Was aus Narben wächst (1) Karawane

 

Antoine de Saint-Exupéry schrieb einmal „Das Wesentliche der Karawane aber entdeckst du, wenn sie sich abnutzt. Vergiss den eitlen Lärm der Worte und schau: Wenn der Abgrund ihrem Wege widersteht, umgeht sie den Abgrund; wenn der Fels sich erhebt, weicht sie ihm aus; wenn der Sand zu fein ist, sucht sie anderswo festen Sand, doch stets schlägt sie wieder die gleiche Richtung ein.“

 

Nachts waren alle Städte golden.

Der Asphalt glitzerte, als ob Sterne eingepflastert wären.

Leuchtreklamen waren bei Tag ziemlich nutzlos. Aber in der Nacht brachten sie Atmosphäre. Sie brachten das Schwarz zum Leuchten. Und man ging durch das Neonlicht hindurch wie durch diese Nebel, die einem im Traum das Erleben unwirklich sein lassen.

Es waren heute vier. Vier Menschen.

Das war etwas Besonderes, weil diese Art von Mensch normalerweise nur alleine unterwegs war. Aber der eine, der vorweg ging, der mit dem braunen Filzhut, an dem die französische Kokarde abgewetzt hing, war ein Menschenmagnet.

Er zog alle Arten von Menschen an. Auch die, die für sich bleiben wollten.

Auf der Straße, sagte er manchmal, sind wir alle Brüder. Und er reckte, wenn er solche Sätze sagte, die Faust vor und ließ die anderen ihre Faust dagegenhalten.

Em mochte ihn, weil er die meiste Zeit nichts sagte. Und wenn er etwas sagte, dann klang es immer irgendwie weise.

Er nannte sich Rock. Aber auch wenn er das englische Wort damit meinte, sprach er es viel zu deutsch aus. Er sagte, dass der Name von dem englischen Sprichwort herkam: Ein rollender Stein setzt kein Moos an.

Em wusste selbst nicht wieso, aber sie folgte ihm einfach. Und genau wie sie, taten es Ben – der immer stärker nach billigem Parfum stank, je mehr er sich anstrengte – und Tony, der man nicht ansah, dass sie eigentlich ein Mädchen war.

Die Stadt war nachts wie ausgestorben. Es war irgendwie unheimlich, wenn man so über die Hauptstraßen ging. Unter den gelb blinkenden Ampeln hindurch. Von den Leitplanken geführt. Nur ein kleiner Teil einer Menschheit im All.

Ben hatte erzählt, dass wenn er nachts eine Stadt durchquerte, er sich vorstellte, er wäre der letzte Überlebende auf der Erde. Jetzt pflückte er von einem Mülleimer eine halbvolle Flasche. Als er daran roch, lachte er: „Ist Whiskey.“ und setzte an.

Wenn sie die letzten Menschen auf der Welt wären. Durch diesen Gedanken hindurch, musterte Em heute Nacht ihre Umgebung.

Die Stadt roch furchtbar. Helle Dämpfe stiegen aus den Kanaldeckeln auf. In einem Pornoshop flackerte träge die Nachtbeleuchtung. In der Nähe zum zweiten, kleinen Altstadtkern, dort, wo früher die Handwerker gelebt hatten und heute noch gedrungene Fachwerkhäuser standen, hing an einer romantisch altmodischen Straßenlaterne ein an den Schnürsenkeln aufgeknüpfter, alter Militärstiefel.

Er hing da und baumelte wie ein sinnlos gewordenes Mahnmahl.

Die Straße, auch wenn es angeblich immer noch eine Bundesstraße war, wurde enger, die Häuser rückten dichter beieinander, als wollten sie sich vor der Kälte schützen. Über ihnen zogen kahl gewordene Blumenbögen aus Rost kleine Baldachine ein. Und instinktiv verspürte Em den Drang, sich zu bücken, sich in sich selbst hineinzuziehen.

Tony fragte: „Kalt?“

„Nein.“, sagte Em. „Ich bin nur froh, wenn wir draußen sind.“

Hustend deutete Rock auf eine Treppe in einer engen Gasse. Er sagte: „Ist eine Abkürzung. Vertraut mir.“

Und schon schleppte er sich, halb am Geländer ziehend, nach oben. Er schnaufte wie ein alter Dampfkessel.

Sie überholten ihn, ließen ihn zurückfallen und nur Em blieb bei ihm.

„Du hasst Städte, hab ich Recht?“, er redete, um sich von seinen Anstrengungen abzulenken.

„Die Landstraßen sind mir lieber.“, bestätigte Em.

