Keiner fragte nach, was er im Garten gesucht hatte. Nachdem Thomas Wallander seine Scherze über die Weisheit getrieben hatte, war Sokrates ruhiger geworden. Er aß in aller Ruhe, was ihm auf den Teller gelegt wurde und versank in Gedanken. Immer wieder stellte er sich die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn er einfach ohne Umwege ins Haus gegangen wäre.
Schon seit sie den ersten Schritt in die Straße gesetzt hatten, war ihm das Gefühl untergekommen, dass man sie beobachtete. Und als er sich dann umgeschaut hatte, war ihm der Schatten auf der anderen Straßenseite aufgefallen. Absichtlich hatte er sich von Ollivander distanziert, war zurückgefallen und hatte den Schatten genauer betrachtet. Dieser Schatten hatte mit ihm, mit Sokrates, Schritt gehalten. Als sie dann zu Wallanders Haus gekommen waren, hatte Sokrates den Nachbarsgarten betreten und darauf gewartet, ob der Schatten sich zu ihm gesellen würde.
Wenn ich gewusst hätte, wer es ist, wäre ich dann auch in den Garten gegangen?, fragte er sich. Später sollte er sich fragen: wenn er gewusst hätte, was alles geschehen würde, hätte er dann genauso geredet?
Die anderen ließen ihn rufen, aber Sokrates, der mit dem Rücken zur Straße stand, wehrte ab, gab keine Antwort auf die Fragen und wartete, bis er ganz allein war. Er blieb es nicht lange. Die Stille wurde von sanften Schritten unterbrochen und aus der Dunkelheit zu seiner Seite schälte sich eine Frauengestalt.
„Du verfolgst mich?“, fragte er.
Die Gestalt lächelte ihn an. Es war Pia Silbermann. Eine schmale Schönheit mit sanften Gesichtszügen. Sie trug einen langen, taillierten Mantel. An den Fingern der rechten Hand blitzten Ringe auf.
„Du weichst mir seit einiger Zeit aus.“, warf sie ihm vor.
„Ja, das stimmt.“
„Welchen Grund könnte das wohl haben, Sokrates?“
„Den Grund, dass ich mit dir reden möchte, wie man nicht jederzeit reden kann.“
„Kann man in einem einsamen Garten mitten in der Nacht auf diese Art, die dir vorschwebt, reden?“
Sokrates atmete tief den warmen Duft der Nacht ein. Seit ihre Gestalt sich aus dem Schatten herausgeschält hatte, war der Geruch sanfter und lieblicher geworden. In seinen Ohren sauste es. Er senkte kurz den Kopf, sortierte seine Gedanken, dann sprach er einfach:
„Wenn dir einer sagte, du sollst dich entscheiden: entweder du lebst und darfst alles behalten, was du jetzt hast, oder aber du fällst auf der Stelle tot um, weil es dir nicht erlaubt ist, größeres zu erreichen, mehr zu erlangen, mehr zu sein, als du jetzt bist, …“
„Tot!“, flüsterte Pia sofort.
„Und nun? Auf welche Hoffnung lebst du?“, fragte Sokrates. „Du glaubst, dass du mit all deinen Artikeln, die du schreibst, beweisen kannst, dass du mehr Wert bist, als alle Menschen dieser Welt zusammengerechnet. Du schreibst für dein Land und das reicht dir nicht. ‚Liebes Europa“, so hat der Artikel begonnen, den ich als letztes von dir gelesen habe. Ich habe mir gedacht, wenn ganz Europa dich lesen würde, würdest du dann mit ‚Liebe Welt’ beginnen?“
„Vielleicht ist es dir entgangen, Sokrates. Darum sage ich es dir: die ganze Welt liest mich bereits.“
„Ich weiß, dass du diese Hoffnung hegst.“
„Selbst du liest mich.“, Pia zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
„Weil ich weiß, dass du mich brauchst.“, Sokrates widerstand der Versuchung, den Kopf zu senken. Erfolgreich hielt er ihrem Blick stand und er wartete so lange, bis ihre dünnen Lippen sich zu einem sanftmütigen Lächeln zogen.
