4. Adventskalendertürchen: Wo Träume gemacht werden

„Du stehst dir nur selbst im Weg“, sagte Orloff. Und natürlich hatte er Recht. Aber die Lösung auszusprechen war etwas völlig Anderes als nach ihr zu handeln. Im Radio beendete der Sprecher den Verkehrsfunk und als erstes Lied nach der vollen Stunde setzte „Unchained Melody“ ein. Jeff schauerte es und er dachte: wenn Liz nur nie gesagt hätte, was sie für ihn empfand. Und warum ausgerechnet in dieser Zeit? Warum ausgerechnet jetzt, wo ausnahmsweise alles gut lief? „Weil du es nicht verdienst, zur Ruhe zu kommen“, flötete ihm Chrissie von der Rückbank aus ins Ohr. Sie beugte sich weit vor, bis ihr Kopf zwischen Jeff und Orloff stand. Sie zwängte ihren Arm um seine Schulter, so wie sie es immer tat. Orloff redete weiter über die Psychologie des Lebens. Aber Jeff hörte ihm nicht mehr zu. Er hatte nur noch Augen und Ohren für Chrissie, die ihn mild spöttisch anlächelte. „Erinnerst du dich an die Nacht auf dem Villenberg?“, fragte Chrissie. „Wir sind die ganze Nacht zwischen den teuersten Villen entlang geschlendert, bis wir zu diesem Feld kamen.“ „Das Feld voller Glühwürmchen.“, bestätigte er. „Hier kommen die also her, hast du gesagt. Und ich hab gesagt…“ „…Hier werden unsere Träume gemacht.“ Es zuckte durch ihr Gesicht. Auf einmal war sich Jeff nicht mehr sicher, ob es wirklich ein Lächeln sein sollte, das sich da auf ihrem Mund abzeichnete oder … Er hörte die Reifen quietschen. Ein heftiger, schriller Laut. Anschwellend, mit dem Versprechen, dass es mit lautem Scheppern enden würde. Es zieht zu. Eine bleierne Schwere. Chrissies Ausdruck in den Augen schnürte ihm die Kehle zu. Er versuchte ihren Namen zu sagen. Aber die Zunge fühlte sich taub und schwer an. Chrissies Hand war jetzt eiskalt. Sie flüsterte: „Ich sag dir: das Feld war magisch. Du hast es doch auch in den Knochen gespürt. Das Kribbeln.“ Jeff starrte nur auf ihre Zähne. Er hatte noch nie bemerkt, wie weiß sie waren und wie groß. Vielleicht weil das Lächeln so groß war. So weit. So als ob… sie drehte langsam den Kopf zu ihm. Die kalten Fingernägel kratzten und schürften ihm über das Genick. Ihr Grinsen. Etwas stimmte nicht damit. „Chrissie“, brachte er endlich ihren Namen mit Gewalt hervor. Als sie den Kopf zu ihm drehte, konnte er es sehen: Woher das Verzerrte ihres Gesichts kam. Die Haut war so weit gespannt, dass er das ledrige Knirschen bei ihrer Drehung genau hören konnte. Und das war nur die Haut, die zu ihrem linken Mundwinkel spannte und daran zog. Jenseits der Gesichtsmitte war alles zerrissen. Die Haut fehlte, es zogen Fäden von Sehnen mit spärlichen Resten von Fleisch über den erdig gelb befleckten Schädel. Tote grinsen immer, dachte Jeff auf einmal. Der Tod muss ein Paradies für Zyniker sein. Aus der rechten Augenhöhle blitzte ihm nur Leere entgegen. Chrissies totem Mund entwich ein heiseres Kichern. „Es wird alles gut. Am Ende ist alles gut.“, versprach das Ding, das ihm jetzt die raue Hand vom Genick rutschen ließ. Die Bewegung löste endlich seine Starre. Er stieß die Hand fort, schüttelte Chrissies Leiche von sich, schrie auf und packte mit der linken Hand fluchtartig den Türgriff. Orloff schrie seinen Namen. Der blaue Mercedes fuhr hupend an ihm vorbei. Hasrscharf an der kaum geöffneten Fahrertür vorbei. Fast hätte er die Tür abgefahren bekommen. Wer weiß: eine Sekunde später und Jeff selbst wär einfach rausgesprungen und … Orloff starrte ihn entsetzt und bleich an. „Jeff, was zur Hölle?“ „Ich…!“, seine Kehle war staubtrocken. Im Radio endete der Verkehrsbericht und das erste Lied, das ansprang, war „N‘oubliez jamais“ von Joe Cocker. Die Ampel vor ihnen sprang kommentarlos auf grün. „Fahr rechts ran.“, sagte Orloff knapp. Und Jeff fuhr zitternd zur nächsten Bushaltestelle. „Du bist überreizt. Was ist los mit dir verdammt? Willst du dich umbringen? Ist das irgend ein Scheiß Gen in deiner Familie, oder was?“, Orloffs Stimme entlud seinen Schreck durch Lautstärke. Aber es tat gut, angeschrien zu werden. Es half dabei, wieder klaren Verstand zu bekommen. „Ich werde verrückt“, dachte Jeff. Er schloss die Augen, senkte den Kopf aufs Lenkrad und wünschte sich in die gute Zeit zurück. „Ich hab mich wohl geirrt.“, sagte Orloff plötzlich. „Du stehst dir gar nicht selbst im Weg. Du hast vielleicht wirklich ein Problem.“ „Ich bin übermüdet“, erklärte Jeff. „Kein Grund im fließenden Verkehr die Tür aufzureißen.“ „Ich hab Angst vor den Träumen.“ Das ließ Orloff verstummen. Wahrscheinlich, weil er es verstand. Jeder hätte Angst vor den Träumen, wenn er Jeffs Leben gehabt hätte. „Du musst was tun“, sagte Orloff schließlich. Jeff nickte. „Ich glaub, ich weiß auch schon was. Oder besser: wo.“ „Und?“ „Hast du Lust, mich heute Nacht zu begleiten? Für Liz.“ „Sogar deinetwegen würd ich mitkommen. Nicht, dass du plötzlich von einer Brücke runterspringst. … Wo geht es hin?“ „Dorthin, wo Träume gemacht werden.“, sagte Jeff leise. Dorthin, wo Chrissie hin unterwegs war, als sie starb.“

Was sagt ihr dazu?