über den Horizont zuckten. Es war fast zu hören, wie ein sichtbar gewordenes Knistern, jagte dieser Glutschaum über den Himmel hinweg und hinterließ Spuren, wie in den Himmel eingeprägter Rauch. Die Sterne, sie schienen in Bewegung zu geraten. Etwas ähnliches hatte ich noch nie gesehen. Sie rutschten regelrecht und dann immer schneller, bis es kein Rutschen mehr war, sondern ein Fließen. Das breite Sternenband war das einzige, das still stand. Alle anderen Sterne glitten wie über einen schwarzen Fluss hinweg vom Himmel über uns zum Horizont und dann, noch ehe es ihn erreichte, schlagartig nach unten.
Ich hörte es jetzt. Es klang wie das Plätschern von Wasser.
„Da!“, machte Sandran. „Da ist es, Ungläubiger! Was sagst du jetzt?“
Ich konnte nichts sagen. Mir hatte es alles an Worten verschlagen, was je in mir gewesen war. Ich starrte mit weit aufgerissenem Mund auf das Phänomen. Vor unseren Augen erwachte die Oase von Cherom zu magischem Leben. Die Sterne prasselten auf der Oberfläche eines nachtschwarzen Flusses wie über einen Wasserfall zu Boden und trafen auf die Erde, wo sie sich ihren Weg über das Salzbett bahnten. Der schwarze Fluss, ich näherte mich ihm, er war so schwarz und finster, als sei er aus nichts anderem als aus Wasser. Und auf seiner Oberfläche trieben die zahllosen Lichtflecke, die ich für Sterne hielt ins Irgendwohin.
Ich fiel regelrecht auf die Knie.
„Was ein Zauber!“, entfuhr es mir. Und Sandran lachte schallend auf.
Er kniete sich zu mir. In seinen Händen hielt er eine kupferne Schale.
Damit schöpfte er aus dem Nachtfluss Wasser, oder was auch immer das war, und ich sah, dass auch Sterne darin schwammen.
„Trink!“, sagte er. Und als ich keine Anstalten machte, danach zu greifen, trank er erst selbst, wohl um mir zu beweisen, dass ich ihm auch diesmal vertrauen könne.
Dann schöpfte er erneut und hielt es mir wieder.
Ich starrte auf die glänzende, abgrundtief schwarze Flüssigkeit in der Schale hinab. Ich starrte auf die Tatsache, dass ich durch diese Nachtflüssigkeit hindurch den Boden der Schale nicht zu sehen bekam. Ich starrte auf die dicht unter der Oberfläche schwimmenden Sterne, die sich so zittrig bewegten, als seien es Lebewesen. Wenn man genau hinsah, erkannte man, dass die glänzenden, leuchtenden Punkte kleine Schlieren hinter sich herzogen.
„Trink.“, wiederholte Sandran. „Deshalb sind wir doch hier, oder?“
Ich nickte.
Sandrans Augen hatten sich, seit er getrunken hatte, verändert. Sie waren dunkler geworden, strahlender. Nächtlicher.
„Was passiert dann?“, fragte ich.
„Dann werden wir uns verändern.“, lachte Sandran. „Die Wirkung hält nicht lange. Nachtwanderer, so nennen wir sie dort, wo ich herkomme.“
„So nennt man dort wen?“
„Die, die davon getrunken haben nennt man so.“
„Nachtwanderer.“, wiederhole ich.
Das klingt gut.
Ich trinke.
Und während die Nacht mir die Kehle hinabrinnt, keimt in mir die Idee, dass es einen Weg gibt, die Wirkung zu verlängern. Während die Schale sich hebt, schiele ich auf den Fluss und auf die Sterne.
Sandran wird mir davon abraten. Aber wann habe ich ihm je vertraut?
Ich spüre bereits, was geschieht und verstehe, warum man uns so nennt: Nachtwanderer.