1 – Vor Gericht

Ja, das Geringe und Schlechte, das kann man in Haufen erhalten
Ohne Bemüh’n, schön eben der Weg, ganz nahe, da wohnt es.
Vor die Vollendung jedoch haben Schweiß die unsterblichen Götter
Hingesetzt; steil steigend und lang ist der Pfad, der dorthin führt,
Und voller Steine zuerst; doch hast du die Höhe gewonnen,
wird es leicht, auf ihm weiter zu gehen, so schwierig er anfing.
(Hesiod)

In all dem aufgeregten Lärmen saß Sokrates mit geschlossenen Augen. Die Hände ruhten sanftmütig auf den Oberschenkeln. Die Unterlippe hatte er leicht nach vorne geschoben, aber sonst war in seinem Gesicht keine Spur von Anspannung zu erkennen. Er sah ganz friedlich aus, so ganz anders wie Johann oder Toni, die links und rechts zu seiner Seite saßen. Zwei Reihen hinter ihnen hatten die Zuschauer eine hitzige Auseinandersetzung mit seiner Frau begonnen. Sie hatte entgegen allen Zuredens den Beschimpfungen nicht standgehalten. Stattdessen war sie zu der aufgebrachten Menge herumgewirbelt und hatte es mit wütend funkelnden Augen nicht zugelassen, dass man sie oder ihren Mann beleidigte.

Johann war natürlich entsetzt gewesen, dass sie nicht hatte an sich halten können. In seinen Augen machte ihre hitzige Reaktion die Sache nur schlimmer. Aber Tonis Augen funkelten amüsiert und er hatte Sokrates ins Ohr geflüstert: „Temperament. Herrlich.“

Sokrates hatte darauf aber nicht reagiert. Er war tief versunken und bekam gar nichts von all dem mit, was um ihn herum geschah.

Als Kind hatte er oft seinen Onkel auf dessen Fahrten begleitet. Der große, wuchtige Lastwagen war ihm immer unzerstörbar vorgekommen, ein gewaltiger Koloss, der sich über die Straße hinwegschob, als bewege er sich außerhalb der Gesetze der Zeit. Die Bewegungen seines Onkels waren immer sehr langsam und bedacht. Und das schien dem Jungen ganz natürlich zu sein. So groß und stämmig wie die Onkel war, hätte er mit einer allzu hastigen Bewegung aus Versehen einen Baum aus der Erde stoßen können. Zudem gehörte ihm diese Maschine, dieses monströse Fahrzeug, das sowohl gelassen auf der Straße treiben konnte, als auch eigenwillig der kleinsten Bewegung des Lenkers nachgeben und auf der Straße wie ein wild gewordener Stier davon galoppieren konnte. Nein, es war unbedingt notwendig, dass ein bedächtiger Mann wie sein Onkel diese Maschine kontrollierte. Er würde keinen Fehler machen.

In dem breiten Führerhaus des Lastwagens fühlte Sokrates sich wohl. Es roch angenehm nach süßlich-herbem Eau de Cologne und nach den alten Pfefferminzpastillen, die in einer silbernen Dose im sonst unbenutzten Aschenbecher auf der Fahrt hin und her kullerten und die im Mund wie zusammengepresster Staub schmeckten.

Er kannte jeden Winkel dieser Kabine und er liebte den Blick aus der gewaltigen Fensterscheibe nach draußen auf die Straße.

Auf der Fahrt, sobald die Sonne hinter der Lärmschutzmauer verschwunden war, erzählte sein Onkel mit seiner ruhigen, sonoren Stimme alte, lehrreiche Geschichten, dass sein Neffe sich nicht in der Nacht langweilen sollte. Dabei waren Sokrates Augen sehr gut in der Nacht und er hätte immer noch sehr viel gesehen.

Sein Onkel wusste, dass er kein guter Erzähler war. Er hatte aber diesen Trick, um seinen Neffen zu unterhalten. Anstatt die wahren Namen der Figuren zu verwenden, die in seinen Geschichten die Hauptrollen spielten, wählte er die Namen von Familienmitgliedern. Und so erzählte er von einem jungen Helden, der Sokrates hieß und der gerade daran war, aus dem Kinderalter zum Teenager zu werden. Der Sokrates in dieser Geschichte ging in die Einsamkeit hinaus und stieß auf seiner Wanderung auf einen Weg, der sich nach ein paar Metern teilte. Er setzte sich unschlüssig hin, und dachte darüber nach, welchen Weg er wählen wollte. Als er so eine Weile tief in Gedanken versunken die Weggabelung angestarrt hatte, traten aus einiger Entfernung zwei Frauen auf ihn zu. Die eine war traumhaft schön, mit einem zierlichen Körper und langen, eleganten Beinen, die unter einem fließenden, weißen Kleid heraus ragten. Sie hatte ein kleines, blasses Gesicht. Die Augen blickten ihn nicht direkt an, sondern waren wie beschämt auf den Boden vor ihren Füßen gerichtet.

Die andere Frau war geschminkt, so dass ihr Gesicht ein helleres, röteres Aussehen zu haben schien, als es der Wirklichkeit entsprach. Ihre Haltung war viel steifer und aufrechter. Ihr Kleid war aus einem feinen Stoff, durch den ihr makelloser Körper hindurchschimmerte. In ihrem Gesicht war abzulesen, dass sie sich sehr stark auf sich selbst konzentrierte, auf ihre stolze Haltung, ihre Bewegungen, aber ihre Augen suchten die Umgebung ab, ob jemand sie betrachtete. Oft schaute sie sogar auf ihren eigenen Schatten.

Kaum hatte sie den Jungen an der Weggabelung erkannt, beeilte sie sich, die erste zu sein, die ihn erreichte.

„Du weißt wohl nicht, wie es weiter geht“, säuselte sie, kaum dass sie in Hörweite war. „Wenn du mich zur Freundin machst, werde ich dich den angenehmsten und leichtesten Weg führen. Es gibt nichts Angenehmes, von dem du nicht kosten wirst. Dein ganzes Leben lang wirst du unter keiner Anstrengung leiden. Kein Krieg, keine Armut, kein Hunger, keinen Durst. Aber du wirst dir Gedanken darüber machen müssen, was du als nächstes erleben möchtest. Was willst du sehen, hören, riechen, schmecken? Welches Essen willst du als nächstes kosten, welches Getränk soll dich trunken machen?“

Der junge Sokrates im Führerhaus des Lastkraftwagens lachte und so erzählte der Onkel, dass auch der Sokrates auf der Weggabelung lachte.

„Wie ist dein Name?“, wollte der Sokrates in der Geschichte wissen.

„Meine Freunde nennen mich ‚Glückseligkeit’. Meine Feinde nennen mich ‚Laster’.“

Inzwischen war die zweite Frau hinzugekommen und sagte: „Auch ich komme zu dir. Ich habe deine Eltern schon gekannt, weißt du. Sie haben mich um Rat gefragt, wenn es um deine Erziehung ging. Deshalb hoffe ich, dass ich dir bekannt vorkomme. Ich habe nämlich nicht vor, dich mit schönen Reden zu täuschen oder zu verführen. Stattdessen will ich dir eine oft vergessene Wahrheit sagen: Nichts von dem, was schön und gut ist kann ein Mensch ohne Anstrengung in seinen Besitz bringen. Stell dir vor, du möchtest von deinen Freunden geliebt werden, so musst du zuerst deinen Freunden Gutes tun. Wenn du Ehre erlangen möchtest, so musst du nützlich sein. Wenn du Essen möchtest, so musst du es kaufen. Wenn du Geld haben möchtest, so musst du dafür arbeiten. Wenn du ein bestimmtes Talent haben möchtest, so musst du deinen Körper trainieren. Wenn du aber deinen Körper beherrschen möchtest, so musst du dich daran gewöhnen, dass er der Vernunft dient, und du musst ihn unter Anstrengungen und Schweiß widerstandsfähig machen.“

Die erste Frau lachte spöttisch. „Siehst du!“, rief sie mit selbstbewusster lauter Stimme. „Ein harter und ein einfacher Weg. Da fällt die Entscheidung nicht schwer oder?“

Auch der junge Sokrates im Führerhaus kicherte. Er fragte: „Wie heißt diese Frau?“

„Sie heißt ‚Tugend’.“, erklärte der Onkel ruhig.