„Dabei ist es in Städten immer so schön warm. Zu jeder Jahreszeit. Das liegt daran, weil die Häuser atmen. Wusstest du das? Zwischen den Häusern ist es immer warm. So warm wie Atem.“

Sie biss sich auf die Lippe, weil sie ihm fast gesagt hätte, er sollte sich den eigenen Atem für die Treppen sparen. Aber Rock war so alt, er würde das Reden auf den Stufen auch noch überleben.

„Es gibt nichts, was so schlimm ist wie Kälte.“

„Hunger vielleicht.“, meinte Em.

Er schnaubte verächtlich.

„Wer am Hunger krepiert, ist eigentlich an Dummheit gestorben. Es gibt überall was zum Essen. Selbst Scheiße kannst du essen.“, er lachte trocken. „Gegen die Kälte bist du machtlos.“, fuhr er fort. „Dir frieren die Zehen ab, die Finger, die Nase, die Ohren. Du fällst langsam in Einzelteilen zu einem Krüppel zusammen und hast nichts mehr außer ein kleines bisschen Seele in einem immer enger werdenden Körper.“

„Wusste gar nicht, dass du so poetisch bist.“, sagte Em.

Aber Rock ignorierte sie: „Alle Seelen brauchen Platz in ihren Körpern. Ich weiß das, Kleine. Ich hab auch schon so richtig gefroren. So richtig viel Kälte in mir drin gesammelt.“

Er hielt inne und reckte angestrengt den Kopf nach oben. Wenn man Rock dabei zusah, wie er sich bewegte, wurde einem klar, dass es auf der ganzen Welt keinen Grund gab, sich für irgend etwas zu beeilen. Er hätte stundenlang so da stehen können. Und oben hätten Tony und Ben entweder gewartet oder eben nicht. Aber für Rock wäre es so egal gewesen wie es ihm egal war, wer hier alles in dieser Stadt wohnte. Alles war egal. Nur der nächste Schritt zählte.

„Hast du dir je Gedanken darüber gemacht, wo du überhaupt hingehst?“, fragte Em ihn plötzlich.

Natürlich antwortete er: „Bis ans Ende der Treppe.“

„Du weißt was ich meine.“, sagte sie. „Du hast eben gesagt, es sei eine Abkürzung. Aber wohin?“

„Aus der Stadt raus, Em. Und dann auf die Straße. Richtung Landauswärts. Richtung Irgendwohin.“

„Du musst doch ein Ziel haben.“

„Wie lange bist du schon auf der Straße, Em?“

„Keine Ahnung. Noch nicht lange genug.“

Im Vorbeigehen fiel ein schmutzig gelbes Licht aus einer schwachen Hofbeleuchtung auf sein Lächeln.

„Ich bin schon ewig unterwegs.“, sagte er. „So lange schon, dass ich erlebt habe, dass alle Straßen auf dieser Welt immer nur dieselbe Straße sind. Es kann sein, dass es einen Anfang irgendwo gab. Irgendeine Haustür, von der du losgegangen bist. Aber sobald du unterwegs bist, gibt es nur diese Straße und sie läuft immer weiter. Ohne ein Ende. Es gibt kein Ziel, Em. Es gibt nur ein Unterwegs sein. Einmal hab ich einen kennengelernt, der unterwegs aufgehört hat. Der hat einfach die Straße verlassen und ist in ein Haus hinein und hat dann dort gelebt und gesagt, dass es jetzt an der Zeit ist glücklich zu werden. Er hat mir von einem Video im Internet erzählt. Da sieht man, wie Obdachlose von einem Starfriseur die Haare gemacht bekommen haben. Und er hat mir erzählt, dass das richtige Verwandlungen waren. Dass es so ist, als ob man einfach nur den ganzen Dreck von der Haut wegwischt. Als ob du deine Jacke wechselst. Und weißt du …“, er blieb stehen, richtete sich auf und atmete noch einmal tief durch, fünf Stufen vor dem oberen Ende, wo die anderen auf sie warteten.

Rocks Atmen war schwerfälliger geworden. Er röchelte, so als ob Wasser in den Lungen stand. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen das Geländer, zog den Hut aus und drehte ihn in den Händen. Auf seiner Stirn glitzerte der saure Schweiß.

Auf einmal konnte Em ihn riechen. Ein hauchdünner Wind trieb ihr seinen Geruch entgegen. Und sie glaubte, dass er sich jeden Augenblick auflösen würde und sie ihn mit einem einzigen Atemzug komplett einatmen konnte. Sie glaubte, dass ihm der Leib nur noch aus dürren Knochen bestand und die Kleider an ihm schlackerten wie halb zerrissene Fahnen.

