Marie Mallarmé – Kapitel 2 (2)

*

Regeln mit dem Heiligen Geist:

  1. Nie in totaler Dunkelheit schlafen
  2. Nicht der Frau in der Küche sagen, dass das Essen nicht schmeckt
  3. Nichts essen, wo „Karotten aus dem Garten“ dransteht
  4. Nicht allein mit Schwester Sabeth in der Ersten Hilfe sein
  5. Dr Zeller nie fragen, was das soll, was er da tut

Und vor allem:

  1. Abstand zum Bild in der Lobby halten
  2. Verdammt großen Abstand

 

Zwischen Punkt vier und Punkt fünf war vor kurzem eine neue Sache hinzugekommen und stand deshalb etwas eingequetscht zwischen den Zeilen:

4,5. Nicht Colli mögen

Der Punkt war klar hinzugefügt worden, nachdem Claudine sich so geärgert hatte. Und er bedurfte keine weitere Frage.

Alle anderen Punkte waren schön sauber notiert in einer sehr interessanten Schrift, mit Verwirbelungen und blumigen Verzierungen an den Enden der Buchstaben.

Als Marie Mallarmé wieder in ihrem Zimmer war, beschloss sie die Regeln wie eine Landkarte zu verwenden. Wenn sie dieses neue Zuhause verstehen wollte, musste sie natürlich die Regeln verstehen, die ihr Bernard gegeben hatte. Und um die Regeln zu verstehen, musste sie sich auf den Weg machen.

Die erste Regel war leicht zu verstehen. Aber kaum hatte sie die gelesen und sich nun ein zweites Mal in ihrem Zimmer umgeschaut, da waren es ein paar Sonderbarkeiten, die ihr jetzt erst auffielen. So war zum Beispiel der große, dicke Lichtschalter – ein Drehschalter, wohlgemerkt – recht unnütz. Denn man konnte ihn mit lautem Klacken nach links und rechts drehen, ohne dass etwas geschah. Licht gab es nur durch kleine Stehlämpchen an den Betten. Und dann gab es das große, schmale Fenster. Dort waren Vorhänge von innen zuzuziehen, es gab Jalousien – weiß und etwas schäbig – die man herablassen konnte. Und von außen gab es Klappläden, die etwas behäbig knirschten und quietschten, wenn man sie von der Fassade weg vor das Fenster zog.

Die Betten selbst waren Stockbetten. Und jede Kabine konnte wiederum mit einem schwarzen, muffigen Vorhang zugezogen werden. Dahinter gab es dann noch einmal ein viel kleineres Leselämpchen.

Kurzum: das Zimmer bot mehr Möglichkeiten zur Verdunkelung, als zur Beleuchtung.

Der zweite und dritte Punkt führten Marie Mallarmé in die Mensa.

Die Tür zur Küche war offen. Sie huschte hinein, um sich umzusehen. Es war niemand hier. Also schlenderte sie zwischen den Küchenschränken und Kochinseln und an den großen Waschbecken vorbei. Auf Zehenspitzen lugte sie durch rundes Fensterglas, das in eine dicke Metalltür mit schwerem Riegel eingelassen war. Durch die Dunkelheit dahinter erspähte sie kaum etwas. Aber die Tür und das Glas waren so kalt, dass ein leichter Reif darauf lag. Eine Kühlkammer, dachte Marie Mallarmé und ging weiter.

Sie gewann das Gefühl, dass sie hier nichts verloren hatte und dass man sie anschimpfen würde, wenn man sie hier anträfe. Dieses Gefühl machte ihre Bewegungen noch sorgsamer und leiser. Es gab eine Tür nach draußen und da war ein größeres Glas eingelassen. Von draußen lehnte eine große, breit gebaute Frau dagegen: die Köchin. Sie stand da und rauchte wohl.

Fasziniert starrte Marie Mallarmé diesen Ausschnitt von einem Rücken an.

Die Kleider mochten heute Morgen noch blütenweiß gewesen sein. Jetzt waren überall Fettflecke, vorn wie hinten. Und schmierige Streifen, ja selbst da hinter den Schulterblättern, an der einen Stelle, die von dem Türglas eingerahmt wurde. So breit war die Frau gebaut, dass sie Marie Mallarmé fast wie ein Wesen aus einem Märchen vorkam. Aber kein gutes Wesen, gewiss nicht. Die Atmung der Köchin ging ganz schwer und der Rauch, der aufstieg und nur kurz für das Mädchen sichtbar wurde, erinnerte sie an alles Böse und Schlechte, was ihr je widerfahren war.

