6 – Das Gelage

 

Das Fest konnte inzwischen mit den berühmten Oscar-Verleihungen mithalten, dachte Sokrates. Das Kino hatte aber auf dieser Seite des großen Teiches im Laufe der Zeit eine ganz eigentümliche Wirkung erhalten. Fast mochte man sagen, dass hier mehr geschah, als eine Plattform zu bieten, auf welcher die Künstler sich selbst feierten. Hier feierte sich die ganze Stadt.

Es war ihm dann doch ein Flyer einer alternativen Szene in die Hände gefallen. Neugierig studierte er die vielen Termine. An den zehn Tagen – früher waren es tatsächlich einmal nur drei gewesen – fand in verschiedenen Kneipen ein sogenanntes BandHopping statt. Größtenteils unbekannte Bands spielten auf kleinen Bühnen in den Kneipen und Gaststätten. Man konnte zehn Tage lang vierundzwanzig Stunden am Stück auf den Beinen sein und sich der Musik hingeben. Kay war von dieser Vorstellung sehr angetan gewesen und hatte tatsächlich so lange auf Martin eingeredet, bis dieser sich überredet fand. Später konnten weder er noch Sokrates sich an das letztlich überzeugende Argument erinnern. Jedenfalls blieb Sokrates freiwillig allein zurück.

Er genoss es, in diesen Tagen einmal wieder für sich sein. Dass er dabei von einer unüberschaubaren Menschenmenge umgeben war, störte ihn nicht. Nirgendwo ist man einsamer als unter Menschen, war es nicht so?

Sokrates ließ sich treiben, musterte ihm entgegenkommende Menschen, beobachtete ihr Treiben, folgte ihrem Lachen. Er gelangte wieder zurück zu dem Märchenbrunnen und inmitten von händchenhaltenden Jugendlichen. Mit hochgekrempelten Hosen wateten zwei junge Mädchen durch den Brunnen und kicherten vor Vergnügen. Zwischen den Bäumen glimmten Zigaretten auf und ein sanftes, dunkles Gemurmel floss von dort zu ihm herüber.

Er widerstand der Versuchung, sich auf eine der Bänke zu setzen, weil er dann ganz sicher die Augen geschlossen hätte, und wer weiß, bei dieser schwülen Hitze, hätte es leicht passieren können, dass er der Erschöpfung in den Schlaf gefolgt wäre. Also umrundete er den Brunnen und erlaubte dabei den Mädchen, dass sie ihn nassspritzten. Es war heute Abend wahrhaftig ein zauberhaftes kleines Reich. Die beiden Wassernixen lachten, als sie von einem anspringenden Springbrunnen hinterrücks überrascht wurden. Es musste fabelhaft sein, bei diesem Wetter sich diesem kalten Nass hinzugeben. Sokrates war bis zum Brunnenrand geschlendert und die beiden Mädchen flüchteten sich auch zu der selben Stelle. Sie lachten und schnappten zugleich nach Luft. Von ihren triefend nassen Haaren sprang das Wasser in alle Richtung. Die Tropfen, die Sokrates im Gesicht trafen, verrieten, wie kalt das Wasser da drin war. Mit dem spielerischen Einsatz der Springbrunnen hatte sich das Lichtspiel der Märchenfiguren geändert. Jetzt war mit einem Mal nur noch jede zweite Figur beleuchtet und Sokrates, der direkt zur Seite des grün bestrahlten Rübezahl stand, fasste sich ein Herz.

Kurzerhand – er zog sich nur Schuhe und Socken aus – stieg er über den Brunnenrand und bemerkte zu nicht minderem Gefallen, dass die Mädchen jetzt noch lauter und fröhlicher lachten. Ja, die beiden fassten sich sogar bei den Händen und tanzten einmal um ihn, den Erwachsenen, herum, gaben ihm links und rechts je einen verwegenen Kuss und hüpften wieder aus dem Brunnen und in die Dunkelheit hinein. Mit über die Schultern gebundenen Schuhen watete Sokrates einmal durch das Becken hindurch und wurde selbst ebenfalls zweimal von den Springbrunnen überrascht. Sein Gesicht war gerötet von dem kalten Wasser in der heißen Luft, dem Rausch des Verbotenen aber auch von dem Wissen, das Besondere des Abends gefunden und getan zu haben.