Du bist am Ende, Rock.

Und er dachte und empfand wohl das gleiche. Sie sahen sich ernst in die Augen. Dann grinste er; wie ein blanker Totenschädel sah er aus.

Komm, Rock, deine letzten Stufen schaffen wir gemeinsam.

Er drückte sich angestrengt wieder zurück auf die Stufen, setzte sich den Hut auf und tat, als wäre keine Pause gewesen.

„Weißt du, ich hab ihn zehn Jahre später wieder auf der Straße getroffen. Manchmal ist das so auf der Straße. Manchmal bringt sie dir die unglaublichsten Zufälle wieder zu dir zurück. Manchmal findest du auch die eine besondere Stelle in einer Stadt nie mehr wieder. Oder, wenn du gar nicht danach suchst, taucht sie plötzlich in einer ganz anderen Stadt auf. Wenn du gar nicht damit rechnest, verstehst du?“

„Ja.“, log sie.

„Oder du triffst eben nach zehn Jahren deinen alten Freund wieder. Der sich den Dreck von der Strasse weggewaschen hat. Und der sagt dir dann ins Gesicht: ‚Die Straße kann man nicht wegwaschen, Rock. Die Straße ist nämlich in dir drin. Wie ein Krebsgeschwür. In dir drin.“, er seufzte, wurde leiser weil sie die anderen eingeholt hatten und jetzt waren sie auf dem Weg zu einer Mauer, von wo man einen weiten Ausblick über diesen Teil der Stadt hatte.

Ein leuchtendes Netz, das über die Erde geworfen war. Unzählige flirrende Lichtpunkte.

Ein Netz, das waberte, so als ob tief unter der Erde etwas lebte, das so tief atmete, dass sich die Oberfläche aufwölbte und sank.

Die Wolken verfärbten sich, die sich der Stadt näherten. Sie nahmen den Abglanz des Neonlichts an, so als wollten sie sich anbiedern. Sie senkten sich herab mit einer beinah nicht zu ertragenden Langsamkeit. Lösten sich vom Himmelsschwarz ab und ertränkten das Bunte in einem sanften Überwurf.

Em hatte zu zittern begonnen. Der Gedanke von Rock ließ sie nicht los. Der, dass über die ganze Welt nur eine einzige Straße lief.

Sie hatte schon lange nicht mehr an zu Hause gedacht: an die ersten Schritte von dort weg. Jede Straße fängt irgendwo an, Em, das war ihre eigene Stimme. Und sie hatte es absichtlich gedacht. Absichtlich Rocks Worte versucht zu wiederholen. Weil sie gespürt hatte, dass da eine zweite Stimme sich in ihr näherte. Und sie hatte gehofft, wenn sie nur laut genug in ihrem eigenen Kopf mit ihrer eigenen Stimme sprechen könnte – vielleicht sogar mit Rocks Stimme – dass die Vergangenheit sie nicht überfallen würde.

Erinnerungen sind immer so plötzlich und unerwartet wie Überfälle. Wie diese Kleinkinderspiele, bei denen man sich von hinten anschleicht und dem Opfer dann mit einem lauten Schrei an die Schultern springt.

„Du wünschst dir, du hättest deinen Fotoapparat dabei, nicht wahr, Em?“, das war nicht ihre eigene Stimme. Es war die der Vergangenheit. Die Stimme, die sie an der Haustür damals zurückgelassen hatte.

Das wäre ein perfektes Motiv, Em!, sagte die Stimme. Wie hättest du es früher genannt? Ein Kalenderbild?

Ein Kalendershot!, korrigierte sie.

Und dann legte Rock seine Hand auf ihre Schulter und brachte die Stimme der Vergangenheit zum Schweigen. Vorerst.

„Er hat gesagt, du weißt schon, mein Freund, von dem ich dir vorhin erzählt habe: als er sich die Straße abgewaschen hatte, da war es, als ob alles auf einmal falsch geworden wäre. Manche Menschen sind für die Straße geboren. Dafür, dass sie immer weiter gehen und alles hinter sich zurücklassen. Jeden Schritt ihres Lebens lassen sie zurück. Sie gehen und gehen und gehen. Und das Gehen ist für sie wie atmen. Und das Gehen ist wie ein am-Leben-sein. Und für andere ist es das nicht. Andere können sich die Straße abwaschen.“

„Wir sind verlorene Seelen.“, sagte Tony dazu.

In Rocks Gesicht konnte Em lesen, dass er das so nicht sah.

Für ihn waren die da unten, die in dem Netz gefangen waren, die verlorenen Seelen. Sie stand da und blickte wie durch Rocks Augen nach unten in die Stadt.

