12 – Wirkung

 

Das Wesen aller Wesen ist nur eine magische Geburt aus einem Einigen unendlich.
(Jakob Böhme: Mysterium Magnum 10,39)

 

Stephan spazierte durch den Raum.

„Das ist es?“, fragte er. „Hingeworfen in die Welt? Herrlich. Und die Liebe? Ein ganz einfacher Teil im großen Spiel der Natur. Der einzelne Mensch ist sterblich. Die Menschheit dagegen …“, er brach ab. „Dann schauen wir uns doch einmal die menschliche Natur und deren Begegnisse genauer an. Einen recht vernünftigen Plan hat mein Vorredner da eingeschlagen. Da müssen wir folgen. Du wolltest einen Film über die Liebe, der dem Wesen der Liebe gerecht wird. Dann lass uns darin doch gleich drei Geschlechter und nicht einfach nur zwei, ein maskulines und ein feminines, annehmen. Die Maskulinen stammen von der Sonne ab, die Femininen von der Erde. Die Androgynen aber, unser drittes Geschlecht in unserem Film, stammt vom Mond. Sie sind zusammengesetzt aus dem männlichen und dem weiblichen Teil. Die ganze Gestalt eines jeden Menschen ist rund, so dass Rücken und Brust im Kreis herumgehen. Und sie haben vier Hände und vier Schenkel, zwei Gesichter auf einem kreisrunden Hals, beide einander genau ähnlich, auf einem gemeinschaftlich genutzten Kopf. Vier Ohren und zwei Schamteile, kurzum: alles übrige wie ihr es euch denken könnt. Dieses dritte Geschlecht geht nicht aufrecht wie die anderen beiden, und er geht auch nicht stur in eine Richtung. Sondern er schlägt Räder, auf seine acht Gliedmaßen gestützt, immerzu sich im Kreis drehend. An Kraft und Stärke waren sie gewaltig und hatten auch große Gedanken. So groß waren die Gedanken, dass sie Türme zu bauen wagten, die bis zu den Grenzen des Universums reichten, sie waren schnell, mächtig und ihre Taten waren gewaltig.

Ich weiß, keiner von euch glaubt ernsthaft an einen Gott, aber in unserem Film wird es einen geben. Und dieser Gott wird euch zunächst einmal sympathisch sein. Denn er ist klein und fürchtet sich vor dem, was diese Kugelmenschen ausrichten können. Er weiß, dass sie zu ihm vorstoßen werden, und dass sie ihn mit einem Fingerschnippen vernichten können. Weil er sie aber geschöpft hat, und er seine Schöpfung liebt, er will keinen Fehler eingestehen, was auch immer, sieht er sich dazu gezwungen, die Kugelmenschen in der Mitte zu halbieren. Er zerschneidet die Kugelmenschen in zwei Hälften, wie wenn man Früchte zerschneidet um sie einzumachen. Sobald er aber einen zerschnitten hatte, dreht er ihnen sogar die Köpfe zur Schnittstelle hin, damit sie immer ihren Schnitt vor Augen haben. Er dreht ihnen das Gesicht herum, zieht ihnen die Haut von allen Seiten über das, was wir jetzt Bauch nennen – als würde er einen Beutel zusammenziehen, fasst er es in eine Mündung zusammen – und er bindet sie mitten auf dem Bauch ab, was wir Bauchnabel nennen. Die übrigen Runzeln glättet er meistensteils aus und fügt die Brust einpassend zusammen, mit so einem Werkzeug, womit die Schuster über dem Leisten die Falten aus dem Läder ausglätten, ihr wisst, was ich meine.

Die getrennten Kugelmenschen beginnen nun, sich nach ihrer anderen Hälfte zu sehnen, sie begeben sich auf die Suche und finden einander. Sie umfassen sich mit beiden Armen und schlingen sich in einander, und über dem Begehren wachsen sie wieder für einen Augenblick zusammen. Aber sie lassen sich nicht mehr los, weil das Begehren so groß ist, und so verhungern viele vor unseren Augen. Wer das Pech hat, übrig zu bleiben, begab sich sofort wieder auf die Suche nach einem anderen Partner, hauptsache, man war nicht mehr allein.

Und Gott hat erbarmen und er nimmt die getrennten Kugelmenschen ein zweites Mal in die Hand und dreht ihnen in seiner Werkstatt die Schamteile vom Rücken nach vorne zur Trennstelle. Jetzt können die Wesen ihre Erzeugung in einander vollführen.