Als er dann den Volkspark verließ, hatte er die Schuhe wieder angezogen, seine Kleider waren aber noch nass. Weil er wusste, dass er so nicht auf der Aftershowparty erscheinen konnte, machte er sich auf die Suche nach einem noch geöffneten Geschäft und hatte tatsächlich das Glück, dass es ein paar Läden gab, die ausnahmsweise vierundzwanzig Stunden am Stück geöffnet haben durften. Er kaufte sich ein billiges Eau de Cologne, dessen Geruch süßlich aber intensiv war und musste dann, als er wieder im Menschenstrom untertauchte, bei dem Gedanken kichern, das seine Frau ihn heute Nacht kritisch beschnuppern würde. Der Vorwurf, ihr fremd gegangen zu sein, musste er sich wohl gefallen lassen. Die Frage war, ob es ihm besser behagte, wenn er ihr die kleine Geschichte erzählen und sie ihn fortan für einen Verrückten hielt.

Gedankenverloren war er zum sogenannten Boulevard am Potsdamer Platz vorgedrungen: eine Fotostrecke, die im Sinne eines Fototagebuchs das bisherige Festival dokumentierte. Zu sehen waren groß portraitiert die angesagtesten Künstler dieser Woche. Sie waren wie Helden überlebensgroß inszeniert. Interessiert suchte Sokrates das Portrait seines Freundes Thomas und fand ihn schließlich in der Mitte der Reihe. Davor stand Herr Olivander, ein redseliger Mann, der ganz in der Nähe von Sokrates wohnte und als einer von wenigen gut mit seiner Frau auskam. Die gegenseitige Sympathie zwischen Olivander und Sandra lag vielleicht daran, dass beide recht schwatzhafte Gemüter waren.

Ihre Blicke begegneten sich und Herr Ollivander schüttelte eifrig die Hand des lang nicht mehr gesehenen Sokrates.

„Sie sind ja ganz nass!“, sagte er erstaunt.

„Ich habe frisch gebadet.“, meinte Sokrates daraufhin und konnte einen gewissen Stolz aus der Stimme nicht ganz fern halten.

„Und wie sie riechen? Gehen sie etwa noch aus?“

„Eigentlich bin ich auf dem Weg zu …“, er zeigte auf das überlebensgroße Plakat hinter Ollivander. „… Thomas Wallander. Sein Festivalbeitrag hat gestern im Delphi-Palast den Forumspreis erhalten. Beim eigentlichen Siegesfest bin ich ihm wohl aus dem Weg gegangen, aus Furcht vor dem Gewühl und den Rummel, der um seine Person jetzt entsteht. Ihm – und einem anderen Freund, der jetzt aber leider abgesprungen ist – habe ich dann aber noch versprochen, heute vorbeizuschauen.“

„Haben sie den Beitrag im Delphi gesehen? War er gut?“

„Wir hatten Karten im Freiluftkino.“, gestand Sokrates. „Ja, es war sehr gut.“

Eine kurze Verlegenheitspause drohte einzukehren, da sagte Sokrates einer plötzlichen Eingebung folgend: „Möchten sie mich begleiten? Streng genommen habe ich zwei Einladungen. Wie gesagt, der Freund ist abgesprungen.“

„Sehr gern!“, die Augen Ollivanders leuchteten auf. „Wenn ich sie nicht störe oder in Verlegenheit bringe?“

„Ganz und gar nicht.“, erwiderte Sokrates. Kurzerhand legte er den Arm um die Schulter Ollivanders und führte ihn in die entsprechende Richtung.

Sokrates musste Ollivander gut zureden, da dieser mit jedem Schritt ein Bedenken mehr äußerte auf der entsprechenden Feierlichkeit zu erscheinen. Er sprach vor allem von Taktgefühl und von unangemessener Kleidung. Sokrates sprach ihm beruhigend zu und lächelte zuweilen über das, was aus Ollivanders Worten hindurch schimmerte. Ollivander war kein großer Kulturgänger. Er war, wie so viele andere auch, auf der Straße gewesen, um sich von dem Trubel einnehmen zu lassen. Vielleicht hatte er auch die Hoffnung auf die Bekanntschaft mit neuen Leuten gehabt. Die Aussicht heute Nacht mit angesehenen Künstlern in einem privaten Loft die Verleihung eines rennomierten Preises zu befeiern, stellte er sich offenkundig sehr festlich und prunkvoll vor. Sokrates, der Ollivander versprach, dass auch Künstler nur Menschen seien, wurde indes über dem ganzen Gespräch immer ruhiger.

Als sie schließlich in der Wohngegend von Thomas Wallander ankamen, bemerkte auch Ollivander die ungewohnte Ruhe von Sokrates. Zunächst schwiegen sie eine Weile. Aber als Sokrates dann schließlich seinen Schritt verlangsamte, sprach Ollivander ihn darauf an.

„Keine Sorge.“, meinte Sokrates. „Gehen sie ruhig schon vor.“

Etwas widerwillig setzte Ollivander seine Schritte fort. Es war selbstverständlich ein merkwürdiges Gefühl, weil er Sokrates die ganze Zeit über im Rücken hatte. Doch sobald Ollivander in seinem Schritt stockte oder sich umdrehte, wiederholte Sokrates die Forderung: ruhig weiter. Es ist am Ende der Straße. Und er verriet Ollivander die Adresse.

Als Ollivander schließlich die gesagte Adresse erreichte, war die Tür offen und vier bekannte Männer standen im Türrahmen. Sie konnten sich kaum noch auf den Beinen halten vor Erschöpfung, lachten aber noch immer so laut als hätte eine Party gerade erst begonnen.

Thomas Wallander begrüßte den Neuankömmling so herzlich, als wären sie sich längst bekannt. Auf den fragenden Blick reagierte Thomas auf eine merkwürdige Art: er schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und drückte die Finger gegen die Stirn. Er spielte einen Seher und nannte ein lang zurückliegendes Datum und eine Uhrzeit.

„Da sind wir uns das letzte Mal begegnet.“, sagte Thomas. „Es war ein kleines Sit-In im Hause Sokrates. Nicht wundern, ich habe ein außerordentliches Gedächtnis was Menschen angeht.“

Ollivander war sichtlich überrascht und fühlte sich selbstverständlich nicht minder geschmeichelt. Man gab ihm eine Flasche Bier in die Hand, die Ollivander zunächst einmal anstarrte, weil er kein Bier sondern Sekt oder Rotwein erwartet hatte. Dann sagte Thomas Wallander:

„Es ist schön sie zu sehen. Aber wieso bringen sie uns den Sokrates nicht mit?“

Das weckte Ollivander. Er drehte sich um und sah, dass kein Sokrates mehr hinter ihm war.

„Ich … habe Sokrates mitgebracht.“, stammelte Ollivander beschämt. „Er hat mich eingeladen. Er ist eben noch hinter mir gegangen. Er … Sokrates?“, er rief vorsichtig hinaus in die Dunkelheit und musste zu seinem Bestürzen feststellen, dass die anderen lachten. Erst als er die Männer ansah, erkannte er, dass man nicht direkt über ihn lachte.

„Ich gehe mal nachsehen.“, bot sich ein Rothaariger an und rannte auch schon los.

„Sokrates ist schon immer ein Sonderling gewesen.“, meinte ein anderer zur Beruhigung. „Ich hab ihn mal in einer Kneipe erlebt, wie er mit ganz genüsslichem Lächeln den letzten Schluck Wein auf dem Boden ausgegossen hat. Alles hat gebrüllt: ‚Der gute Wein! Der gute Wein!’ ‚Was ist damit?’, hat er gefragt wie die Unschuld vom Lande. ‚Er verdirbt den guten Wein.’, alle haben sich aufgeregt und ihn ausgelacht. Aber Sokrates ist ganz cool geblieben, hat entrüstet die Nase hoch gestreckt und gesagt: ‚Wenn ich ihn austrinke, verderbe ich ihn auch. Aber zusätzlich verdirbt er auch mich.’“

„Der Sokrates, der trinkt euch noch alle unter den Tisch, sage ich euch.“, Thomas Wallander drohte ihnen einer nach dem anderen mit dem Finger. „Der steht noch und trinkt, wenn ihr schon die Engel singen hört.“

Am Ende des kleinen Fußswegs zum Haus erschien der, der nach Sokrates schauen gegangen war.

„Er steht auf dem Nachbargrundstück.“, rief er irritert zu den Feiernden herüber.

„Was macht er denn da?“, fragte Thomas Wallander.

