Die Moralisten habens uns schon oft gesagt,
und werdens noch oft genug sagen,
daß es nur ein einziges bewährtes Mittel gegen die Liebe gebe,
und dieses ist, sagen sie, so bald man sich getroffen fühlt,
so schnell davon zu lauffen als nur immer möglich ist.
Dieses Mittel ist ohne Zweiffel vortrefflich;
wir bedauren nur, dass es diesen weisen Männern nicht auch gefallen hat,
das Geheimniß zu entdecken, wie man es dem Patienten beibringen solle.
Denn man will bemerkt haben, dass ein Liebhaber natürlicher Weise,
eben so wenig fähig sey vor dem Gegenstande seiner Leidenschaft davon zu lauffen,
als ob er an Händen und Füssen gebunden
oder an allen Nerven gelähmt wäre; (…)
(Wieland: Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva; S.272)
„Wein, immerzu Wein!“, säuselte Thomas Wallander. Inzwischen war an der großen Tafel das Licht gedämpft worden. Kerzen waren überall im Zimmer angezündet worden, und der Rothaarige hatte eine Rede auf ihren Gastgeber gehalten. Er hatte mitgeteilt, wie stolz es ihn mache, zu Wallanders engstem Freundeskreis zu gehören, dass es nichts besseres gäbe, als seine Filme – außer seinen Wein natürlich – und bestand darauf, dass jedes Glas erklingen sollte.
„Nun denn, wie werden wir jetzt am behaglichsten Trinken? Ich wage als erstes das Geständnis, dass mir das gestrige Trinken noch immer den Schädel drehen lässt und mein Magen einiger Erholgung bedarf. Und wenn mich meine Erinnerung nicht trübt, dann waren die meisten von euch auch nicht gerade halbherzig dabei, das Zimmer wie ein Schiff zum Wanken zu bringen. Ich hoffe also, es fällt euch nicht schwer, eine Entscheidung zu treffen, wie wir so bequem als möglich trinken können.“
Ein junger Nachwuchsregisseur, den Sokrates nur flüchtig kannte, setzte schwungvoll das Glas auf den Tisch zurück und verkündete mit heiterem Ausdruck: „Das ist das erste Mal, dass ich jemanden dafür einstehen sehe, weniger zu trinken. Dieser Mut muss belohnt werden. So wie wir gestern zusammen die Flaschen geleert haben, können wir auch heute gemeinsam die Flaschen geschlossen halten. Ich folge deinem Vorbild: ich gehöre auch zu denen, die gestern zu stark benetzt worden sind.“
„Vielleicht sollten wir unseren Gastgeber nach seinen Absichten für den heutigen Abend fragen.“, wagte ein anderer den Vorschlag.
Thomas Wallander nickte bedächtig: „Als ob ich nach diesen Tagen noch bei Kräften sein könnte.
Ein stämmiger Mann mit grob geformter, schwarzer Brille, der ein milchig gelbes Hemd trug, dessen obersten Knöpfe geöffnet waren und eine kahle, blasse Brust erkennen ließen, lachte und umarmte dabei Wallander und den Nachwuchsregisseur bei den Schultern:
„Das wäre ja ein herrlicher Fund! Für uns, und ich meine mich und Philip Dannen“, er zwinkerte dem Gast zu, der zwischen Ollivander und dem Rothaarigen saß. „wenn ihr, die stärkeren Trinker es jetzt aufgebt; denn wir sind immer Schwächlinge darin. Den Sokrates nehme ich aus, der ist auf beides eingerichtet, so dass es ihm gleichgültig sein kann, wie wir es heute Abend machen. Da es mir also scheint, dass keiner von den Anwesenden große Lust hat, viel Wein zu trinken: so wird es vielleicht weniger übel aufgenommen werden, wenn ich aufrichtig sage, was es eigentlich auf sich hat mit dem Berauschtsein!“
„Mein Gott!“, stöhnte der Rothaarige. „Wieviel hat der gute Doktor denn heute schon getrunken.“
„Lass mich ausreden, Bursche!“, befahl der Doktor mit kräftiger Stimme. „Ich wollte ohnehin nur sagen, dass der Rausch den Leuten nicht gut kommt. Ich möchte weder selbst gern zu weit gehen im Trinken, noch einen Andern dazu bereden, zumal, wer noch schwer ist vom Vortag.“
Sokrates fiel bei diesen Ausführungen der französische Akzent auf, der sich schwach in die Aussprache mischte.
„Ich habe ja schon immer auf meinen Arzt gehört.“, sagte der als Philip Dannen angesprochene. „Und nun fügt es sich, dass wir alle seinem Urteilsspruch folgen.“
„Trinken wir also nicht um berauscht zu werden …“, begann der Arzt und der Rothaarige beendete:
„Sondern zum Vergnügen.“
Die Gläser wurden wieder gehoben, geleert, gefüllt. Der Arzt stand unruhig auf und begann durch das Zimmer zu gehen.
„Heute also auch keine Lieder!“, bellte der Arzt und seine Augen durchbohrten den Nachwuchsregisseur. „Heute nur intelligente Reden. Denn es genügt nicht, dass ein Weiser die Natur und die Wahrheit erforscht; er muss auch den Mut haben, sie auszusprechen zugunsten der kleinen Zahl derer, die denken wollen und können. Denn was die anderen betrifft, die freiwillig Sklaven der Vorurteile sind – ihnen wird es ebenso nicht gelingen, die Wahrheit zu erreichen, als den Fröschen zu fliegen.“[1]
„Er hat einen Vorschlag, der Gute.“, säuselte der Angestarrte.
„Hat er!“, sagte der Arzt. „Meinem Auge ist es nicht entgangen, dass eure Filme – verehrte Regisseure, ich verneige mein kahl werdendes Haupt – schon seit Jahren die ganze Klaviatur der Gefühle bespielen.“
„Notier dir das, Thomas, ‚Klaviatur der Gefühle’, das sollten die Helden deiner Filme in Zukunft in jedem zweiten Satz sagen!“
„Sei gefälligst ruhig, Stephan!“, schnauzte der Arzt den Nachwuchsregisseur an. „Gleich darfst du so viel reden, wie du willst. Von dir will ich auf jeden Fall die Antwort auf meine Fragen wissen. Alle Gefühle sind euch so besonders wichtig. Ihr zeigt den Hass, konzentriert euch auf Elend, Untergang, Zorn, …“
„Eifersucht!“, half der Rothaarige.
„Ja, wegen mir.“, murmelte der Arzt, dann wedelte er mit der Hand wild durch die Luft. „Aber was ist … mit der Liebe?“
Alle Künstler am Tisch verdrehten die Augen, stöhnten und seufzten übertrieben und Stephan stand sogar auf und brüllte: „Wenn das dein Thema ist, sollten wir lieber trinken, da hätten wir einen kontrollierbaren Rausch.“
„Was ist mit Liebe?“, wiederholte der Arzt noch einmal. „Ich meine, wir haben hier wundervoll kluge Köpfe versammelt. Schöngeister und Wortmeister. Ich meine, ein jeder von uns soll rechtsum eine Lobrede auf den Eros vortragen so schön er nur immer kann, und mein verehrter Philip soll zuerst anfangen, da er ja auch den ersten Platz am Tisch einnimmt und überdies der Urheber der ganzen Sache ist.“
„Er spielt auf meine Filmkritik an.“, erklärte Philip und reichte unwillig dem Gastgeber ein paar Bögen Papier. „Jetzt ist die Katze ja aus dem Sack. Ich hab nicht nur gutes über dein Stück zu sagen.“
Thomas Wallander riss dem Kritiker förmlich das Papier aus den Händen, legte es dann aber unter seinen Teller, mit dem Kommentar, er werde das nachher lesen, sonst müsse er seinen Freund jetzt schon nach Hause bitten.
Die anderen lachten über diese Scherze, aber Philip Dannen sah nicht glücklich aus. Er hatte fortan gerötete Wangen und griff nun doch wieder etwas häufiger zu dem trockenen Rotwein.
Sokrates pflichtete in dem Gelächter hastig dem Doktor bei: „Niemand wird dagegenstimmen.“, rief er. „Denn weder ich darf mich weigern, auch wenn ich gestehe, von Liebessachen nichts zu verstehen, noch unser Hausherr oder Stephan, der, soweit ich mich erinnere, in seinen Filmen auch schonmal das Wort ‚Liebe’ verwendet hat und erst Recht nicht einer von all den übrigen, wie ich ihnen in den Gesichtern ablese. Herr Dannen, wenn sie beginnen möchten?“
Die anderen stimmten hastig zu, klopften Philip Dannen auf die Schulter und schoben den verschämten in die Mitte des Zimmers, von wo sie den Arzt packten um ihn zurück auf den Stuhl zu ziehen. Der Redende stand nun, angestarrt von allen Augen, in der Mitte des Zimmers und zierte sich zunächst ein wenig. Denn immerhin war er Kritiker und kein Redner.
„Egal wo wir hinschauen, egal, was wir lesen: die Liebe gilt immer als das älteste und wertvollste Gefühl der Menschheit. Für mich ist die Liebe so wertvoll, weil es der Urheber von allem ist, was als gut gilt.
Wir lernen von unserer Familie und unseren Freunden für unser Leben, was uns leiten soll. Aber erst von unserem Liebhaber … oder unserer Liebhaberin“, er errötete noch stärker, „lernen wir, was uns den Reichtum an sinnlichen Erfahrungen bescheren kann. Was meine ich hiermit?!“, er rang nach Worten. „Die Scham vor dem schändlichen und das Bestreben nach dem Schönen! Denn ohne das vermag weder ein Staat noch ein Einzelner große und schöne Taten zu verrichten. Ich behaupte nämlich, dass einem Mann, welcher liebt, wenn er dabei erwischt wird, dass er etwas schändliches tut oder aus Unmännlichkeit ohne Gegenwehr von einem anderen schändliches aushält, weder seinem Vater, noch seinen Freunden und Bekannten so viel Schmerz verursachen würde als seinem Liebling. Und das selbe gilt für die Liebhaber, dass sie sich vor allem vor ihren Geliebten schämen und vor deren Urteil fürchten.“, er senkte den Kopf und lächelte. „Wenn ein Staat und sein Volk einander lieben würden, dann würde man nicht erleben, dass der eine den anderen betrügt. Für einander sterben, das würden auch nur Liebende für einander tun. Liebe, das ist die Bereitschaft sich dem anderen zu opfern. Liebe und Opfer sind zwei Seiten einer Medallie. Wer liebt, der ist zu allen Opfern bereit. Er ist fähig sogar sich selbst zu opfern, nur im Gedanken an seinen Geliebten. Deshalb ist der Liebende auch der Wertvollere. Ich will fast sagen: Der Liebende ist die Liebe selbst. Aber nicht immer, nein, er verschmilzt mit dem, was wir unter Liebe verstehen, im Augenblick seines Opfers. In diesem Augenblick ist der Mensch vollkommen, er ist rein, er ist sublim.“, das letzte Wort unterstrich er mit einer feinen Handbewegung, wobei Zeigefinger und Mittelfinger so den Daumen berührten, als hielten sie einen hauchdünnen Faden. Die Handbewegung ging in eine Verbeugung über, die mit eifrigen Beifall der Gäste belohnt wurde. Am eifrigsten aber applaudierte der Arzt, der seinen Redner sofort in die Arme nahm, ihm links und rechts die Wangen mit Küssen bedeckte und ihm beim Hinsetzen die Schweißperlen mit einem Papiertuch abtupfte.
Nur der Rothaarige hatte nicht applaudiert. Denn er war jetzt an der Reihe. Stand ohne es abzuwarten, dass sein Vorredner wieder saß, auf und stellte sich breitbeinig in die Mitte des Zimmers. Dort ahmte er die letzte Bewegung nach und tat so, als nehme er den Faden des Vorgängers an passender Stelle auf.
„Nicht sehr gut, mein Freund Dannen.“, begann er als er die Aufmerksamkeit erhielt. „Stellt sich hierhin und tut, als ob es nur eine einzige Art der Liebe gäbe. Wenn es nur eine Liebe gäbe, wäre das recht schön. Es gibt mehr als eine Art zu lieben, und wenn wir hier über Liebe reden, so müssen wir erst einmal klären, über welche Liebe wir uns unterhalten und welche wir in den höchsten Tönen loben.
Es ist doch mit jeder Handlung so: an und für sich ist jede Handlung weder schön noch hässlich. Schauen wir doch mal, was wir gerade tun. Wir reden, wir trinken, wir feiern, wir halten Reden. Davon ist nichts an und für sich schön, sondern wie wir es verrichten, so wird es verwerflich oder vorzüglich. Rede ich schön, ist das Reden eine angenehme Sache. Sobald ich aber unrecht rede, wird alles an der Rede hässlich, und es wird würdig, dass man sich wünscht, es wäre nie gesprochen.
So auch das Lieben: nicht jeder Mensch ist schön und wert, dass man ihn verherrlicht. Nur der, welcher uns zum Lieben den Anreiz gibt, den lieben wir auf eine schöne Art.
Nennen wir die andere Art des Liebens, die gemeine Art. Sie entsteht, wo wir den Anreiz im Offensichtlichen finden. Es kann ja sein, dass uns der Körper bereits genügt, in uns die Lust entfacht und wir am allerliebsten darüber herfallen möchten. Ist das eine schöne Liebe? Hör auf zu nicken, Wallander, du machst meine schöne Argumentation zunichte! Du wirst es noch bereuen. Sag die Wahrheit: würdest du einen Film rein über das Begehren und Verlangen der Körper drehen?“
„Es tut mir leid, Boris“, sagte Wallander mit gezuckerter Stimme. „Wir drehen keine Pornos.“
„Danke, dass du es beim Namen nennst.“, der Rothaarige verbeugte sich. „Wir reden tatsächlich über nichts anderes als Sex. Es verhält sich nun aber, glaube ich, folgendermaßen: Es ist nicht einerlei in allen Fällen, nicht schlechthin, das sagte ich aber bereits, dass es an und für sich weder schön noch schändlich sei, sondern schön behandelt ist es schön, anders aber schändlich. Schändlich nämlich ist es einem Schlechten auf schlechte Art gefällig zu werden; schön aber einem Guten und auf schöne Art. Und schlecht ist eben jener Liebhaber, der den Leib mehr liebt als die Seele; wie er auch nicht einmal beständig ist, da er ja keinen beständigen Gegenstand liebt. Mit der entfliehenden Blüte des Leibes, den er liebte, verschwindet auch er und flattert davon, viele Reden und Versprechungen zur Schande machend.
Der Liebhaber eines Gemütes aber, welches gut ist, bleibt zeitlebens, denn mit dem Bleibenden hat er sich verschmolzen. Deshalb sind diese Liebhaber auch lange Zeit die Unglücklichsten. Ewig auf der Suche nach dem für sie Vollkommenen Gemüt. Stets prüfend, bis er dem Einen gefällig ist, den Anderen meidet. Diese Liebe ermuntert den Liebhaber zum Jäger zu werden, den Geliebten aber zum Fliehen, indem sie einen Kampf anstellt und eine Prüfung, zu welchen von beiden wohl der Liebhaber gehöre und zu welchen der Geliebte. Wer sich dann aber zu schnell fangen lässt, gerät schon direkt in Verruf. Durch Reichtum oder Gewalt kann man durchaus gewonnen werden, aber wie wertlos ist diese Art der Erwiderung einer Liebe? Mag nun einer unter übler Begegnung sich beugen, oder wenn man ihm zu Reichtum und zu seinen Absichten im Staat verhilft, dies nicht verschmähen. Davon ist garantiert nichts sicher und beständig. Es kann ja noch nicht einmal eine wahre Freundschaft aus diesem Druck entstehen.
Es gibt also nur einen einzigen Weg, wie es schön sein kann, dass ein Liebling seinem Liebhaber gefällig wird: freiwillig und ehrlich.“
Der Rothaarige, der als Boris angesprochen worden war, applaudierte sich selbst, ließ sich selbstgefällig in seinen Stuhl fallen und nahm einen kräftigen Schluck Wasser, um die rauh gewordene Stimme wieder zu besänftigen.
