Marie Mallarmé – Kapitel 3 (1)

Kurz nachdem er dem fremden Mädchen hinterher geschaut hatte, wie sie über den Flur huschte und dann die Treppe nach unten in Richtung Schlafräume verschwand, traf Thomeo eine erste Entscheidung.

Gemütlich packte er alle notwendigen Sachen zusammen, dann schlenderte er durch den Flur ebenfalls langsam nach unten. Anstatt aber im Stockwerk mit den Schlafgemächern das Treppenhaus zu verlassen, folgte Thomeo den Stufen noch ein weiteres Stockwerk. Hier führte vom Treppenhaus eine Tür nach links in den Flur mit den Behandlungs- und Besprechungs- und Therapiezimmern (und zum Erste Hilfe Trakt natürlich). Und eine zweite Tür führte geradeaus. Die nahm Thomeo.

Thomeo war ein Abenteurer.

Das hätte er zwar selbst nie über sich selbst gesagt oder auch nur gedacht. Aber es war das Bild, das Marie Mallarmé von dem Jungen in den nächsten Tagen gewinnen würde.

Dieses Urteil kam daher, weil Thomeos ganzes Auftreten sie an ein Bild erinnerte, das ihr Vater ihr einmal gestaltet hatte. Auf diesem Bild saß ein vielleicht 9-jähriger Junge mit dicker Fliegerbrille, Sommersprossen und flatternder Ledermütze in einem altmodischen roten Doppeldecker und flog hoch über einen ganz klein und unheimlich aussehenden Dschungel hinweg. Auf dem Heck des Flugzeugs kringelte eine Schlange, an den Rädern klammerte sich ein Stinktier fest, auf dem einen Flügel saß ein Vogel, der sich mit einem Flügel die Augen vor dem Gegenwind schützte. Unten vom Dschungel stieg an einer Stelle links Rauch auf und ganz rechts war ein brodelnder Vulkan. Darunter standen Worte, die ihr Vater ihr vorlesen musste:

„Abenteuer erleben nur die, die stark genug für Abenteuer sind.“

Eigentlich sah Thomeo überhaupt nicht so aus wie dieser Fliegerjunge aus Marie Mallarmés Vergangenheit. Aber wenn sie ihn jetzt so gesehen hätte, wie er mit blanken Füßen auf dem glatten Steinboden in Richtung dunkler Seite des Flurs patschte und vor allem, wie er dabei mit leicht überheblichem Lächeln im äußersten Rand seines Mundwinkels ausschaute, dann hätte sie gesagt: du bist vielleicht ein ganz anders aussehender Junge, aber du hast den selben Blick aus deinen Augen blitzen.

Es fehlte eigentlich nur noch, dass Thomeo gemütlich ein Lied gepfiffen hätte.

Am Ende des Flurs bog er dann nach links in einen großen, über und über gekachelten Raum: der Wasch- und Baderaum.

Er ließ heißes Wasser in eine Badewanne.

Ganz langsam zog er sich aus.

Er korrigierte die Wassertemperatur. Als es zu dampfen begann, schlenderte er zu den Fenstern und überprüfte jedes einzelne, ob es auch ja verschlossen war.

Dann zog er sich weiter aus.

Ein drittes Mal korrigierte er die Wassertemperatur und als er das Wasser ausdrehte, registrierte er vergnügt, dass ein Ventilationssystem von den heißen Wasserdämpfen angeregt worden war, sich summend in Bewegung zu setzen.

Thomeo nahm einen Stuhl, rückte ihn bis zu der Wand, wo sich der Ventilationsschacht befand, öffnete ihn und hielt mit der flachen Hand den sich drehenden Ventilator an. Das Summen war jetzt deutlich leiser. Und um genau diesen Effekt beizubehalten, klemmte er einen Stein so ein, dass der Ventilator stecken blieb.

Dann stieg er in das dampfende Badewasser und wartete.

Folgt man dem Weg des Wasserdampfes, so wäre dieser normalerweise von dem Ventilator in einen Schacht gesogen, worin sich inzwischen eine wenn auch kleine, so doch für Thomeo sehr notwendige Strömungsklappe geöffnet hatte. Diese Strömungskappe war bis vor kurzem noch geschlossen gewesen. Und alles, was passiert wäre, wenn Thomeo sich dann in dem Baderaum aufhielt, war nichts. Ganz einfach.

Doch sobald die Klappe geöffnet wurde, weil sich der Ventilator drehte, weil der Wasserdampf im Baderaum spürbar höhere Luftfeuchtigkeit und Wärme produzierte, geschah ein kleines Wunder.

Nun ist es eigentlich kein Wunder, eigentlich handelt es sich um bloße Physik. Aber Thomeo, den man an dieser Stelle bereits als den eigentlichen Herrn des Heiligen Geists beschreiben darf, war ein Meister darin, die Physik für seine Zwecke arbeiten zu lassen.

Hinter der nun geöffneten Strömungsklappe gab es einen weiteren Luftschacht und dieser endete in einem gut möblierten Raum direkt über einem Bild mit dem Titel „Sappho“. Das Bild einer Frau auf einer steinernen Löwenbank vor einem schönen Ausblick über ein Meer.

Unmittelbar unter dem Bild stand eine lederne Couch, genau gegenüber eines Stehpultes.

Thomeo schloss zufrieden die Augen als er durch das Summen und durch den Lüftungsschacht hindurch die Stimme von Doktor Zeller hörte, der eine sehr komplizierte Melodie pfiff.

Und dann wartete Thomeo, bis sich im jenseitigen Zimmer die Tür öffnete und Dr. Zeller begrüßend sagte: „Frau Mallarmé, Marie Mallarmé, schön dich zu sehen.“

Von da an war Thomeo ganz Ohr.

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