„Was wohl euch, liebe Zuhörer, meine Ankläger angetan haben, weiß ich nicht. Ich für meinen Teil aber hätte ja selbst beinahe über all die Reden, die wir gehört haben, mich selbst vergessen; so überzeugend haben sie gesprochen. Und doch, Wahres, dass ich es beim Namen nenne, haben sie nicht gesagt. Am meisten aber habe ich Eins von ihnen bewundert unter dem Vielen, was sie gelogen haben. Sie haben gesagt, Ihr müsstet euch hüten, dass ihr nicht von mir getäuscht werdet, weil ich ja so gewaltig bin im Reden. Es ist wirklich unverschämt, dass sie sich nicht dafür schämen, weil doch meine jetzt kommende Taten ihre Worte sogleich widerlegen. Nichts lässt sich doch einfacher aufzeigen, als diese große Lüge! Es sei denn natürlich, sie haben im Vergleich mit sich selbst gesprochen, denn, wenn sie dies so meinen, möchte ich mich sehr gern dazu bekennen, ein großer Redner zu sein, der sich nicht mit ihnen vergleichen lässt. Diese nämlich, wie ich behaupte, haben gar nichts Wahres geredet; von mir sollt ihr aber die einzig wahre Wahrheit kennenlernen.
Aber eine Sache vorweg: ich werde nicht mit schön verzierten Worten reden, ich werde keine Gefälligkeiten von mir geben. Meine Worte werden nüchtern und schlicht sein und abstoßend und hässlich, denn sie sind direkt, unmittelbar … und echt. Ich bin siebzig Jahre alt, zum ersten Mal vor Gericht. Ich verteidige mich selbst. Man verzeihe mir, wenn ich nicht die übliche Redeweise hier vor Gericht gewohnt bin. Ich verteidige mich nach der Art, wie ich zu reden gewohnt bin.
Die Anklage lautet, ich habe furchtbare Dinge gelehrt, gepredigt, was auch immer. Und all die furchtbaren Dinge haben uns nur allzubekannte Menschen gegen die Regierung aufgebracht. Die Demokratie sei kurze Zeit ins Wanken geraten und alles, weil ein einfacher Mann aufstand und … ja nun, was habe ich denn getan. Ich habe meine Geschäfte geführt. Und was waren das für Geschäfte? Und wieso sind von daher diese Verleumdungen entstanden, mit denen ich mich nun konfrontiert sehen muss? Wenn ich ja nichts anderes getan hätte, als ein gewöhnliches Handwerk, wie kommt es, dass so viele Menschen gegen mich aufgebracht sind? Hört mir zu, und vielleicht wird manchen von euch sein, als ob ich scherzte: ich betone noch einmal, ich rede nichts als die Wahrheit.
Ich habe durch nichts anderes diesen heutigen Ruf erlangt, als durch eine gewisse Wiesheit. Welche Art von Weisheit? Eine Weisheit, die mir angedichtet wurde. Den Journalisten Fledermann kennt ihr doch, er wurde auch im Prozess ein ums andere Mal erwähnt. In einem Artikel schrieb er mir zu, ich sei der weiseste Mensch des Landes. Es gäbe niemanden, der Weiser sei als ich. Leider ist er verstorben und nur sein Bruder könnte uns heute hier Zeugnis ablegen über den Artikel, den Fledermann damals über mich geschrieben hat.