„Ohne mich kannst du deinen Gedanken keine Krone aufsetzen, Pia. Ja, so große Gewalt glaube ich über dich und deine Gedanken zu haben. So wie du Hoffnungen hegst, vor diesem Land zu beweisen, dass du ihr alles Wert bist, und wenn du es bewiesen hast, sie dann nichts anderes mehr sein wird, als was du ausgerichtet hast: so hoffe auch ich bei dir alles auszurichten, wenn ich dir gezeigt habe, dass ich dir alles Wert bin, und dass weder deine Eltern noch ein anderer Verwandter oder sonst jemand im Stande ist, dir die Macht zu verschaffen, nach der du strebst.“
„Außer du, natürlich.“, Pias Stimme war ein kaum hörbares Flüstern. „Nehmen wir an, dass dein Bild von mir richtig ist. Wieso bist ausgerechnet du der einzige Mensch auf der Welt, der mir dann helfen kann?“
„Wenn du an deinem Schreibtisch sitzt und deinen nächsten Artikel schreibst, in dem du dich über die politischen Zustände äußerst, würde ich dich gerne unterbrechen und fragen, weshalb du den Menschen in diesem Land deine Ratschläge erteilst.“
„Ich würde dir antworten, weil ich etwas besser weiß als die anderen.“
„Also, was du weißt, darin bist du auch ein guter Ratgeber?“
„Wieso nicht?“
„Du weißt aber nur das, was du von anderen gelernt hast oder selbst herausgefunden hast?“
„Sicher.“
„Über was schreibst du deine Ratschläge, Pia?“
„Über Krieg und Frieden.“, zischte sie.
„Also darüber, gegen wen zu kämpfen ist und wann, vielleicht sogar wie und mit welchen Waffen, auf welchen Feldern welche Bomben zu fallen haben…?“
„Mach dich nicht lustig über mich. Ich bin kein Soldat oder Feldherr. Ich stehe nicht an der Front. Es geht nicht um Waffen oder Panzer, strategische Einsatzziele, Herrgott du kennst doch meine Artikel.“
„Sag mir, um was es dir geht, Pia! Du wirst ja richtig wütend, wenn du dich schämst. Stell dir vor, du würdest Rat geben über … gesunde Ernährung, dass die eine Frucht besser ist als die andere. Wenn dich jemand fragt, wie nennst du dieses bessere, antwortest du mit: ‚das ist das Gesündere’, aber du bist kein Arzt und hast keine Ahnung von der Gesundheit, obwohl du so tust als ob. Was ist besser, Pia: Krieg oder Frieden?“
„Frieden.“
„Und was ist das Bessere daran?“
„Du wirst lachen, aber das frage ich mich auch manchmal.“
„Was ist das Bessere daran, dass es das Wert ist, Ratschläge dazu zu erteilen, Pia? Wessen beschuldigen wir uns, wenn wir Krieg führen?“
„Das weiß ich, entweder sind wir hintergangen oder beraubt worden. Oder man hat uns einfach angegriffen, obwohl wir nur helfen wollten. Ist es das, was du meinst?“
„Und wie sagen wir, kommt uns das alles vor? Wie empfinden wir dabei? Du nennst es doch sogar in deinen Artikeln so.“
„Ungerecht.“
„Gerechtigkeit.“, murmelte Sokrates. Er lehnte sich mit dem Rücken an einen Baumstumpf und blickte an Pia vorbei. „Du wirst wohl kaum deinen Lesern raten, gegen die Rechttuenden Krieg zu führen.“
„Wenn ich das schreiben würde, hätte ich nicht einen einzigen Leser, Sokrates. Behauptest du damit etwa, dass unsere Soldaten …“
„Ich weiß, dass man darüber disktutiert, ob es einen gerechten Krieg überhaupt gibt, Pia.“
„Es gibt gerechtfertigte Kriege.“, behauptete sie.
„Und für diese trittst du ein?“
„Für diese erteile ich Ratschläge.“
„Dann weißt du also, was gerecht und ungerecht ist. Und wenn du es weißt, dann hast du einen Lehrer gehabt, der dir das beigebracht hat. Vielleicht könnte ich auch sein Schüler werden, was denkst du?“
„Du spottest schon wieder.“
„Nein. Ich meine es ernst: wer war dein Lehrer?“
„Einen Lehrer, der mir beigebracht hat, was gerecht ist.“, Pia lachte ihn aus.