So ist die Liebe dem Menschen, wie wir ihn kennen angeboren, als das Bedürfnis, die ursprüngliche Vollkommenheit wieder herzustellen. Es ist der Versuch, aus Zwei wieder Eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen, oder – wie hast du es genannt, Doc? – einen Mangel auszugleichen.“

Stephan setzte sich und lehnte sich zufrieden zurück.

„Eine ganz andere Rede als meine.“, sagte Rouge.

„Ach?“, Stephan tat erstaunt.

„Du solltest deinen Film drehen.“, meinte Thomas Wallander. „Wer weiß, du kannst bei den nächsten Festspielen mir meinen Rang abtragen.“

„Wer es weiß? Ich weiß es.“, höhnte Stephan. „Mein Film wird ein großes Vergessen, wenn nicht der Doktor seine Vorrede hält. Aber sie muss Wort für Wort sein, mein Freund. Du bist zeitlos und meine Bilder können dich unsterblich machen.“

Der Arzt konnte diesen Spott nicht mehr ertragen, weshalb er den Augenblick nutzte, Sokrates und Wallander anzusprechen:

„Wenn jetzt nicht Sokrates und Wallander an der Reihe wären, hätte ich Angst, dass der Abend schon vorüber ist. Die beiden Großmeister der Liebe werden uns ganz sicher nicht enttäuschen, die bisherigen Ausführungen noch zu überbieten.“

Sokrates räusperte sich und legte Wallander die Hand auf die Schulter:

„Wenn du an meine Stelle sitzen würdest, hättest du die selbe Angst wie ich. Wallander ist mein Vorredner, das setzt mich in die größte Not, deinem Anspruch die Vorrede zu überbieten gerecht zu werden.

„Du willst mich verzaubern, Sokrates!“, tadelte Wallander. „Ich soll keinen klaren Kopf bekommen. Deine Komplimente machen mich zwar verlegen, aber ich kann frei sprechen. Dir wird bestimmt eine Meisterleistung gelingen.“

„Ich kenne deine Filme, mein Freund.“, sagte Sokrates. „Du hast den Geist der Liebe begriffen, gleich was die anderen sagen, steckt in deinen Filmen sehr viel vom besagten Thema.“

Philip Dannen mischte sich ein, weil er der Gefahr entgehen wollte, das Gespräch würde die schöne Reden unterlaufen. Und so ließ sich der Gastgeber zur ‚Bühne’ bringen, er verbeugte sich – Stephan rief: „Und Action!“ und der geehrte Regisseur begann zu sprechen:

„Ich will zuerst einmal sagen, wie ich zu reden gedenke und alsdann reden. Denn alle, welche bis jetzt gesprochen haben, schienen mir nicht die Liebe zu loben sondern den Menschen, der liebt. Ich versuche daher die andere Strategie. Hört her:

Wenn ich euch richtig verstanden habe, dann sagt ihr

Liebe ist wie Sauerstoff / bekommst du zuviel davon, wirst du berauscht / nicht genug davon, und du stirbst / die Liebe berauscht dich.[1]

Ist es nicht schwer, über die Liebe zu reden, ohne über den Liebenden?

Gehen wir doch davon aus, es gäbe eine personifizierte Liebe, einen Gott, der nur aus Liebe besteht. Er

hofft auf das Beste aber erwartet das Schlimmste.

Und wir fragen ihn:

– Wirst du die Bombe fallen lassen, oder nicht? / Lass uns jung sterben oder lass uns für immer leben / wir haben die Macht nicht / würden aber niemals nie sagen. /

Sitzend im Sandkasten / Das Leben ist nur ein kurzer Ausflug / Die Musik ist für die traurigen Menschen.

Für immer jung / Ich will für immer jung sein / willst du auf ewig leben? Für immer und ewig und ewig jung?[2]

Er ist der Jüngste, der Zarteste, der Geschmeidigste. Alles an ihm ist pure Harmonie. Sein Gesicht entzückt. Er ist die Reinheit in Person.

Und sein Inneres? Ein Muster von Tugendhaftigkeit. Er beleidigt nicht, er kennt keine Gewalt, denn wo er ist, weckt er die Freiwilligkeit in uns, ihm zu folgen. Und er ist besonnen und er ist gerecht. Ja, er ist besonnen. Denn man nennt denjenigen besonnen, der die Lust und die Begierde unter seiner Gewalt hat. Und keine Lust ist stärker als die Liebe.