Normalerweise wäre jetzt der junge Nachwuchsregisseur an der Reihe gewesen. Doch hatten Boris Worte, und etwas, das zwischendurch immer wieder aus seinen Blicken auf ihn eingetroffen war, eine auffällige Farbänderung im Gesicht des Regisseurs hervorgerufen. Auch als die anderen „Stephan, nun komm!“ riefen, seinen Namen skandierten und dabei Mut klatschten, blieb dieser unbewegt sitzen. Er redete sich mit einer leichten Verstimmung heraus. „Ich habe mich überfressen.“, sagte er zur Entschuldigung. Und seine Augen waren so finster und abgründig wie die schwärzeste Nacht. „Lassen wir dem Arzt den Vorrang.“, es war keine Bitte, es war ein striktes Befehlen. „Seine Worte können ja heilend auf meine Verstimmung wirken.“
Der wälzte im Aufstehen brummend ein paar Worte im Mund hin und her, dann stand er, genau wie vorhin, Mitten im Zimmer, blickte sich mit hervorquellenden Augen um und dann rollte seine Stimme los:
„Ich heiße Doktor Julien Rouge, und es scheint mir notwendig, der Rede meines Vorgängers einen besseren Schluss anzuhängen. Denn der hat gefehlt.“, tadelnd blickten alle den Rothaarigen an.
„Ja“, gestand der. „Ich habe durchaus ohne Ende geredet.“
„Nun gut, es gibt also zwei Arten der Liebe. Eine schöne und eine hässliche. Er hat aber nur über die Seele gesprochen. Und darin hat er uns das gute und schlechte Lieben vorgestellt. Was ist aber mit dem Körper, frage ich als Mediziner? Ich behaupte: auch was den Körper angeht, gibt es das gute und das schlechte Lieben. Denn das gibt es überall in der ganzen Natur. Was ist denn diese Liebe, über die wir da geredet haben? Es ist das Verlangen in uns, die Leere, die wir zu empfinden glauben, aufzufüllen. Denn die Leere erinnert uns an den Mangel. Und sie mit dem Passenden aufzufüllen, das nennen wir Harmonie. Wenn wir krank sind, sagen wir dann nicht auch: dem Körper fehlt etwas? Es mangelt an etwas? Und sagen wir nicht, wenn wir einsam sind: das macht uns ganz krank?
Der Mensch ist eine Maschine. Er ist derart zusammengesetzt, dass es unmöglich ist, sich anfangs von ihr eine klare Vorstellung zu machen und folglich sie genau zu bestimmen. Deswegen sind alle Untersuchungen, die die größten Philosophen a priori gemacht haben, indem sie sich sozusagen gewissermaßen der Schwingen des Geistes bedienen wollten, vergeblich gewesen. So ist es nur a posteriori möglich, oder indem man gleichsam im Durchgang durch die Organe die Seele zu entwirren sucht, ich sage nicht, mit letzter Eindeutigkeit die Natur selbst des Menschen zu entdecken, aber den größten Wahrscheinlichkeitsgrad dies betreffend zu erreichen.“[2], er nahm tief Luft; ein Atemzug, der in ein kehliges Husten zerbrach. Man reichte ihm hastig ein Glas Wein, das er trank, als wäre es Wasser. Dann setzte er fort:
„Wir halten uns für rechtschaffene Menschen und sind es doch nur, solange wir heiter und beherzt sind; alles hängt davon ab, wie unsere Maschine zusammengesetzt ist. […] Zu welchen Ausschweifungen kann uns ein grausamer Hunger treiben! Keine Achtung mehr vor den Eingeweiden derer, denen man sein Leben verdankt oder denen man es gegeben hat; man zerreißt sie gierig, man bereitet sich daraus abscheuliche Festmahle; und in der Raserei, von der man hingerissen wird, ist der Schwächere immer die Beute des Stärkeren.[3]
Du hast das Unbeständige angesprochen?