„Es sei denn, du hast es selbst herausgefunden.“
„Und das glaubst du, könnte ich nicht haben?“
„Natürlich, wenn du danach gesucht hättest.“
„Und du glaubst, ich hätte danach nicht gesucht?“
„Wenn du geglaubt hättest, es nicht zu wissen.“
„Also, gab es etwa keine Zeit, wo es so mit mir stand?“
„Nenn sie mir doch!“, befahl Sokrates. „Wann hast du je geglaubt, nicht bescheid zu wissen? Wann hast du je angefangen zu lernen, was Gerechtigkeit bedeutet? Wann ein Krieg – wie hast du es genannt? – gerechtfertigt ist? Ich hab dich als Kind schon gekannt, Pia. Du hast schon immer geglaubt, besser als alle anderen bescheid zu wissen.“
„Ich war ein Kind. Was hätte ich denn tun sollen?“
Sokrates Augen verengten sich und seine dunklen Augen blitzten durch die Nacht. „Meinst du, wenn du dir unsicher bist, ob dir Unrecht geschieht oder nicht, was du dann hättest tun sollen?“
„Ich war mir nicht unsicher. Ich wusste, wenn man mich hintergerging.“
„Also schon als Kind glaubtest du zu verstehen, was recht und unrecht ist.“
„Nicht nur das: ich habe es verstanden.“
„Du hast es schon immer gewusst, wie? Niemand hat es dir beigebracht, du hast nicht danach gesucht. Und doch behauptest du, dass du es wusstest.“
„Ich habe es gelernt, Sokrates. Was Ungerechtigkeit ist, lernt man von selbst irgendwann. Dazu brauche ich keinen, der mir die Nase darauf richtet. Das lernt man von den Menschen von ganz allein.“
„Die Menschen. Das sind vorzügliche Lehrer für Recht und Unrecht, nicht wahr? Du kannst mit beiden Begriffen etwas anfangen, weil dir die Menschen es beigebracht haben.“
„Können sie das nicht?“
„Welche Menschen sind sich darüber denn einig, Pia? Du wirst mehr Menschen finden, die sich über die gesunde Ernährung einig sind, als darüber, was gerecht ist. Die Menschen sind sich über ihre Vorstellungen so uneinig, dass sie deshalb sogar miteinander kämpfen und … Kriege führen.“
Sokrates erkannte, dass Pia ihn unterbrechen wollte. Doch auch, wenn er es jederzeit gerne bei ihr zuließ, so hatte er jetzt nicht das geringste Interesse, unterbrochen zu werden:
„Wie soll ich dir abkaufen, dass du dich auf Recht und Unrecht verstehst, wo du es offenbar von niemandem gelernt hast und es auch selbst nicht gefunden hast.“
„Ich denke“, unterbrach Pia ihn jetzt doch. „die Leser stellen keine so komplizierten Gedankengänge an wie du, was gerecht oder ungerecht ist. Denn das, ist es etwa nicht so, sieht jedermann. Sie lassen es also sein und konzentrieren ihre Energie auf die Frage, welches von zweien ihnen vorteilhaft sein wird, wenn sie sich dafür entscheiden. Das ist nämlich nicht das selbe, Sokrates: nicht jeder der richtig handelt, handelt vorteilhaft. Ganz im Gegenteil. Die meiste Ungerechtigkeit entsteht aus Egoismus.“
„Vielleicht ist es ja das, was dein Spezialgebiet ist: zu wissen, was die meisten Vorteile bringt.“
„So lange du nicht wieder nachfragst, wer es mir beigebracht hat!“
„Na gut, dann bin ich heute einmal genauso vornehm wie du und wir sparen es uns, dass ich die selben Frage nochmal stelle. Es genügt mir, dass du erkannt hast, dass wir uns im selben Argumentationskreis befinden.“
Pia schnaubte verächtlich, dann schoss ihr aber offensichtlich ein neuer Gedanke durch den Kopf und ihre Wut verwandelte sich in spöttische Arroganz.
