Manchmal verändern sich die Zeiten, aber manchmal bist eben du es, der sich verändert und alles, was du siehst, hat plötzlich ein anderes Licht oder eine andere Farbe. Es ist sowieso immer alles eine Frage der Perspektive, oder nicht? Du kennst das bestimmt, wenn du gerade mies drauf bist, wirkt die Straße ganz anders als wenn du gut drauf bist. Der Truck, so sehr ich ihn mag, es gibt einfach Tage, da hab ich das Gefühl, dass das Fahrerhaus wirklich eine kleine Zelle ist und ich halte nichtmal den Luftdruck darin aus. Kennst du das? Es wird immer enger und enger mit jeder Sekunde, bis dir die eigene Haut zu eng geworden ist. Man dreht meinetwegen das Fenster auf und lässt die kalte Nachtluft rein. Aber das hilft nichts. Klar, wir haben alle dieses verdammte Zeitlimit. Und ja, jede noch so kleine Toilettenpause wird dir aufgezeichnet und später musst du für jede Sekunde Rede und Antwort stehen. Aber es bringt nichts, wenn ich mir am liebsten die Haut vom Leib reißen würde. Also fuhr ich auf die Raststätte, ins gelbe Neonlicht hinein und es fühlte sich beim Türöffnen an, als ob ich aus einem Sarg ausbrechen würde.
Berber würde fragen, ob ich diesen Job vielleicht doch hassen würde. Es gibt Jobs, die muss man mit Leidenschaft ausführen. Du musst deinen Truck lieben. Du bist immerhin länger mit ihm zusammen, als mit irgend einer Frau.
Du hast leicht reden, Berber, du hast immerhin eine Frau. Und nein: ich liebe den Job, ehrlich! Ich bin für die Straße geboren und für die langen Fahrten quer durch die Dunkelheiten. Ich mag die Autobahnraststätten, das Schlafen in der engen Kabine hinter dem Vorhang, ich mag den Funk und sogar die dämliche Musik, die immer nur die gleiche ist, die einem die Radiosender verkaufen wollen wie die frohe Botschaft des Herrn Jesu persönlich. Verdammt, ich hab sogar in Staus gestanden und mich gut gefühlt. Aber das heißt ja nicht, dass einem immer alles gefallen muss, oder?
Berber war so genau die Type, der immer alles gefiel und für die immer alles super passend oder super mies war. Einer, der aber auch immer nur den einen Weg ging und für den es am Ende immer hieß: „Weißte, warum das so passiert ist? Weil es so passieren musste.“ Und dann sagte er oft: „Live with it“ in unfassbar schlechtem Englisch, dass es klang wie „Leifwisid“, was mich fast genauso zur Weisglut brachte wie seine frohe Botschaft über meine nächsten Fahrten.
Ich zündete mir eine Zigarette an und brauchte erstmal einen ganz tiefen Atem, der mir seine Stimme aus dem Gedächtnis qualmte. Ich spuckte ein paar Flüche gegen ihn aus, hoffte, dass es mir dann besser gehen würde, aber meine Wut verschwand in dieser Nacht wirklich nur langsam.
Die Sache war die, dass ich Rico, meinem Sohn versprochen hatte, dass wir uns sehen würden. Und Berber hatte beschlossen, mir kurzfristig die Termine zu verschieben. Vielleicht weil er so arrogant war zu denken, ich würde meinen Job so sehr lieben, dass ich alles dafür tun würde. Tja, falsch gedacht: es gibt dann doch ein paar Sachen auf der Welt, die ich mehr mag, Berber. Und deinen fetten Hintern mag ich sogar so sehr, dass ich am liebsten gleich reintreten würde.
Wenn Berber aber nicht gewesen wäre und seine dämlichen Bemühungen, mich in den nächsten Monaten in den Truck zu ketten – hey, du bekommst auch ein paar Sonderurlaubstage zusätzlich, mein Freund! – dann hätte ich hier nicht angehalten, nicht wahr? Und dann wäre ich nicht losgetigert, rüber zum Nachtschalter vom Autobahnrestaurant, um mir eine Tasse Kaffee zu genehmigen.
Es war schon nach Mitternacht. Und in diesem Land gab es keine Nachtfahrverbote wie in Deutschland. Ich stand mit meinem Pappbecher an der großen Glasfensterscheibe und beobachtete die anderen vorbeiziehenden LKWs.