Er wandelt nicht auf der Erde oder auf Hirnschädeln, sondern auf dem weichsten unter allen wandelt er und bewohnt es. Nämlich in den Gemütern und Seelen der Menschen schlägt er seinen Wohnsitz auf, und auch nicht der Reihe nach ohne Ausnahme in allen Seelen, sondern begegnet er einer von harter Gesinnung, bei der geht er vorüber, die aber eine weiche hat, bei der zieht er ein.

Denn in einem blütenlosen oder abgeblühten Leib oder Seele oder was es sonst ist, setzt sich Eros nicht, wo aber ein blumiger und duftiger Ort ist, da setzt er sich und bleibt.

Ist er auch weise?“, bei dieser Frage hatte er einen besonderen Blick für Sokrates übrig. „Dazu braucht man sich ja nur all die Werke anzuschauen, die aus Liebe entstanden sind. All die Liebesgedichte, die Filme, die Lieder, die wir alle so vorzüglich finden, je authentischer und intensiver sie sich ihren Themen annähern.

Und nun ist letztlich sie es, unsere personifizierte Liebe, die bewirkt, dass wir so werden wie sie.

Liebe hebt uns hinauf, wohin wir gehören / wo die Adler schreien/ zu der Berge Höhen / Liebe hebt uns hinauf, wohin wir gehören / weit fort von der bekannten Welt / Hinauf, wo der reinste Wind weht.[3]

So wie die Liebe ist, so werden wir. Sie leiht uns ihre Gaben:

Mildheit vergibt sie, Wildheit zerstreut sie, begründet das Wohlwollen, günstig den Guten, verehrt von den Weisen.

Möge Gott dich segnen und bewahren / Mögen all deine Wünsche wahr werden. / Mögest du immer für andere da sein / und die anderen für dich / Mögest du eine Leiter zu den Sternen bauen / und auf jede Sprosse steigen / Mögest du für immer jung bleiben. Für immer jung.[4]

 

Die Zuhörer applaudierten am Ende und Sokrates, der nun an der Reihe war, versuchte sich aus der Situation zu ziehen. Der Arzt beugte sich nun aber weit vor und sagte: „Du hast vorausgesagt, dass Wallander seine Sache vortrefflich machen würde, und du hast recht gehabt. Aber dass du jetzt sprachlos bist, kannst du mir nicht glaubhaft machen.“

„Wie sollte ich nicht sprachlos sein?“, fragte Sokrates zurück. „Ihr habt doch selbst mit jedem Redner, der hier auftrat mehr Beifall zum Besten gegeben. Die Auftritte waren formvollendet, es waren Meisterleistungen, mein Kompliment, Thomas, du hast von den Besten gelernt, Hut ab. Es war wirklich lächerlich, dass ich zu Beginn des Spiels meine Zustimmung gegeben habe, auch nur ein Wort über die Liebe zu verlieren. Ich habe gesagt, dass ich mich auskenne, wenn es um die Liebessachen geht, mich aber von Anfang an davor gefürchtet, über die Liebe zu reden. Ich dachte nämlich in meiner Einfalt, man müsse die Wahrheit sagen in jedem Stück von dem zu preisenden. Dies also muss man vor sich haben, und das schönste davon auswählend, müsse man auf das schicklichste die Wahrheit zusammenstellen. Das war aber wohl nicht dir richtige Weise. Sondern darin besteht sie, dass man der Sache nur so viel und so viel schönes beilegt als möglich, möge es sich nun so verhalten oder nicht.

Und ist es auch falsch: so ist nichts daran gelegen. Denn es war wohl vorher festgesetzt, wie es scheint, jede soll den Anschein geben, man rede über das Wesen der Liebe.

Das alles war mir nicht vertraut, deshalb mein voreiliges Zustimmen, ich könne mich in die Reihe eingliedern und auch mein Scherflein dazu beitragen.