Man braucht nur Augen, um den unvermeidlichen Einfluß des Alters auf die Vernunft zu sehen. Die Seele folgt den Fortschritten des Körpers wie denen der Erziehung. Beim schönen Geschlecht folgt die Seele noch der Feinheit des Temperaments: von daher diese Zärtlichkeit, diese Zuneigung, diese lebhaften Gefühle, die eher in der Leidenschaft gegründet sind als in der Vernunft; diese Vorurteile, diese abergläubischen Vorstellungen – ihre starke Prägung lässt sich kaum verwischen, etc. Der Mann dagegen, dessen Gehirn und Nerven an der Festigkeit aller soliden Körper teil haben, hat sowohl einen ausgeprägten Geist wie Gesichtszüge.[4]
Ich täusche mich sicher nicht; der menschliche Körper ist ein Uhrwerk, aber gewaltig und mit so viel Kunstgriff und Geschicklichkeit konstruiert, dass, sollte das Sekundenrat zum Stillstand kommen, das Minutenrad sich gleichbleibend weiterdreht, so wie das Viertelstundenrad und schließlich andere sich weiterbewegen, wenn die ersteren – verrostet oder durch irgendeine andere Ursache gestört – ihren Gang unterbrochen haben.[5]
Das klingt hart. Nun, wer weiß übrigens, ob der Sinn der Existenz des Menschen nicht in seiner Existenz selbst liegt? Vielleicht ist er aufs Geratewohl auf einen Punkt der Erdoberfläche geworfen worden, ohne dass man wissen kann, wie und warum; sondern nur, dass er leben und sterben muss, jenen Pilzen ähnlich, die von einem Tag zum andern erscheinen, oder jenen Blumen, die die Gräber begrenzen und das Gemäuer bedecken.[6]
Unsere Maschine weiß genau, was gut für sie ist. Sie riecht welcher Genpool perfekt zum eigenen passt, die eigenen Mängel in der folgenden Generation mit großer Wahrscheinlichkeit ausgleichen wird. Unsere Maschine strebt nach Harmonie. Sie strebt danach, dass es zu einer Weiterentwicklung kommt. Warum die Maschine nun aber einen Eindruck einer Seele hervorruft, eine Illusion eines selbstbestimmten Wesens? Warum die Maschine sogenannte Gefühle anhäuft?
Der Eindruck, dass wir die Urheber unserer Handlungen sind, erlaubt es uns, die eigenen Handlungen von denen anderer Personen zu unterscheiden. Das ist grundlegend für unser gesamtes soziales Leben und dabei spielt es zunächst einmal überhaupt keine Rolle, ob unser Eindruck berechtigt ist, oder auf Illusion beruht.[7]
Ich unterscheide hier zwischen ‚Wirklichkeit’ und ‚Realität’. Wir erkennen Wirklichkeiten, die das Gehirn konstruiert, aber die Realität, die unabhängig vom Gehirn existiert, ist uns unzugänglich.
Das, worüber wir hier reden, die Liebe, gehört in den Bereich der Wirklichkeit. Real existiert nur Fleisch, die Maschinerie Natur. In der Liebe inzwischen nehmen wir doch diese Unterscheidung wahr. Wir sagen: ich kann nicht anders, es ist liebe. Sagen wir nicht so? Und damit beziehen wir uns doch strikt auf die Realität. Aber wir nennen es ein Gefühl. Und wir reden von Fatima und von Entscheidung, von Wahl und von Suche, von Jagd und von Flucht. Was geschieht, wenn wir der Natur widerstehen? Wenn wir der Illusion folgen und uns ‚gegen die Natur entscheiden’? Für einen Moment fühlen wir uns frei, aber der Mangel in der Maschine fordert seinen Tribut. Ist es nicht so? Wir werden krank.
Vielleicht“, so fügte er mit einem Räuspern hinzu, „habe ich zu wenig über die Liebe selbst gesagt, das tut mir leid. Ich war so in Fahrt und niemand hat mich gebremst. Was ich ausgelassen hab, kann ja mein verehrter Freund hier nachholen. Jetzt gibt es keine Ausflüchte mehr. Die Bühne gehört dir.“
Der Arzt setzte sich und machte Stephan Platz.
[1] Julien Offray de la Mettrie: l’homme machine; S.21.
[2] Julien Offray de la Mettrie: l’homme machine; S. 27.
[3] Julien Offray de la Mattrie: l’homme machine; S. 37.
[4] Julien Offray de la Mettrie: l’homme machine; S. 39.
[5] Julien Offray de la Mettrie: l’homme machine; S. 121.
[6] Julien Offray de la Mettrie: l’homme machine; S. 86, S. 87.
[7] Interview mit Bettina Walde: C. Geyer: Hirnforschung und Willensfreiheit; S. 152.