Das ist so ein Gefühl, als ob das Leben an einem vorbeizieht. Alle andern machen deinen Job. Und du stehst da und starrst ihnen hinterher. Die roten Streifen, die sie zogen, schnitten harte Bahnen in die Dunkelheit. Durch die halbverschmierte Fensterscheibe sah alles auch irgendwie so verblendet aus. So wie überbelichtet und dann noch verwischt mit einem sandigen Schwamm. Ich weiß nicht, ich bin nicht gut mit Worten. Ich weiß nur, dass diese roten Bremslichtschlieren irgendwie ihren Weg durch meine Brust hindurchfanden in dieser Nacht. Und obwohl ich hier wirklich Platz hatte, kam mir alles zu eng und zu laut vor. Aber die falschen Geräusche: das zittrige Surren der Neonröhren, das Rollen der Kühltruhen, das Zischen vom Kaffeeautomat und zwischendurch die billigen Glitzertöne von einem Spielautomat, wo man angeblich Hightechzeugs gewinnen konnte, was keiner brauchte.
Und dort stand tatsächlich jemand. Eine Frau sogar. Ich hab noch nie jemanden an diesen Automaten stehen sehen und muss deshalb wohl ziemlich gestarrt haben. Jedenfalls spürte sie meinen Blick und sah zu mir rüber.
„Wow.“, sagte ich. „Sie wissen schon, dass man da nichts gewinnen kann?“ Ja, ich hörte meine kratzige Stimme und ich hörte auch, wie unverschämt ich geklungen haben musste. Irgendwie tat es mir leid, aber sie lächelte verschämt darüber, wurde sogar rot, aber nicht etwa, weil ich sie angegriffen hatte, denn sie sagte ganz sanft: „Klar.“
Sie hatte etwas Asiatisches an sich. Aber nur ein Hauch davon. Vielleicht lag es auch an dem schrecklichen Licht hier drin. Oder an dem komischen Zeug, das sie dabei hatte: eine neongelbe Tüte zum Beispiel mit ausgesteiftem Boden, wie man sie normalerweise höchstens in Kleidergeschäften bekommt. Ein weißer Trenchcoat, der für meinen Geschmack einen viel zu kleinen Kragen hatte und dem eine schwarze Kapuze hinten ausragte. Und dann diese merkwürdigen Plateauschuhe. Aber die trug sie nicht, nein, die standen neben ihr. Und deswegen war sie kleiner als vielleicht gewöhnlich, dachte ich, und vielleicht etwas verletzbarer.
Es ist ein merkwürdiger Anblick, wenn du mitten in der Nacht in einem fremden Land an einer Autobahnraststätte eine hübsche Frau mit merkwürdigen Kleidern vor dir stehen siehst. Und ich sagte:
„Tut mir Leid, kann ja sein, dass es da ein paar Tricks gibt, wie man gewinnen kann.“
Sie hatte verschämt wieder auf das Display geblickt und mit den Fingerspitzen in den Zwischenräumen der Knöpfe die Felder nachgezogen. Jetzt sah sie mich wieder an und war irgendwie erleichtert oder milde gestimmt oder so, denn sie fragte:
„Kennen Sie Tricks?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Tut mir Leid.“, sagte ich. Und sie zuckte mit den Schultern.
Es war nur eine kleine, unmerkliche Bewegung, und dann trat sie auch noch einen Schritt zurück. Und das Licht des Automaten fiel ihr jetzt von einem leicht anderen Winkel über die Gesichtszüge. Jedenfalls sah ich jetzt erst, dass sie wunderschön war. Dass ihr Gesicht irgendwie ganz sanft gezeichnet war. So als ob der, der sie gemalt hatte, sich bei jedem Strich unsicher gewesen ist und um Himmels Willen nichts verkehrt machen wollte. Sie sah unwirklich aus. Und überirdisch. Ich spürte den Drang, einfach nur kurz ihre Wange zu berühren, um zu sehen, ob sie real war.
Das tat ich natürlich nicht. Aber ich trat näher. Und ich begann sie zu riechen, nur die Andeutung eines Geruchs.
„Ich auch nicht.“, sagte sie. „Ich kenn auch keine Tricks. Gar keine.“
„Darf ich es einmal versuchen?“, fragte ich und sah mir den Spielautomaten an, in dessen Innern in vier Reihen Handys und Tablets hingen und in deren schwarzen Oberflächen wir uns spiegelten, die zarte Fremde und ich.
Sie trat zur Seite.
Und flüsterte ein Wort, das ich nicht verstand.
Es fühlte sich dumm an. Irgendwie kindisch.
Auf ein Spiel zu setzen, von dem man wusste, dass es umsonst war.
(…)