„Du erzählst die Geschichte ganz falsch.“, lachte Sokrates weiter. „Ich weiß ja jetzt schon, wie sich der Sokrates in deiner Geschichte entscheiden wird. Das ist alles viel zu offensichtlich.“

„Ach ja?“, fragte der Onkel. Er grummelte leise vor sich hin, vielleicht weil der Lastwagen, der vor ihnen fuhr, seinen Lastwagen ausbremste. Schwerfällig setzten sie zum Überholen an und erst als die Bahn wieder frei war, fragte der Onkel: „Wie hast du das gemeint, zu offensichtlich?“

„Du hättest genausogut sagen können, ein richtiger und ein falscher Weg. Natürlich gehe ich den richtigen Weg.“

„Der richtige Weg.“, brummte der Onkel. Und jetzt dauerte es eine Weile bis er weiter sprach. „Kannst du dir vorstellen, dass es gar nicht darum geht, welchen Weg der Sokrates in meiner Geschichte wählt?“

„Um was geht es denn sonst?“

„Es geht darum, was die Tugend jetzt antworten wird. Wie kann sie den Sokrates überzeugen?“

„Er ist es schon längst.“, kicherte Sokrates. „Er folgt der Tugend.“

„Und warum?“

„Weil es der richtige Weg ist.“, beharrte der Junge und war sehr überrascht, dass sein Onkel jetzt sehr heftig mit dem Kopf schüttelte.

„Aber warum?“, fragte er wieder. „Warum ist er richtig? Das ist nämlich nicht egal. Sonst würden so viele nicht den falschen Weg gehen. Und du wirst auch oft noch darüber nachdenken. Ganz ehrlich. Ich denke ja auch immer wieder drüber nach.

‚Jetzt nenn’ mir aber mal ein Vergnügen, für das nichts getan werden muss!’, forderte die Tugend das Laster auf. Und das konnte sie nicht. ‚Nenn mir einen Hunger den du hattest! Du isst ja schon, bevor du den Hunger spürst, du trinkst, ehe du durstig bist. Du schläfst nicht, um dich zu erholen, sondern weil es dich langweilt.’

Weißt du, was man sagt? Man sagt, die Jungen, die ihr folgen, sind schwach, die Alten dumm.

Die Jungen, die der Tugend folgen, werden von den Alten geschätzt; die Alten, die der Tugend folgen, werden von den Jungen geehrt.“

Der Sokrates im Führerhaus gähnte und sagte dann: „Also gut.“

In diesem Augenblick stieß Toni seinen Freund an und Sokrates blinzelte. Es war in dem Gerichtsaal leise geworden. Alle Männer und Frauen waren aufgestanden und hielten die Luft an. Der Richter hatte den Saal betreten. Seine Augen blitzten boshaft in Sokrates Richtung.

„Steh auf!“, raunte Johann ihm zu. Sokrates nickte, gab ein leises Seufzen von sich und stand auf. Er sah, umringt von so vielen Menschen, die auf ihn starrten, klein und verletzbar aus. Sein kahl gewordener Kopf glänzte im Neonlicht des Gerichtsaals.

„Mein Gott.“, flüsterte Johann immer wieder und seine geflüsterte Stimme bebte vor Panik.

Der Richter verlas die Eröffnungsrede, dann sah er auf und fragte proforma, bei wem auf der Anklagebank es sich um Sokrates handele.

Sokrates meldete sich und sogleich entbrannte erneut die Wut im Publikum. Es wurde gepfiffen und gegrölt. Sie beschimpften ihn und riefen dem Richter zu, wie der sich zu entscheiden habe. Während der Richter mit hochrotem Kopf mit seinem Hammer um Ruhe bemüht war, flüsterte Johann: „Mein Gott, sieh nur, sie hassen dich.“

„Sie hassen mich nicht.“, antwortete Sokrates ruhig. Seine Augen waren zwei tiefe, unergründliche Höhlen. „Sie fürchten sich.“

„Dieses undankbare Pack.“, fluchte Toni in sich hinein.[1]

[1] Xenophon: Erinnerungen an Sokrates; Erstes Buch.

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