Es gibt Menschen, die sieht man, oder man erhascht einen kurzen Eindruck von ihnen, und sofort denkt man, dass dieser Mensch einem gut ins eigene Leben passen würde. Dass man gerne bekannt oder sogar befreundet wäre. Eine Sympathie, die nur einen Sekundenbruchteil, einen Funkenflug von einem Auge zum nächsten braucht, um in beiden Seelen entfacht zu werden.

Aber Marie Mallarmé hatte länger als eine Funkenflugsekunde Zeit und auch wenn sie nur einen groben Ausschnitt eines noch gröber geschnitzten Frauenrückens zu Gesicht bekam, so wurde ihr so unheimlich zu Mute, als habe man sie in eine Löwengrube geworfen.

„Heda!“, brüllte es plötzlich und der Rücken erbebte vor ihren Augen. „Heee! Duuu!“, es war die Stimme der Köchin selbst und sie schnippte jetzt ihre Zigarette in hohem Bogen davon und stieß sich von der Wand ab, trat ein paar Schritte vor.

„Was hast du hier zu suchen?“, knurrte die Köchin.

Obwohl Marie Mallarmé wusste, dass nicht sie selbst gemeint war, sondern draußen gerade ein anderes Kind wohl der Köchin in den Sehkreis geraten war, jagte ein Gefühl der Schuld und des Ertapptseins durch Marie Mallarmés kleinen Brustkorb hindurch und sogleich wirbelte sie herum und stürzte zurück in die Mensa, wo sie sich an die Regel Bernards erinnerte und beschloss, es wahrhaft nicht darauf anzulegen, dieser Frau näher als nötig zu kommen.

Die dritte Regel war wieder recht einfach. Denn es gab draußen – zum Glück jetzt nicht in der Nähe der Köchin, sondern auf der anderen Seite, zwischen Küche und Mensa gelegen – einen gemütlichen, kleinen Garten mit Kräutern und Gemüse. Aber nichts hier sah appetitlich aus. Im Gegenteil, die Erde war nicht dunkelbraun, sondern fast gelb. Und sie stank. Marie Mallarmé sah außerdem nach oben und direkt über ihr, drei Stockwerke höher, da war ein kleiner Vorbau an der Mauer angebracht. Und da war ein Loch in der Wand. Und las Marie Mallarmé die Augen zusammenkniff, um dort oben in der Entfernung genauer etwas erkennen zu können, da war ihr …

„Fledermäuse.“, sagte jemand hinter ihr. Und sie erschrak heftig. Als sie sich umdrehte, stand Bernard da. Er zeigte nach oben und sagte: „Da oben in dem Loch in der Wand, da wohnen Fledermäuse. Und da unten, direkt über unserem kleinen Gemüsebeet, da ist ihre Toilette.

Sag mal, was machst du hier draußen?“

„Ich wollte die Karotten sehen.“, erklärte Marie Mallarmé. „Punkt 3.“, aus ihrer Tasche angelte sie die Regelliste, die Bernard ihr heute Morgen gegeben hatte.

Er lachte und klatschte in die Hände.

„Dann hast du dir bestimmt die Köchin auch schon angesehen, wie? Unseren Küchentroll.“

Ihr Gesicht war Bestätigung genug.

„Sie ist nur halb so schlimm wie sie aussieht. Aber sie hat eine furchtbar anstrengende Stimme, nicht wahr. Sie klingt so, als hätte sie mal eine alte Gieskanne verschluckt, hab ich Recht?“

„Sie hat eine ganz hässliche Stimme.“, stimmte Marie Mallarmé zu. Und dann kicherte sie, weil ihr die Beschreibung „Küchentroll“ sehr passend erschien.

„Sie hat auch Haare auf dem Rücken.“, flüsterte Bernard verschwörerisch. „Und richtig dicke Muskeln. Mit Adern, die herausstehen wie dicke Schnüre.“

„Wer ist die nächste auf deiner Liste?“, fragte sie anstatt auf seine Übertreibungen einzugehen. Sie warf einen Alibiblick auf das Papier. Aber natürlich wusste sie es: Schwester Sabeth.