Nach eurer Weise halte ich also keine Lobrede, aber ich kann, wenn euch dies genügt, meine Rede über die Wahrheit vorstellen. Ehe ich aber die Rede beginne, müsst ihr mir erlauben, dass ich noch die ein oder andere Nachfrage an meinen Vorredner stelle.“

„Du hast die Liebe personifiziert?“

„Ich fand es ganz angemessen, mein Freund.“

„Ich stelle mir die Liebe in deiner Rede vor, wie ein Jemand, der durch die Straßen unserer Stadt gehen kann.“

„Ja, ist das nicht ein schöner Gedanke?“

„Ich erinnere mich, dass du einen Bruder hast. Sage mir: kann ein Mensch ein Bruder sein, ohne einen Bruder zu haben?“

„Natürlich nicht.“

„Das bedeutet, ein Bruder ist immer die Beschreibung eines Verhältnisses zweier Menschen. Ich bin der Bruder von einem. Oder aber: ich bin ein Bruder für einen. Ein Bruder ist nicht denkbar ohne ein anderen, auf den es sich bezieht. Gilt das selbe auch für die Liebe? Kann man lieben ohne in einem Verhältnis zu einem anderen zu stehen?“

„Du meinst, ob ich lieben kann, ohne dass da jemand ist, den ich liebe?“

„Ist die Liebe von nichts oder von etwas?“

„Von etwas.“, gestand Thomas und sah amüsiert dabei zu, wie Sokrates vom Tisch aufstand und zur Mitte des Zimmers ging, sich dort aber nicht, wie die Vorredner aufstellte, sondern er nahm sich einen höheren Hocker und er setzte sich in die Mitte des Zimmers. Das war ein Erscheinungsbild, das ihn wie einen Bluessänger aussehen ließ.

Ihm fehle nur noch die Gitarre, flüsterte Philip Dannen dem Arzt zu.

„Ob die Liebe wohl hat, was sie begehrt und liebt, oder ob sie es wohl nicht hat?“

„Kann man denn etwas begehren, was man nicht hat?“, fragte Boris und Thomas Wallander musste es zugeben: „Sie hat wohl nicht, was sie begehrt.“

„Wünscht jemand, der groß ist, groß zu sein?“, murmelte Sokrates vor sich hin. „Wünscht jemand, der stark ist, stark zu sein?“

„Nein.“

„Denn, der es schon ist, braucht es nicht mehr zu begehren.“, nickte Sokrates.

„Aber ich kann es doch trotzdem.“, widersprach Philip. „Ich kann reich sein und sagen: ‚Ich begehre den Reichtum, den ich besitze!’ Ich jedenfalls höre oft solche Worte zwischen den Zeilen raus.“

„Wenn einer sagt, ich, der ich gesund bin, will gesund sein, und ich, der ich reich bin, will reich sein, und begehre also das, was ich habe: so würden wir ihm sagen: Nämlich du, der du Reichtum besitzt und Gesundheit und Stärke, willst ebendies auch in der folgenden Zeit besitzen. Denn in der jetzt gegenwärtigen Zeit, magst du es wollen oder nicht, hast du es doch bereits. Du hast dich unklar ausgedrückt, würden sie ihm sagen. Sag es auf folgende Art: Ich will, dass das jetzt Vorhandene mir auch in Zukunft vorhanden sei.“

Er erntete Zustimmung.

„Also auch dies heißt dasjenige lieben, was noch nicht bereit ist und man nicht hat.“

„Durchaus.“

„Liebe ist Liebe zu etwas und zwar zu dem, was man braucht und nicht hat. Thomas, du hast gesagt, die Liebe lässt sich nicht nieder, wo es nicht schön ist. Hast du damit gemeint, zum Hässlichen gäbe es keine Liebe?“

„Ja.“

„Das war wunderschön gesprochen. Und wenn sich dies so verhält, wäre dann die Liebe nicht Liebe zur Schönheit, zur Hässlichkeit aber nicht?“

Wallander spürte, wohin es lief und er klatschte Beifall.

„Wenn es aber stimmt, dass die Liebe auf das gerichtet ist, was sie nicht hat, kann die Liebe nicht schön sein. Und nun weiter: eine Sache, die zweifelsohne schön ist, das ist das Gute. Wenn nun das Gute schön ist und die Liebe das schöne begehrt, dann begehrt er auch alles Gute!“

„Ich weiß dir nicht zu widersprechen, es soll wohl so sein, wie du sagst.“

Sokrates spürte, wie sich die Stimmung der Männer am Tisch auf merkwürdige Art gedreht hatte. Für einen kurzen Augenblick war er verwirrt. Er hatte in einem Spiel seinen Zug gemacht, war es nicht so? Die ganze Rede war ein Spiel. Thomas Wallanders Reaktionen waren etwas übertrieben und richteten die Aufmerksamkeit auf die Augenpaare der anderen. Man sah ihn misstrauisch an, mochte die Arroganz nicht, mit der er aufgetreten war. Sie würden es Selbstgefälligkeit nennen, dachte Sokrates.

„Ich war“, setzte Sokrates von daher an, „meine Güte, wie alt mochte ich gewesen sein? Siebzehn? Achtzehn? Jedenfalls war ich verliebt, in eine wundervolle Frau. Und ich hatte nicht den Mut dazu, sie einfach anzusprechen. Man kennt dieses Leiden, nicht wahr? Diese Liebe aus der Ferne. Um es vorweg zu nehmen: sie war verheiratet, wenn auch totunglücklich. Und in der ersten Zeit, wagte ich es nicht, sie anzusprechen. Ich nahm aber eine Stelle bei ihr zu Hause an, um in ihrer Nähe sein zu können. Zugleich hatte ich aber das Gefühl, dass ich mich immer weiter von ihr entfernte.

Sie war eine sehr intelligente Frau, meine Freunde. Ihre Name war Diotim. Ich wollte sie damals beeindrucken. Und wie mein Freund Wallander es vorhin schilderte, man glaubt zu einem Dichter zu werden. Ich schrieb ihr fabelhafte Zeilen und es fanden sich darin ähnliche Gedanken, wie jene, die du uns vorhin vorgetragen hast. Und ihre Antwort war ähnlich dem, mit was ich dich gerade gequält habe. Ich bedrängte sie also: ‚Das kann nicht dein Ernst sein! Die Liebe ist doch nicht hässlich und schlecht!’

‚Glaubst du etwa, was nicht schön ist, sei notwendigerweise hässlich?’

‚Allerdings!’, stammelte ich verlegen.

‚Und was nicht weise ist, ist dann wohl töricht.’, spottete sie. ‚Ist dir noch nie aufgegangen, dass es mehr gibt als schwarz und weiß? Dass es eine Mitte gibt zwischen Weisheit und Dummheit?’

‚Und was wäre das?’

‚Stell dir vor, du würdest eine Rede halten. Und jedes Wort davon sei wahr. Aber du könntest die Worte nicht belegen. Du hättest keine Beweise dafür, keine Argumentation. Das ist doch kein Wissen, denn wie könnte etwas Grundloses eine Erkenntnis sein? Wenn du in einem stockfinsteren Keller sitzt, und auf einmal sagst du: gleich klopft es an die Tür; vollkommen grundlos, du hast einfach geraten. So wird es nicht dadurch zu einem Wissen, wenn es zufällig gerade wirklich an die Tür klopft. Aber Unwissenheit war es auch nicht, denn dein Satz enthielt doch die Wahrheit. Es muss also etwas dazwischen sein.’

‚Richtig.’

‚Folgere also nicht, was nicht schön ist, sei hässlich. Und auch nicht: Was nicht gut ist, ist schlecht, so wie du es gerade über die Liebe getan hast.’

‚Aber es wird doch von allen eingesehen, dass die Liebe etwas großartiges ist.’

‚Von allen Nichtwissenden, meinst du. Oder etwa auch von den Wissenden?’

‚Von allen!’

Da lachte sie und sagte: ‚Großartig würdest du doch nur das nennen, was schön ist und gut, oder?’

‚Ja.’

‚Aber gerade hast du noch eingestanden, dass die Liebe weder schön noch gut ist. Wie kann sie da großartig sein?’

‚Weil die einzig wahre Liebe unvergänglich ist und ewig besteht.’

‚So wie ein Gott?’

‚Nein, nicht wie ein Gott …’

‚Dann gibt es also etwas anderes, wie ein Gott, was ewig besteht. Soso.’

‚Willst du sagen, die Liebe sei sterblich?’

‚Du machst immer noch den selben Fehler, Sokrates. Es ist etwas dazwischen. Auch zwischen der Ewigkeit und der Sterblichkeit gibt es noch etwas.’

‚Zwischen was soll die Liebe denn noch sein?’

‚Genau genommen ist die Liebe die Mitte zwischen dem Erwerb und der Armut.’, sprach sie. ‚Die Liebe ist immer arm, und beiweitem nicht fein und schön, wie die meisten glauben. Sie ist rauh, unansehnlich, obdachlos, immer umherliegend. Sie lauert vor den Türen und auf den Straßen im Freien. Sie stellt dem Guten und Schönen nach, ist tapfer, keck und rüstig, eine gewaltige Jägerin, allzeit Ränke schmiedend, nach Einsicht strebend, sinnreich, das ganze Leben lang philosophierend, Zauberin, Giftmischerin und Wortverdreherin. An einem Tag kann sie blühen und sie gedeiht, so lange es ihr gut geht und sie auf die richtige Art gepflegt wird. Aber sie stirbt schnell, wenn auch nur eine Kleinigkeit schief geht. Es gibt mehr Mittel und Wege sie zu Töten, als sie am Leben zu erhalten. Aber einmal tot, bleibt sie nicht in diesem Zustand. Sie kann jederzeit wieder auferstehen. Was sie sich aber selbst schafft, das behält sie nicht. Deshalb meine ich, steht sie in der Mitte zwischen Unverstand und Wissen, zwischen Leben und Tod, zwischen arm und reich. Wer aber nicht weise ist, sondern stets auf dem Weg dorthin, den nennt man einen Philosophen. Der Unwissende dagegen, er ist dazu in der Lage, ohne, dass er schön und gut und vernünftig ist, sich selbst ganz genug zu sein. Wer nun nicht glaubt, dass ihm etwas fehlt, der sucht auch nicht danach, und der begehrt es nicht.’

‚Aber wer sind dann die Philosophen?’, hakte ich nach. ‚Wenn es weder die Dummen noch die Weisen sind?’

‚Die Weisheit’, erklärte sie. ‚gehört auf dieser Welt zu dem Guten. Und das Gute ist immer schön. Der Philosoph liebt die Weisheit und er wird eins mit der Liebe, sobald er begriffen hat, dass er sich immer nur auf dem Weg befinden kann, sein Leben lang der Begehrende sein kann und nie der Besitzende.’

‚Wenn das alles stimmt’, fuhr ich auf. ‚Welchen Nutzen hat das alles denn für den Menschen?’

‚Das wäre, als würde ich dich fragen, weshalb die Liebe immer das Schöne begehrt. Was hat die Liebe vom Schönen, Sokrates? Oder, ich will es einfacher formulieren: Wenn jemand das Schöne begehrt, was genau begehrt der?’

‚Er begehrt, dass es ein Teil von ihm sein wird.’, antwortete ich und man ahnt, was in mir vorging, während ich dies zu ihr sprach.

‚Diese Antwort verlangt nach einer weiteren Frage: Was geschieht mit jenem, dem das Schöne zuteil wird?’

Ich musste zugeben, dass ich darauf nicht sofort eine Antwort parrat habe.

‚Nun gut, dann nimm zunächst an, man habe das Gute begehrt und frage dich, wer das Gute begehrt, was begehrt der?’

‚Das es ihm zum Teil wird.’, wiederholte ich mit brennender Brust.

‚Und was geschieht jenem, dem das Gute zu Teil wird?’

‚Das ist leichter: Er wird glücklich.’

‚Ja, damit würde sich keine weitere Frage mehr anschließen. Denn wir nennen die Menschen glücklich, die im Besitz des Guten sind. Und glücklich will jeder sein, nicht wahr? Es ist unnötig zu fragen: weshalb will jemand glücklich sein wollen. Das klingt lächerlich. Dieser Wille nun und diese Liebe, glaubst du, dass sie alle Menschen gemeinsam sind? Und glaubst du, dass alle Menschen immer nur das Gute wollen?’

‚Selbstverständlich.’

‚Warum aber’, fragte sie. ‚Warum aber sagen wir nicht, dass alle lieben, wenn doch alle das selbe lieben und das immer?’

‚Naja, das …’, ich stammelte herum, wusste nichts zu antworten.

‚Das ist doch ganz einfach.’, schalt sie mich liebevoll. ‚Wir nehmen nur einen bestimmten Teil des Liebens heraus und bennen diesen mit dem Namen, den wir auch für das Ganze haben. Liebe, so nennen wir allgemein jedes Begehren des Guten. Nun kann ein Gutes aber Gesundheit sein. Und das Begehren zur Gesundheit nennen wir nicht Liebe. Ein anderes Gut kann die Weisheit sein, welche wir begehren. Und auch hier reden wir im Einzelfall nicht über die Liebe. Wer aber einen anderen Menschen begehrt, diesem Begehren geben wir wieder den Namen, des Ganzen.’, sie machte eine längere Pause, in der ich es nicht wagte, die Stille zu unterbrechen. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, ihr nahe zu sein.

