9 – Einfach ist es nie

„Wir haben jedenfalls Dokumente gefunden, in denen Sokrates ausdrücklich genannt wird. Nicht als Bekannter, sondern als Liebhaber und Lehrer von Pia Silbermann. Nennen wir es beim Namen: es sind Liebesbriefe. Ausdrückliche Liebesbekundungen für unseren Angeklagten, in der Handschrift der Journalistin Pia Silbermann!“, triumphierend stolzierte Mövius quer durch den Raum auf sein Schreibpult zu. Dort kramte er in seinen Unterlagen, offensichtlich suchte er die Liebesbriefe. Sokrates seufzte und stand vorsichtig auf:

„Euer Ehren?“, fragte er höflich.

„Einen Augenblick, Mövius. Der Angeklagte hat das Wort.“

„Ich werde die Lehrer-Schüler-Beziehung zu der genannten Person nicht abstreiten.“

„Wird er nicht?“, die Stimme kam aus Mövius Kehle als überraschtes Grunzen hervor. Er hatte sich offensichtlich auf einen längeren Wortwechsel zu diesem Thema vorbereitet. „Wird er nicht?“, wiederholte er mit kontrollierterer Stimme und dann sang er es fast: „Wird er nicht.“

Sokrates setzte sich wieder.

„Augenblick.“, beharrte der Richter. „Wollen sie zu ihrer Beziehung noch einen weiteren Kommentar verlieren.“

„Es ist noch nicht an der Zeit.“, murmelte Sokrates. „Nein, euer Ehren. Aber bald.“

Der Richter nickte und deutete auf Mövius, er solle fortfahren.

Mövius schwenkte indes triumphierend den Briefwechsel und legte ihn als Beweisstück dem Richter vor.

„Die Liebesbriefe.“

„Euer Ehren?“, fragte Sokrates erneut. „Wäre es möglich, dass ich diese Briefe auch einmal zu Gesicht bekomme. Immerhin wurden sie bei Pia Silbermann gefunden und somit offensichtlich nicht abgeschickt. Ich kenne ihren Wortlaut nicht. Ich habe nie auch nur eine Zeile davon gelesen. Es kann alles Mögliche darin stehen.“

„Es steht haarklein ihre Beziehung zur Silbermann darin!“, geiferte Mövius sofort.

„Haarklein?“

„Haarklein!“

„In allen Einzelheiten also. Und in vollkommener Übereinstimmung mit der Wahrheit.“

Mövius wackelte mit dem Kopf, als wolle er damit etwas ganz offensichtliches sagen. Sokrates setzte sich. „Soso.“, machte er. „Ich wollte ja nur verhindern, dass wir am Ende alle ganz überrascht dastehen, wenn sich herausstellen sollte, dass Pia Silbermann auch einmal etwas Unwahres zu Papier gebracht hat.“

Mövius zuckte zusammen und der Richter deutete an, man möge Sokrates die Papiere bringen. Durch das Publikum ging ein Raunen und der Richter empfahl Sokrates die Zeit zu lassen, sich die Papiere in aller Ruhe anzusehen.

Die Verhandlung wurde unterbrochen.

„Mistmade!“, fluchte Mövius, der wie zufällig an Sokrates Pult vorbeigekommen war.

„Sehr gut.“, lobte Toni ihn. „Jetzt weiß er wenigstens, dass er nur ein scheinbar leichtes Spiel mit uns haben wird.“

Besorgt hatte Sokrates auf die Briefe geblickt.

Erkenne dich selbst, Sokrates, selbst ich erkenne dich.

Bitte schau mir in die Augen und dann sage mir: siehst du tatsächlich dich selbst in mir? Wie gerne wäre ich jetzt bei dir. Vielleicht könnte meine Seele dir ja helfen bei deinem Bemühen. Du könntest einen Engel gebrauchen!

Sokrates stieß ein heiseres Lachen aus.

 

 

 

Was sagt ihr dazu?