„Mein aktueller Artikel wird deinen Namen tragen, was hältst du davon? ‚Im Garten mit Sokrates’. Es wird eine Liebeserklärung sein.“
Sokrates seufzte.
„Wird der Krieg auch thematisiert?“
„Wie sollte er nicht? Ich werde schreiben, inwiefern die gerechte Entscheidung zugleich die vorteilhafte Entscheidung sein wird.“
„Dein Spott ist nicht zu überhören.“
„Glaubst du wirklich an sowas? Ist das deine Vorstellung von Gerechtigkeit? Eine Welt, in der alle glücklich und zufrieden sind? In der man auf den Vorteil verzichtet, nur weil es so richtig ist?“
„Du hast recht, Pia. Es sind schon viele im Krieg verwundet worden oder sogar gestorben, nur weil sie einem Freund beigestanden haben.“
„Hätten sie ihn liegen lassen, wären sie selbst mit dem Leben davon gekommen.“
„Und weshalb haben sie geholfen?“
„Tapferkeit.“, sagte Pia nur und zuckte mit den Schultern.
„Ja, so nennt man das, was in der Brust vorgeht, in dem Augenblick, indem man sich in den Flug der feindlichen Kugel wirft. Und was ist schlecht daran?“
Sie lachte: „Dass du am Ende mausetot bist, du in deinem Graben liegst und nach Luft schnappst, dass sich kein Aas mehr um dich schert und alles am Ende umsonst war.“
„Tapferkeit ist eine ganz andere Sache als Totsein.
Sie hob die linke Hand: „ein tolles Gefühl“, und in der rechten Hand: „ein Zustand bis in alle Ewigkeit.“
„Du hast recht, eine Sache kann sowohl gut als auch scheußlich sein. Das Gerechte kann sowohl schön, als auch hässlich sein. War es das, was du mir beibringen wolltest? Ich habe dich anders verstanden. Aber offensichtlich trägt das Gerechte immer einen persönlichen Vorteil in sich. Auch wenn die Konsequenzen negativ sein können. Das Leben würdest du dir bestimmt nicht nehmen lassen. Aber die Tapferkeit, würdest du auf sie verzichten? Nein? Das dachte ich mir. Was wär die kleine Pia Silbermann ohne ihren sprichwörtlichen Mut? Glaubst du, du könntest glücklich sein, ohne Mut? Oder sonst wer? Sind von Grund auf feige Menschen glücklich?“
„Auf was willst du raus?“
„Das weißt du genau. Den Freund zu retten war das Richtige, weil der Mensch nicht glücklich leben kann, wenn er feige handelt. Und das gilt für die gesamte Gerechtigkeit: sie ist immer der richtige Weg, weil wir nur mit ihr glücklich sein können. Es lohnt sich auf den eigenen Vorteil, wie du es nennst, zu verzichten, nur um Gerecht sein zu können. Weil all die Nachteile nichts sind, im Vergleich zu den Vorteilen der Gerechtigkeit.“, und Sokrates nahm ihre Hände, in denen sie eben noch symbolisch die Tapferkeit und den Tod gewogen hatte. Die Faust, die den Tod hielt, schloss er, während er die andere Hand öffnete.
Er schaute ihr tief in die Augen: „Du läufst dem Staat hinterher und scherst dich um seine Sachen, du erteilst Ratschläge, noch ehe du unterrichtet bist. Dein Erfolg kommt daher, weil du nicht allein bist in deinem Zustand. Du teilst ihn mit den meisten von denen, welche die Angelegenheiten dieses Landes besorgen. Du bist jung, Pia, so jung, dass es noch nicht zu spät ist, aus dir einen anständigen Menschen zu machen.“
Sie erwiderte seinen Blick und Sokrates spürte, dass er noch nie so nahe an ihr gestanden hatte, wie gerade eben. Etwas lag in Pias Augen, das ihm jetzt wie eine dämonische Kralle in den Leib fuhr. Seine Brust schnürte sich zusammen unter diesem Blick. Ihre Augen bohrten sich in ihn hinein und lähmten ihn. Mit einer hastigen Bewegung drehte sie ihre Hände in seinem Griff und mit einem Mal war sie es, die ihn festhielt.
„Erkenne dich selbst.“, flüsterte sie. „Habe ich recht?“
Er konnte sich nicht bewegen. Ihre Pupillen waren in dieser Dunkelheit über alle Maßen geweitet. Ihm war, als würde sie nur noch aus Augen bestehen.
„Du willst mein Lehrer sein?“, flüsterte sie und näherte sich mit ihren glänzenden Lippen seinem Gesicht. Ihr Atem berührte seine Stirn.
„Sokrates, der Redende!“, hauchte sie. „Und Pia, die Hörende.“
Sie erlaubte es ihm, dass er sich aus ihrem Griff befreite. Er wich ein paar Schritte zurück.
„Erkenne dich selbst.“, bestätigte er ihre Worte. Während er mit brüchiger Stimme, um Atem ringend, immer weiter zurück wich, kam sie ihm hinterher. „Was ist dieses Selbst, das du erkennen sollst? Was ist der Mensch? Es gibt einen Unterschied zwischen dem Gebrauchten und dem Brauchenden“, sein Rücken stieß gegen die Hauswand. Doch anstatt stehen zu bleiben, drückte Pia sich ganz eng an ihn heran.
„Der Gebrauchte ist ein anderer, als der Brauchende.“, wiederholte sie. Die Veränderung der Worte waren Sokrates nicht entgangen, aber er konnte sich darauf nicht konzentrieren. Verzweifelt schloss er die Augen und rang um den Gedanken.
„Der Mensch braucht seinen Körper.“, half sie ihm.
„Also sind Mensch und Körper verschieden.
„Ja.“, hauchte sie in sein Ohr.
„Die Seele gebraucht den Körper. Und zwar, indem sie ihn regiert.“
„Ja.“
„Und hierüber wird wohl niemand anderer Meinung sein.“
„Worüber?“
„Dass der Mensch nicht eines von diesen dreien wäre.“
„Von welchen?“
„Entweder Seele oder Leib oder beides zusammen, das Ganze. Aber wir haben gesagt, der Leib wird regiert. Aber ist es der Leib, der den Leib regiert?“
Sie presste ihren Unterleib an seinen heran und er rang nach Luft.
„Wohl kaum.“, sie grinste ihn unverschämt an.
Er versuchte sich frei zu machen aus ihrem Griff, aber sie war stärker als er. „Es ist also die Seele, die den Leib regiert? Dann ist es also die Seele, die den Menschen ausmacht. Wer also in deinen Körper verliebt ist, der ist nicht in dich verliebt. Sondern nur in etwas, das dir gehört!“
Ihre Lippen hatten den Weg zu seinem Hals gefunden. Ein eiskalter Schauer rann über Sokrates Rücken.
„Wer aber in dich verliebt ist, der ist verliebt in deine Seele. Dein Körper wird alt, du wirst hässlich, abstoßend und die Menschen, die vorgegeben haben, dich zu lieben, sie werden dich verlassen.“, seine Worte waren kühler geworden. Seine Haltung war steif. Endlich ließ sie von ihm ab und Sokrates konnte spüren, dass ihm schlecht geworden war. Die Brust, die ihm vorhin wie zugeschnürt vorgekommen war, brannte nun, als habe ein Feuer darin gewütet.
Pia starrte ihn mit flackernden Augen an. Sie trat einen irritierten Schritt zurück.
„Was hast du gerade gesagt?“
„Dass du alt wirst und hässlich. Du kannst nicht verhindern, dass dein Körper verfällt. Aber du kannst die Schönheit deiner Seele beeinflussen, Pia.“
Sie legte ihren Kopf schräg und starrte ihn an. Zweifelsohne versuchte sie seine Gedanken zu ergründen, seine Gefühle zu verstehen. Ihre Lippen waren zwei unruhige Schattengestalten.
„Ich bin dein Liebhaber.“, gestand Sokrates auf einmal. „Aber ich liebe nicht deinen Körper. Das, was dir gehört, nimmt ab an Schönheit. Du selbst hingegen fängst erst an zu blühen. Und wenn du jetzt nur nicht dich verderben lässt und hässlicher wirst, werde ich dir Treu sein und ich werde deine Artikel kaufen und sogar mit Genuß lesen. Du musst erst üben und lernen. Du hast es selbst gesagt: erkenne dich selbst! Gehe in dich. Lass mich dein Lehrer sein, und du …“
„Genug jetzt, Sokrates.“, unterbrach sie ihn und es war eine ganz andere Stimme, als die, welche er bislang von ihr gewohnt war. Sie war vollkommen emotionslos. Was Sokrates aber unter dem Klang dieser Stimme zusammenfahren ließ, war die spontane Eingebung, dass dies zum ersten Mal Pias wahre Stimme sein musste. Jetzt, da sie die Augen geschlossen hatte, brannte in Sokrates zum ersten Mal in seinem Leben das Bedürfnis, ihr noch einmal so tief in die Augen zu schauen wie zuvor. Der Anflug eines Zitterns machte sich in ihm breit. Er bewegte die Lippen, als erprobten sie die Worte, die er als nächstes zu sprechen gedachte.
Im nächsten Augenblick spürte Pia wie seine Hände an ihren Wangen lagen und sie öffnete erschrocken die Augen. Sein Gesicht war direkt vor ihrem. Es war das erste Mal, dass er ihr Angst machte.
„Erkenne dich selbst! Ich will dir jetzt sagen, was ich glaube, was dieser Spruch meint: Wenn jemand unserem Auge wie einem Menschen den Rat gäbe, und sagte, Besieh’ dich selbst; wie würden wir das anstellen? Wir würden dorthinein schauen, worin das Auge sich selbst erblicken könnte. Ein Spiegel etwa. Und das Auge selbst ist ebenfalls eine spiegelnde Oberfläche. Wenn ich dir in dein Auge hineinschaue, sehe ich mein Gesicht in der Pupille. Wenn ein Auge sich selbst schauen will, muss es in ein Auge schauen, und zwar in den Teil desselben, welcher für das Sehen verantwortlich ist: die Seele. Das Auge muss in die Seele schauen und sich selbst darin gespiegelt sehen. Und genauso muss die Seele, wenn sie sich selbst erkennen will, in eine Seele sehen und zwar in den Teil der Seele, welche für das wesentliche der Seele verantwortlich ist: die Weisheit.
Wenn wir uns nicht selbst erkennen, Pia, dann ist richtiges Handeln unmöglich. Dann sind alle Ratschläge sinnlos, die wir geben.“
In seinen Händen verwandelte sich Pias Gesicht. Er ließ ihren Kopf los, als habe der in seinen Händen Feuer gefangen.
So standen sie sich gegenüber und ihre Hände fuhren ihr über den Mund. Sie nickte.
„Du weißt, dass ich mit dir geschlafen hätte?“, fragte sie frei heraus.
„Dein Körper hat meinen Körper begehrt.“
„Das genügt nicht?“, fragte sie und wartete eine Antwort nicht erst ab.
Sokrates begriff, dass er auf sie eingestürzt war. Er wusste nicht einzuschätzen, ob das Gespräch ein Fehler gewesen war oder nicht. Schmerzlich musste er an Martin denken, der ihn heute Nacht nicht bis zum Schluss begleitet hatte. Er wusste, dass Martin mit Pia geschlafen hätte. Dass er kein Wort verschwendet hätte, keinen Gedanken, dass es ihm genügt hätte, begehrt zu werden und sein eigenes Begehren hätte darin aufblühen können.
Sokrates konnte so nicht sein. Er versuchte noch etwas zu sagen, dann brach er aber ab. Pia winkte ihn mit dem Kopf vorbei.
„Die warten auf dich nicht ewig, großer Meister.“, spottete sie.
„Nenn mich nicht so.“, befahl er. Aber seine Stimme hatte keine Kraft mehr.
„Liebling.“, verbesserte sie sich. „Schatz. Darling … geh! Verschwinde!“
Sokrates verließ den Garten und ging dem Lärm, befremdlich berauscht, entgegen.[1]
[1] Platon: Alkibiades