„Wir sind nicht die letzten Menschen auf der Welt, nicht wahr, Rock?“

„Nein.“, stimmte er zu. „Sind wir nicht.“

Erst als Rock vom Aussichtspunkt weiterging, eine steile Straße nach unten, die in einen Wald führte, brachen die anderen auch auf. Ben war durch den Whiskey redselig geworden. Er erzählte von einer Frau, die er liebte und die für immer auf ihn warten würde.

Die Geschichte war nicht interessant, nichts Besonderes. Eine, die genauso gut nicht hätte erzählt werden können. Und es reagierte auch niemand darauf.

Tony schnallte sich den Rucksack ab und während sie darin nach einer Trinkflasche suchte, fiel Ems Blick auf eine alte Polaroidkamera.

Sie zögerte, wartete bis Tony die Flasche wieder einpackte. Dann trat sie näher und fragte: „Eine Kamera?“

Tony sah sie misstrauisch an. Aber was sie in Ems Augen las, schien sie zu beruhigen. Denn ihre Schultern entspannten sich und Em fragte sich, ob sie wohl einen Angriff erwartet hatte.

„Sind nur noch zehn Bilder. Hab sie irgendwo gefunden.“

Sie zog sie aus der Tasche und hielt sie Em entgegen. „Willst du sie?“

Ja, irgendwie wollte Em. Es juckte sie in ihren Fingern, die Kamera zu nehmen. Nein: es juckte sie am ganzen Körper. Wenn die Erinnerung vorhin nicht gewesen wäre, dann hätte sie sie auch genommen. Ganz bestimmt sogar. Aber nicht so.

„Nein, lass.“, sagte Em. „Ich war nur neugierig.“, und sie biss sich auf die Unterlippe.

„Wie lange bist du schon auf der Straße?“, fragte Tony während sie die Polaroid wieder verstaute.

„Mein ganzes Leben.“, sagte Em und Tonys Blick wurde wieder misstrauisch. Em lachte: „Und das Leben davor hatte ich ein kleines gemütliches Reihenhaus in der Vorstadt.“

Es dauerte eine Weile, bis Tony entschieden hatte, Ems Humor zu teilen. Und es war das erste Mal, dass Em sie lächeln sah.

„Ich hab vorher in einer WG gelebt.“, erzählte Tony. „Mit ein paar üblen Typen. Mit denen hält niemand es aus, glaub mir.“

„Warum hast du überhaupt dort gelebt?“

„Einer von denen war mein Vater.“, ihr Lächeln wurde eine Spur dünner und an den Mundwinkeln so scharf wie mit Rasierklingen gezogen. „Wenn mein Leben geil gewesen wäre, dann wäre ich nicht unterwegs. Ist bei dir doch bestimmt auch so, oder?“

„Nein.“, sagte Em. Und sie konnte ganz genau spüren, dass die Stimme aus der Vergangenheit jetzt gerade irgendwo in der Nähe hockte und neugierig lauschte. „Mein Leben war geil. Das war es wirklich.“

Tony schnaubte. „Erzähl nichts. Ich kenn doch diesen Blick, den du manchmal hast. Du blickst dich um, als ob du Angst davor hast, von irgendwem erkannt zu werden. So einen Blick hatte ich am Anfang auch, als ich abgehauen bin.“

„Ich bin nicht abgehauen.“, widersprach Em schwach.

„Überall hab ich gedacht, könnten die wieder auftauchen, vor denen ich wegrannte. Und sie würden mich schnappen und verprügeln. Und am schlimmsten: wieder zurückzerren.“ Tonys Blick war starr auf den Boden gerichtet.

„Ich bin wirklich nicht auf der Flucht.“

Sag es ihr Em, erklär es ihr. Erklär ihr, warum du aus der Tür gegangen bist. Erklär es ihr. Erklär es uns allen!

„Also bin ich einfach weiter weg gegangen.“, fuhr Tony fort. „Erst in die nächste Stadt. Und dann in die übernächste. Wenn die Füße einmal laufen, dann laufen sie. Hab seitdem nie wieder angehalten.“

Sie schwiegen eine Weile und dann sagte Tony: „Du musst niemandem erzählen, warum du unterwegs bist. Das machen sowieso die wenigsten. Vielleicht weil sie Angst haben, sie könnten die Leute damit tatsächlich rufen. Sowas wie Aberglaube. Wie die Sache mit Jahweh. Dem Gott, weißt du. Das ist der Name von Gott: Jahweh. Aber die Juden glauben, dass wenn man Gott beim Namen nennt, dass man ihn ruft. Der Name ist magisch, weißt du. Wenn du den Namen aussprichst, nimmst du dir das Recht heraus, diesen Menschen zu kontrollieren. Name ist Macht. Deswegen heißt Rock ja auch Rock, nicht wahr. Den richtigen Namen verrät er garantiert keinem. Deswegen erzählt keiner, wovor er wegrennt. Weil man auf der Straße die Sachen nie beim Namen nennt.“

„Vor allem nicht die Vergangenheit.“, sagte Em.