‚Können wir also sagen, dass die Menschen das Gute lieben?’, fragte sie.

‚Ja.’

‚Wie?’, ihre Stirn fiel in dünne Falten. ‚Müssen wir das nicht besser formulieren: Die Menschen lieben es, das Gute zu haben?’

‚Doch.’

‚Und nicht nur, es zu haben, sondern auch es immer zu haben?’

‚Das müssen wir ergänzen.’

‚So geht denn, alles zusammengenommen, die Liebe darauf, dass man selbst das Gute immer haben will.’

‚Vollkommen richtig erklärt.’, sagte ich.

‚Wenn nun die Liebe immer dies ist, auf welche Art und in welcher Handlungsweise gehen ihm nun diejenigen nach, deren Betrieb und Anstrengung nun eigentlich Liebe zu nennen ist?’

‚Ich verstehe nicht?’, gestand ich.

‚Es ist eine Ausgeburt in dem Schönen, sowohl in dem Leib als auch der Seele nach. Ich sehe, ich muss deutlicher reden: Alle Menschen, Sokrates, sind fruchtbar sowohl körperlich, als auch seelisch. Und wenn sie zu einem gewissen Alter gelangt sind, so strebt unsere Natur zu erzeugen. Erzeugen kann sie im Hässlichen nicht, nur im Schönen.

In dem sterblichen Lebenden ist etwas unsterbliches: die Empfängnis. Wenn das zur Zeugung Bereite sich dem Schönen nähert, wird es von dem Schönen beruhigt und von Freude durchströmt und erzeugt und befruchtet. Wenn aber häßliches dem Bereiten wiederfährt, so zieht es sich finster und traurig in sich zusammen und wendet sich ab und schrumpft und erzeugt nicht, sondern trägt mit Beschwerde die Bürde weiter. Darum wächst der Eifer in dem, der vom Schönen angeregt wird. Darum strömen die Hormone durch deinen Leib und die Lust steigt um so viel, als du das Begehrte für schön empfindest. Die Liebe, Sokrates, ist also nicht auf Schönheit ausgerichtet.’

‚Worauf sonst?’

‚Auf Zeugung und Fortpflanzung.’

‚Wieso?’

‚Weil eben die Erzeugung das Ewige ist und das Unsterbliche wie es im Sterblichen sein kann. Nach der Unsterblichkeit aber zu streben mit dem Guten ist notwendig nach all dem, was wir zu Beginn gesagt haben. Notwendig ist die Liebe nicht Liebe zum Schönen, sondern es ist auch die Liebe zur Unsterblichkeit.’

Der Grund der Liebe“, sagte Sokrates nach einem kurzen Augenblick, in dem er aus den Augen seiner Zuhörer abzulesen versuchte, was man über ihn dachte. „Sterbliches verlang nach Unsterblichkeit.“

Sokrates hätte weiter reden können. Es gab über körperliches und seelisches Begehren noch viel zu sagen, und darüber, dass das Verlangen des Menschen nach Unsterblichkeit sich darin äußert, dass ihm unentwegt nach Ehre und Ruhm dürstet. Aber auch darüber war zu reden, dass die höchste Betätigung der Liebe, die wahre Glückseligkeit und die wahrhaftigste Unsterblichkeit in der Schau des Ewigschönen bestand. Das Ewigschöne, alle Enden von Sokrates Gedankenketten waren auf es ausgerichtet, niemand der Anwesenden ahnte, wie sehr sich Sokrates nach diesem Ewigschönen verzehrte. Gerade fehlten ihm einmal die Worte, um es gebührend anzusprechen. Und in genau diesem Augenblick wurde er auch unterbrochen. Es wurde an das Fenster geklopft, man konnte den Lärm draußen hören, laute Musik und Stimmengewirr.

Thomas Wallander sprang auf, klatschte in die Hände und während er an Sokrates vorbei in Richtung Haustür rauschte, an der es eben zu läuten begann, rief er: „Gäste! Wo es Freunde sind, nötigen wir sie herein, was meint ihr?“

Kurze Zeit später erstarrte Sokrates. Denn es war Pia Silbermanns raue, betrunkene Stimme. Und sie rief seinen Namen.

[1] Sweet: Love is like oxygen

[2] Alphaville: Forever Young

[3] Will Jennings: Up where we belong

[4] Bob Dylan: Forever Young

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