11 – In der Zwischen-Zeit

Ein Scharlatan hatte einmal behauptet, er könne die Natur eines Menschen von dessen Äußeren ablesen. Bei Sokrates diagnostizierte er an der Kehle eine fehlende Einbuchtung zwischen den Schlüsselbeinen. Und weil die besagte Stelle versperrt und versteift sei, müsse man zweifelsohne rückschließen, sei auch der Sokrates versperrt für das Wissen und versteift auf seine Dummheit. Mit stolz erhobenem Kopf formulierte er am Ende seiner Diagnose: „Und was diese Augen angeht . . . ein liderlicher Weiberheld ist er auch noch. Hinter jeder Frau sei er her.“ Pia Silbermann, die dies mitangehört hatte, brach in ein schallendes Gelächter aus.

Sokrates dagegen, von dem man erwartete, er würde sich aufregen, nickte bedächtig und stimmte dem Scharlatan zu. So sei er tatsächlich, bestätigte er. Nur seine Vernunft hindere ihn daran, dass diese Eigenschaften auch zu Tage treten.

„Du bist dumm. Unvernünftig, starrköpfig und dumm.“, sagte Johann. „Warum nimmst du dir keinen Anwalt? Warum verteidigst du dich selbst?“

„Ich hab mein ganzes Leben mit Reden verbracht. Für etwas muss es doch gut gewesen sein.“

„Lass ihn in Ruhe.“, es war Kay, der sich der kleinen Gruppe auf dem Flur genähert hatte. Er war nicht allein, sondern hatte einen kleinen, hageren Mann im Schlepptau, den er knapp als Simon, einen „Fan“ vorstellte.

„Wir haben Sokrates bereits finanzielle Unterstützung angeboten, aber er hat sie ausgeschlagen.“, erklärte Kay.

„Finanzielle Unterstützung?“, hagte Johann nach. „Für einen Anwalt.“

„Auch.“, brummte Sokrates.

„Es gibt Mittel und Wege, ihn außer Landes zu bringen.“

„So ein Unfug.“, brauste Sokrates auf.

„Wir werden nach der Verhandlung wieder darüber reden, wenn der Schuldspruch gefallen ist.“, flüsterte Kay und seine Stirn lag tief in Sorgenfalten gegraben.

Und Sokrates wiederholte wieder: „So ein Unfug. Ihr könnt reden, so viel ihr wollt.“

„Störrisch wie ein Esel.“, Johann zuckte mit den Schultern.

Sokrates drehte sich ohne ein weiteres Wort ab und kehrte in den Anhörungssaal des Gerichts zurück.

Kurze Zeit später öffneten sich jene Türen erneut und eine kleine Gruppe Protestanten kam hervor, sie trugen ein Banner mit sich, worauf Sokrates beschimpft wurde.

„Ich verstehe es einfach nicht.“, gestand Kay leise. „Weshalb diese Hetzjagd gegen einen Mann. Antidemokratisch soll er sein und ein Verderber der Jugend. Ich bitte dich, das ist doch alles Unsinn.“

„Es ist eine Hetzjagd, stimmt.“, Johann nickte. „Der Grund wurde eben doch sogar vorgelesen. Pia Silbermann hat es ganz richtig erkannt: Der Krieg destabilisiert den Menschen. Das letzte, was man gewollt hat, war ein Sokrates.“

„Aber warum? Was hat er getan?“

„Er hat so eine Art an sich, mit der man nicht in die Öffentlichkeit treten darf, wenn die Zeit dafür nicht reif ist. Habt ihr damals die Interviews von ihm gesehen? Er hat viele Menschen vor den Kopf gestoßen. Es war nicht immer einfach, aus ihm schlau zu werden. Man missversteht gern seine Absicht, wenn man nur oberflächlich zuschaut. Die Journalisten, allen voran unsere Pia Silbermann, haben sich auf seine Worte gestürzt wie die Hyänen. Es gab beinahe mehr Sendezeit über ihn als mit ihm. Obwohl er nicht ein einziges Wort veröffentlicht hat – in geschriebener Form, meine ich – hat er es über Nacht zu einem Starruhm gebracht, sowohl im intellektuellen als auch im Pöbelfernsehen.“

„Wir waren viel im Ausland unterwegs“, entschuldigte Kay sich und seinen Freund. „Aber ich würde mir die Interviews gern mal ansehen. Sind die noch irgendwo erhältlich?“

„Ich kenne jemanden, der alle aufgezeichnet hat.“, Johann durchsuchte seine Taschen und fand einen Notizzettel und einen Stift. Dann notierte er ihnen eine Adresse.

„Das ist etwas abgelegen. Es ist nicht so einfach zu finden, fürchte ich.“

Kay las die Adresse durch. Es war eine Straße in Charlottenburg, eine Adresse, die man sogar zu Fuß erreichen konnte. Mit einem Blick auf die Uhr sagte er: „Na, das lohnt sich doch.“

„Tu mir den Gefallen und richte dem Professor einen schönen Gruß aus.“

 

 

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