„Die vor allem nicht.“

„Bist du Jüdin?“, wollte Em wissen.

An Stelle einer Antwort zog Tony den Ärmel am rechten Arm hoch und zeigte Em dort ihre Tätowierungen. Da stand etwas auf Hebräisch in den Blüten einer Rose.

Tony fuhr mit dem Finger die Linien fallender Rosenblätter nach und sagte: „Sogar wenn ich durch das finsterste Tal wandere, fürchte ich nichts. Denn du bist bei mir.“

Eine Weile sagten sie nichts. Em kannte keine wirklich religiösen Menschen mehr. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Außerdem war der Satz gelogen. Tony hatte durchaus Angst über die finstersten Straßen zu gehen.

Wer von ihnen hatte das nicht?

Am nächsten Tag verließ Ben wortlos die kleine Gruppe.

Und Rock starb zwei Tage später in einer Scheune direkt in der Nähe der Grenze.

Tony und Em ließen ihn liegen, legten ihm nur den Hut auf das Gesicht und Em fragte sich, ob sie schon einmal einen Menschen sterben gesehen hatte.

Sie versuchte sich zu erinnern, ob man ihr beigebracht hatte, wie man mit einem Toten umzugehen hatte. Ob man ihn einfach beerdigte, ob man die Polizei verständigte. Oder ob man weiterging. Auf der einen Straße, die an allen Menschen vorbeiführte.

Plötzlich nahm Tony wieder die Polaroid zur Hand. Sie ging wortlos wieder zurück zu Rock und Em sah ihr zu, wie sie sich ungeschickt anstellte, Rock zu fotografieren.

„Warte.“, sagte Em im letzten Moment. „So wird das Bild nichts.“

„Willst du ihn fotografieren?“

Em dachte darüber nach, sah sich um, dann meinte sie: „Wir tragen ihn raus. Legen ihn auf seine Straße. Wir sollten ihn nicht in einer Scheune fotografieren.“

Auf der Straße zu liegen, schien Rock tatsächlich besser zu gefallen. Es sah jetzt wirklicher aus. Aus einem am Straßenrand liegenden Autowrack zog Em ein überraschend weißes Laken. Tony sollte es wie eine Wand an Rocks Seite halten.

„Keine Angst. Du wirst nicht zu sehen sein. Oder das Laken. Es geht nur ums Licht. Das weiße Laken wird hoffentlich ein wenig vom Sonnenuntergang reflektieren. Und dann haben wir keine so harte Schatten.“

„Ich versteh kein Wort.“, gestand Tony. Aber sie hielt wortlos das Laken.

Rocks Hut mit der Kokarde legte Em in seinen angewinkelten Arm.

Der Apparat war erschreckend laut auf der Straße. Er klang so falsch, als ob sich der Kasten in seiner Zeit geirrt hatte.

Du gehörst in ein anderes Leben, dachte sie und starrte dabei auf das sich langsam entwickelnde Polaroid.

Nein, Em, war da die andere Stimme wieder. Du bist es, die in ein anderes Leben gehört.

Aber mach dir nichts draus, Em, ich habe Zeit, bis du erkennst, wo du hingehörst.

Tony stand auf einmal hinter ihr und blickte ihr über die Schulter:

„Behalt ihn.“, sagte sie. „Du hast mehr Ahnung vom Fotografieren und mir wird er da hinten zu schwer.“

Ein dummes Argument. Aber Em packte ihn ein.

Sie zogen endlich weiter. Ohne Rock. Ohne zu reden.

Ohne Worte konnte man genauso gut allein unterwegs sein.

„Zuweilen stirbt einer, der als Führer diente. Man umringt ihn. Man verscharrt ihn im Sande. Man streitet sich. Dann bestellt man einen andern zum Führer und richtet abermals den Kompass auf das gleiche Sternbild. So bewegt sich die Karawane notwendig in eine Richtung, die sie beherrscht; sie gleicht einem Steine, der einen unsichtbaren Hang hinabrollt.“, Antoine de Saint-Exupérys, erstes Kapitel aus „Botschaft in der Wüste“.

 

(Ems Reise wird fortgesetzt)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert