15. Kalendertürchen: Mc Dreamys Augenringe verschwanden, als meine Beatmungsmaschine nicht mehr funktionierte
Als meine Beatmungsmaschine nicht mehr funktionierte, war die Welt auf einmal ganz verschwommen. Wie ein schlechter Drogentrip. Mein Arzt wird wohl nachher meinen Text hier durchgehen und an den Rand schreiben: „Nicht die Beatmungsmaschine ist kaputt, sondern dein Körper. Alles Biologie. Auf Technik kann man sich nämlich verlassen. Selbst, wenn sie scheitert.“
Würde er nicht so verdammt gut aussehen, wär er ein Arschloch.
Und das gute Aussehen ist natürlich zeitabhängig: Als ich ihn am Montag kennenlernte, war er der Hipsterarzt, mit Vollbart, strengem Blick, klaren, kalten Worten und eiskalten Händen.
Mittwochs sah er schon aus wie ein Bär, der seit drei Jahren den Winterschlaf verweigerte. Am Freitag war auch sein Verhalten abstoßend geworden. Und er stank nach einer achtundvierzig stündigen Herzop. So sagte er selbst. Außerdem sei er angepisst.
„Warum? Was ist passiert?“, fragte ich.
„Angepisst“, antwortete er. Und dann zeigte er auf einen krustigen Fleck in seinem Rücken.
Ich soll nicht weiter fragen.
Fürs Antworten habe er eh keine Zeit. Dann lacht er, weil er sich hübsch machen muss, er muss nachher noch auf die Kinderstation.
Bei diesem Gespräch fiel mir auf, dass er plötzlich schöner wird. Die Falten glätten sich, er beginnt zu leuchten: Die grauen Haare im Vollbart sind seit zwei Tagen hier auf der Intensiv von einer Maske verdeckt, aber auf der Maske entsteht jetzt ein halbrundes Regenbogenmuster. Und ich sage: „Wow“ und er sagt: „Sauerstoffsättigung“, was nicht wirklich romantisch ist. Ich halte seine Hand. Er fühlt meinen Puls.
„Ist das nicht eigentlich der Job der Schwester?“
„Gefeuert“, sagt er lakonisch.
„Welche?“
„Gute Frage“, meint er und statt mir zu erzählen, warum man in dieser Zeit eine Schwester feuert, erzählt er mir, dass er auch im Privatleben Probleme mit Namen und Gesichtern hat. Dass die Kittel bei ihm irgendwie bewirken, dass alle anonym werden. Das sei wie mit Uniformen. Auch bei Patienten. Da gibt es nur Fälle und keine Namen. Er wisse auch gerade gar nicht, wer ich sei. Und dann sagt er, dass wenn ich richtig darüber nachdenken würde, mich das beruhigen würde. Er schnippst ein paar Mal gegen den Tropf. Aber natürlich, ergänzt er, natürlich kategorisiert er.
Da gibt es die Oberschwestern, die immer alles besser wussten und einfach Ahnung und Routine hätten. Dann die esoterischen, die am liebsten die Medikamente gegen homöopathische Zuckerkugeln und die Ringerlösung gegen Licht austauschen würden. Dann die Alleinerziehenden. Das sind die, die zu sozial wären für einen Job als Friseuse. Die brauchen Menschen und Action.
Ich unterbreche ihn und sage, dass es etwas fies sei, was er da sagte.
Er stimmt mir zu.
„Zeigen sie mir mal einen Arzt, der nicht etwas fies ist“, meint er. Dann lacht er bitter. „In einer Welt, in der Pflegekräfte mit Applaus bezahlt werden, ist fies sein das neue Richtig-so.“
„Warum wurde die Schwester gefeuert?“
„Auch wegen Applaus“, sagt er. „Sie hat ein Bild von einem leeren Bett der Intensiv gepostet und wiederholt behauptet, wir wären hier nicht ausgelastet. Und dass sie mehr Geld bekäme, wenn sie lügen würde, hier gäbe es Patienten. Aber dass sie mehr Ehre im Leib habe. Solche Sachen.“
Der Mann im Nachbarbett hustet und Mc Dreamy wirft einen Blick dort rüber.
„Niemand kann in die Köpfe anderer reinschauen. Nicht mal wir Ärzte“, fährt er fort. „Aber es ist schon auffällig, dass es eine Schwester war, die auch an andere Verschwörungen geglaubt hat. Dass Medizin ein Geschäft ist, streitet ja keiner ab. Dass dafür aber die gesamte Pharmaindustrie einhellig den teuflischen Plan verfolgt, die Menschheit zu vergiften, indem man Gifte in Zahnpasta mischt, ist doch wirklich absurd.“
„Sie leuchten“, sage ich und zeichne mit meinem Finger den leuchtenden Kranz nach, der um seinen Körper wabert. Hastig zieht er eine kleine Taschenlampe aus der Brusttasche, streckt mir die Augenlider und blendet mich. Jetzt läutet er doch nach Unterstützung.