„Er steht da.“

„Er steht da?“

„Einfach so?“, hakte Ollivander nach.

„Hast du ihn denn nicht gerufen?“, fragte jener, der die Geschichte über Sokrates erzählt hatte.

„Was denkst du denn?“, entrüstete sich der Bote.

„Und wie hat er reagiert, herrgottnochmal?“

„Er hat gewunken.“, und damit imitierte er eine Handbewegung, als wolle er eine Mücke vertreiben. Weil niemand reagierte wiederholte er sogar diese lächerliche Bewegung.

„Sokrates?“, brüllte Thomas Wallander nun zum Nachbargrundstück hinüber. „Du bist hier herzlich willkommen.“

Keine Antwort.

„Es scheint, als habe unser Sokrates so seine Gewohnheit. Hält er bisweilen an.“, er zuckte mit den Schultern und drehte der Straße den Rücken zu. Während sie nach drinnen gingen, redete Thomas Wallander weiter: „Wo es sich eben trifft bleibt er stehen. Er wird aber bestimmt gleich kommen. Denke ich. Stören wir ihn mal nicht, lassen wir ihn. … Kommt und lasst uns noch eine Kleinigkeit essen, Leute. Kein Zögern, verehrter Ollivander. Setz dich nur zu uns und halte dich an die einzige Regel.“

„Regel?“, stotterte Ollivander, der sich immer wieder mal zur offenen Tür umgedreht hatte, durch die aber nur der Rothaarige wieder eintrat.

„Tu so, als sei selbst ich ein Gast in diesem Haus. Fühl dich wohl.“

Thomas Wallander war reich genug, sich ein großes Loft leisten zu können. Es war ein altes Industriegebäude. Wohnzimmer, Esszimmer und Küche waren ein einziger, riesiger Raum. Die Schränke waren ganz einfache, schwarze Regalgestelle, die vor gekalkten Wänden standen. An zwei Stellen versperrten keine Möbelstücke die Wand. Mit schwarzem Gaffer Tape waren so etwas wie Bilderrahmen abgeklebt worden. In ihnen waren riesige Gesichter von Comichelden gemalt.

Sie setzten sich an einen sehr einfach gestalteten, hellen Holztisch. Auf weiß glacierten Schalen lag Canapé.

Endlich kam Sokrates zu ihnen herein.

„Willkommen, willkommen.“, sagte Thomas. Er stand auf, umarmte den Gast herzlich und drückte ihn fest an sich. „Du wirst den Rest des Abends nicht mehr von meiner Seite weichen. Ich möchte auf keinen Fall etwas von der Weisheit verpassen, auf die du dort auf dem Nachbargrundstück gewartet hast. Offenbar hast du ja gefunden, wonach du gesucht hast, sonst hättest du ja doch nicht abgelassen.“

Sokrates wurde ein Platz an der Seite des Regisseurs frei gemacht. Er setzte sich hin. Doch anstatt nach dem Essen zu greifen, nahm er das halbvolle Wasserglas, das vor dem Gastgeber stand.

„Es wäre toll, wenn es wirklich so wäre, Thomas.“, sagte er ernst. „Mit der Weisheit meine ich.“, mit der linken Hand nahm Sokrates das vor ihm stehende, leere Glas und er füllte achtsam Wallanders Wasser in sein leeres Glas. „Dass wenn wir uns einander nähern, die Weisheit aus dem volleren in den leereren rüberfließe. Aber“, er stellte die Becher wieder auf den Tisch. „wenn es so sein sollte, dann kann ich mich glücklich schätzen, dass du mich an deine Seite lässt. Meine Weisheit fühlt sich so brüchig und unsicher an wie ein Traum, deine aber glänzt und gedeiht. So jung wie du bist, so stark sind deine Werke. Deine Weisheiten werden ausgestrahlt und bejubelt. Neulich sogar vor dreißigtausend Zeugen.“

„Hör sofort auf, mich zu verspotten!“, meinte Thomas. Dann häufte er Sokrates ein gutes Dutzend in Blätterteig ummantelte Lachsstreifen auf den Teller und sagte. „Das mit der Weisheit werden wir später aushandeln! Jetzt aber wirst du essen. Niemand soll sagen, dass er bei mir eingeladen wurde und dann im Nachbarsgarten verhungert ist!“[1]

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] Platon: Symposion

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