3 – Die Anklage

 

Judging by the look on the organ grinder,
He’ll judge me by the fact that my face don’t fit.
It’s touching that the monkey sits on my shoulder.
He’s waiting for the day when he gets me,
But I don’t need no alibi – I’m a puppet on a string.
I just need this stage to be seen.
We all need a pantomime to remind us what is real.
Hold my eye and know what it means.
(James Blunt: Out of my mind)

 

 

„Ich lasse den Saal räumen! Ich lasse … den … Saal … räumen!“, drohte der Richter unablässig und schließlich, wie eine Welle, floss ein Gemurmel von den ersten Sitzbänken zu den hinteren und das Toben verebbte schließlich.

Sandra saß vor all diesen Mengen. Wie unwohl sie sich fühlte, war ihr im Gesicht abzulesen. Sie war bleich und mager geworden. Die Angst hatte ihre Spuren gezeichnet. Mit Händen und Füßen hatte sie sich geweigert, zu Hause zu bleiben. Bis zum Letzten wollte sie in der Nähe ihres Mannes bleiben. Leon hätte sie dagegen am liebsten zu Hause gelassen. Aber der Sohn war inzwischen alt genug, um für sich selbst entscheiden zu können. Sobald die ersten Hetztiraden aus dem Publikum über die Familie niedergekommen waren, hatte er die Hand seiner Mutter ergriffen und alles daran gesetzt, sie ruhig zu halten.

Genau wie Toni und Johann verstand er die Notwendigkeit, weshalb sie nicht aufbrausen durfte. Zudem aber hatte er ernsthafte Sorgen um ihr Wohlbefinden. In der Nacht vor dem Prozesseröffnungstag hatte er seinen Vater zur Seite gezogen und ihm gesagt, dass er Angst darum habe, dass seine Mutter diesen Prozess nicht überleben würde. Sie griff sich oft an die Brust, bekam schwer Luft und schnaufte und schnaubte schon bei geringen Anstrengungen, als hätte die ganze Stadt mit jedem einzelnen schmutzigen Vorwurf einen Stein auf ihre Lunge gelegt.

Was ließ sich dagegen unternehmen, dass die Stadt so reagierte? Die meisten Anwesenden kannte Sokrates nicht einmal persönlich. Er war sich sicher, dass die meisten auch ihn nur aus der Schmutzpresse kannten. Die Zeitungen waren ein mächtiges Organ des Staates. Was die Zeitungen verkündeten, konnte nicht falsch sein. Wenn dort stand, dass Sokrates die Jugend verderbe, dann musste das wahr sein. Und genauso, wenn dort stand, dass er ein Feind der Demokratie sei.

Jeden einzelnen Zeitungsartikel hatte Sokrates zu Hause gesammelt. Er hatte sie fein aus den Zeitungen herausgeschnitten, auf Papier geklebt und in einer Mappe gesammelt. Er hatte nicht vergessen, Datum und Name der Zeitung zu vermerken. Es hatte Wochen gegeben, da stand sein Name auf jeder Titelseite.

Auch Martin saß im Publikum. Er hatte sich nicht zu den anderen Freunden setzen wollen. Sokrates rechnete ihm hoch an, dass er stattdessen unmittelbar hinter Sandra saß. Er hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt und flüsterte ihr jetzt etwas ins Ohr. Sie nickte und schien sich zu beruhigen. Anschließend lächelte sie und wandte sich ihm zu. Sie nahm seine Hand und drückte sie aus Dankbarkeit.

Sokrates, der den Ausführungen des Richters schon von Beginn an nicht zugehört hatte, konnte an der Stimme des Richters immerhin hören, dass der bald zu einem Ende kommen würde. Er nahm sich also zusammen und erwiderte zumindest den Blick des Vorsitzenden.

Nach der Verlesung der Anklagepunkte, wurde das Wort dem Angeklagten zuteil. Wie er sich, jetzt, da er die Anklage gehört habe, zu derselben bekennen möchte.

Sokrates tauschte einen letzten Blick mit Christian, der ihm mutmachend zunickte. Sokrates stand also auf und er spürte, wie sogleich wieder die Luft zu heiß zum Atmen wurde.

„Ich bekenne mich nicht schuldig.“, sagte er langsam, jedes Wort wohl betont. Dann setzte er sich und atmete diese bedrohliche Stille so tief ein, dass er sie bis zu den Spitzen seiner Lungenflügeln spüren konnte.

Der Richter notierte etwas und dann rief jemand aus dem Publikum: „Gotteslästerer! Jugendverführer!“ … und der Sturm brauste erneut aufs schrecklichste über ihn und seine Familie hinweg.

 

Was sagt ihr dazu?