„Wer einmal angefangen hat, an so einen Unfug zu glauben, der wird süchtig nach noch mehr Unfug. Immer nur skeptisch sein und skeptisch und skeptisch“, er verdreht die Augen, dann wirft er das Klemmbrett auf das Fußende meines Bettes und fragt mich zum ersten Mal seit langem, wie es mir geht.
„Beschissen. Ich krieg kaum Luft.“
„Das liegt am Blut“, erklärt er mir sachlich. „Nicht an den Lungen. Das Blut ist verdickt und kann den benötigten Sauerstoff nicht transportieren. Die Lungen sind voll davon, arbeiten auf Hochtouren. Aber wenn die Lungen nicht entlastet werden, drohen die auch irgendwann kaputt zu gehen. So einfach ist das. Der Körper ist wie eine gut abgestimmte Maschine. Jedes Teil muss sich auf das andere verlassen können.“
Wir sehen uns bedeutungsvoll an.
„Aber sie hat doch auch hier gearbeitet. Hat doch auch gesehen, wie es hier ist…“
Er nickt, zuckt mit den Schultern. Er wartet, bis ich die Augen wieder offen habe.
Dass der Typ im Nachbarbett wieder wild hustet und Mc Dreamy trotzdem noch bei mir bleibt, gibt mir Hoffnung. Ich lächle ihn an. Aber was die Menschen denken und fühlen, kann man unter diesen Umständen nicht mehr erkennen. Ich hab immer gedacht, die Augen wären der Spiegel der Seele. Aber wenn man dann doch nur die Augen sieht, dann fehlt mir irgendwie das Werkzeug, diesen Spiegel zu lesen.
„Ich glaub, da stirbt gerade jemand“, flüstere ich und nicke mit dem Kopf in die Richtung Nachbarbett.
„Und?“
„Sollte nicht jemand bei ihm sein?“
Der Arzt nickte.
„Wir haben nicht genug Leute, um den Lebenden beim Überleben zu helfen. Wir sollten wenigstens Zeit haben, beim Sterben da zu sein.“
„Ist das ihre Philosophie?“, frage ich. „Klingt irgendwie unmenschlich. Vor allem, wenn Sie hier sitzen bleiben.“
„Finden Sie?“, fragt er.
„Wussten Sie, dass ich Sie Mc Dreamy genannt habe?“, frage ich auf einmal ganz offen.
„Aus dieser Arztserie“, sagt er. „Die Realität ist deutlich dreckiger.“
Ich nicke. Das hab ich inzwischen auch begriffen.
„Aber so eine Serie ist irgendwie glaubwürdiger“, meine ich. Und das bringt ihn jetzt endlich zum Lachen.
„Weil die Serien einem immer alles so einfach machen. Die erklären einem noch nebenbei die Welt. Und dann weiß man, dass es einen umwerfend guten Arzt gibt, der die Welt retten wird und es Opfer gibt, die man bringen muss, um die Welt zu retten.“
„Die Welt ist nicht zu retten“, sagt er. „Man kann immer nur Menschen retten. Aber nie die Welt.“
„Sie haben ja doch eine menschliche Philosophie“, sage ich und diesmal fällt es mir deutlich schwerer, die Augen wieder zu öffnen. Es dauert eine Weile, dann seh ich, dass McDreamy irgendwie den ganzen Raum dunkel gemacht hat. Alle Lampen sind aus. Nur er ist am Strahlen. Rund herum ist alles schwarz. Wie in einem Tunnel.
„Das ist jetzt normal“, hör ich ihn sagen.
Und dann spüre ich, dass er noch nach meiner Hand greift und mich festhält.
Ich höre, wie jemand fragt, ob noch ein Bett frei ist.
„Gleich!“, höre ich ihn sagen. Und er klingt wieder so unwirsch, arrogant und kalt, wie ich es von ihm gewohnt bin.
Ich hab schon immer auf Arroganz gestanden.
Arrogante Menschen haben immer etwas mehr den Durchblick als andere, find ich. Man sollte den arroganten Menschen mehr vertrauen als denen, die immer nur lächeln.
„Es gibt keine einfachen Antworten“, will ich ihm recht geben. Dann macht er das Licht endgültig aus.