Bedenkt nun, weshalb ich dies sage: ich will euch nämlich erklären, woher doch die Verleumdung gegen mich entstanden ist. Denn nachdem ich dieses gelesen hatte, dachte ich bei mir: Was meint der wohl? Und was will er andeuten? Denn das bin ich mir bewusst, dass ich weder viel noch wenig weise bin. Was meint er also mit der Behauptung, niemand sei weiser als ich? Denn lügen wird er wohl nicht. Der Artikel war in einem geradezu prophetischen Ton, so dass ich mich genötigt sah, mich aufzumachen und diesen Vorwurf zu untersuchen. Ich ging zu einem, der für weise gehalten wurde, um dort den Aussagen Fledermanns auf die Spur zu kommen. Ich dachte: dieser Mensch ist doch wohl weiser als ich, wieso sollte Fledermann nun aber mich nennen? Und um den Beweis zu bekräftigen, begann ich mit dem Mann – ich brauche seinen Namen nicht zu erwähnen, es war ein angesagter Politiker – zu reden. Er sollte mir seine Weisheit beibringen. Im gespräch mit ihm schien mir dieser Mann zwar vielen anderen Menschen als weise vorzukommen, viel schlimmer noch: dieser Mann schien sich selbst sehr weise vorzukommen. Aber indem ich sein Wissen prüfte und hinterfragte, gelangte der Mann selbst in gewissen Sackgassen und Erklärungsnöte. Als dieser Mann, dachte ich dann am Ende, bin ich tatsächlich weiser. Denn er hält sich für weise, wo er es nicht ist. Und in dieser Beziehung bin ich ihm voraus. Ich wenigstens sehe, worin ich nichts weiß. Dies nannte ich immer: die Ehrlichkeit zu mir selbst aufrecht zu halten.
Hierauf ging ich zu einem anderen, der ebenfalls als weise galt. Und das selbe wiederfuhr mir. Worin ich wusste, dass ich unwissend war, glaubte er es besser zu wissen und gelangte in Erklärungsnot, weiler meinen Rückfragen nichts entgegenhalten konnte. Doch es fiel eines auf: wenn ich die Gesprächsrunde verließ, so war man mir nicht mehr so freundlich gesinnt, wie zu Beginn. Ich war in Furcht darüber, dass ich mit dieser Art des Umgangs mit meinen Mitmenschen, mir keine Freunde machen würde, aber es erschien mir notwendig, galt es doch einen Irrtum aufzudecken.
Ich will die Sache abkürzen. Ich ging der Reihe nach zu vielen Weisen. Und die berühmtesten erschienen mir die armseligsten zu sein. Nach den Staatsmännern ging ich zu den Schriftstellern. Ich wollte stets von ihnen lernen. Aber niemand konnte mir Auskünfte geben, mit denen sich zufrieden sein ließ. Fast war es bei den Autoren so, dass alle anderen besser über deren Werke bescheid wussten als diese selbst. Es war ein Trauerspiel. Als ich schließlich zu den Handwerkern im einfachen Volk ging, traf ich tatsächlich auf sehr geschickte Menschen. Sie konnten Dinge viel besser als ich. Aber weil sie in einer Sache gut waren, glaubten sie auch zu anderen Dingen ihre Meinung geben zu können. Und sie übersahen, was sie nicht wussten.
Vielleicht, so der Schluss, zu dem ich kam, war Fledermanns Orakel doch richtig. Und niemand war weiser als ich. Denn, was ich wusste, war, worin ich unwissend war. Und das hatte mir niemand sonst voraus.“
„Eigentlich bin ich nie irgend jemandes Lehrer gewesen; wenn aber Jemand, wie ich rede und mein Geschäft verrichte, Lust hat zu hören, Jung oder Alt, das habe ich nie Jemandem missgönnt. Ich nahm kein Geld, denn ich wollte nicht, dass mit einem Mal nur Reiche zu mir kämen. Wenn nun einer, der mit mir redete besser war als ein anderer, so hat dies mit mir nichts zu tun. Ich bin nicht schuldig oder verantwortlich für die Handhabung derer, die mir einmal zuhörten. Denn ich unterwies niemanden, versprach niemandem und lehrte niemanden.
Dies lässt sich auch sehr schnell beweisen. Wenn ich je zu einem ‚Schüler’ gesagt hätte, tu dies oder jenes böse, hätte er im reiferen Alter sicher darüber nachgedacht, das wahre empfunden und würde hier stehen und mich anklagen. Aber keiner der entsprechenden Zuhörer ist heute hier sondern ihr, die nie zuvor mit mir geredet habt – worauf ihr auch stolz ward, wenn ich mich recht an eure Anklage erinnere – und ihr seid es und nicht jene, die mich heute hier vor die Richter ziehen.“