„Eine Nonne.“, erklärte Bernard. Und die beiden begannen durch den Park zu schlendern. „Sie kümmert sich gemeinsam mit Schwester Loth um die Krankenstation. Wir haben so etwas ähnliches wie unser eigenes kleines Krankenhaus, musst du wissen. Wir haben hier eigentlich von allem ein bisschen was. So als wären wir eine kleines Dorf, das in ein einziges Gebäude gepresst worden wäre. Wir haben eine Bibliothek und eine kleine Kapelle, wir haben im Keller …“

„Und Schwester Sabeth ist …“, Marie Mallarmé hatte schnell begriffen, dass Bernard gern das Thema verlor, um das es eigentlich ging. Und zum Glück machte es ihm überhaupt nichts aus, von ihr wieder zurück geführt zu werden. Im Gegenteil: er lachte sogar über sich selbst und über sein gedankliches Davongaloppieren.

„Ach ja, Schwester Sabeth.“, sagte er hastig und ohne zu fragen hakte er sich bei dem Mädchen an seiner Seite ein. „Du wirst sehen, sie ist ziemlich auffällig. Sie und Loth tragen beide die Pinguinuniform. Das heißt: Sie sind Nonnen.“

„Ich verstehe.“, sagte sie mit gesenktem Kopf.

„Aber Schwester Loth ist unfassbar lieb. Sie kümmert sich sehr gut um uns alle und hat so viel Herz wie sonst keiner auf der Welt. Ich hab sie mal gemalt, das Bild hängt im Krankenflügel. Und sie hat sich so sehr darüber gefreut, dass sie es sogar hat einrahmen lassen. Oh, tut mir leid …“, diesmal hatte er es selbst gemerkt, dass er keine wirkliche Antwort auf die neugierige Frage des Mädchens gegeben hatte.

„Schwester Sabeth hat eine alte Seele, verstehst du, was das heißt?“

Marie Mallarmé schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Ahnung.

„Nun, wie beschreib ich dir das?“, murmelte Bernard zu sich selbst. „Sie ist jung, vielleicht sogar etwas jünger als Loth. Aber sie lacht nicht. Eigentlich sogar nie. Und wenn, dann ist es kein schönes Lachen, sondern mehr so eins aus Gehässigkeit. Sie hat eine sehr dunkle Seite. Ja, also, tut mir leid. Besser als sie hat eine alte Seele, kann ich dir das auch nicht beschreiben. Aber du brauchst auch heute nicht in den Krankenflügel zu gehen. Seit ein paar Wochen ist Schwester Sabeth nicht da. Sie ist krank oder einer aus ihrer Familie ist krank. Keine Ahnung. Jedenfalls kommt sie wohl erst nächste Woche wieder.“

„So ein Glück.“, sagte Marie Mallarmé, aber nicht, weil sie das so empfand, sondern weil sie das Gefühl hatte, dass sie das jetzt für Bernard sagen musste.

Er reagierte auch wieder mit einem strahlenden Lächeln: „Ja, nicht wahr? So ein Glück.“

„Und das da?“, wollte sie auf einmal wissen. „Wer ist das?“

„Sie waren auf der anderen Seite des Gebäues inzwischen angekommen. Hier standen ein paar schöne Zypressen an einem etwas morsch aussehenden Laubengang. Aus Holz geschnitzte, grobschlächtige Schwäne standen in der braunfleckigen Wiese hier und da. Marie zeigte auf einen Jungen, der gerade mit dem Rücken an einen dieser Schwäne gelehnt zu ihnen herüber blickte.

„Das ist Thomeo.“, erklärte Bernard. „Für den gibt es keine Regel. Der wohnt unterm Dach. In einer Kammer, in der man eigentlich nicht wohnen kann.“

„Warum wohnt er da?“, wollte sie wissen.

„Frag ihn doch selbst.“

Und eigentlich wollte sie ihn das fragen. Das war auch der Grund, weshalb sie ein paar Stunden später nach oben ging. Dann war sie so leise geschlichen, dass er sie nicht hatte kommen hören. Und er hatte auf der Matratze gelegen und gesungen. Das Lied von dem Wurm in den Wolken.

Und sie hatte gelauscht und als er fertig war, war sie nach unten gerannt.

So schüchtern und leise wie man eben rennt, wenn man sich ganz heimlich an die eine Stelle herangeschlichen hatte, wo der dunkelste und trübste aller Orte am hellsten und freundlichsten ein Leuchten beherbergte, das nur Marie Mallarmé sehen und spüren konnte.

*

Sie wusste es nicht, aber Thomeo hatte sie sehr wohl gehört.

Und er hatte an der Tür gestanden und ihr hinterhergeblickt, wie sie schüchtern davon gerannt war. Er hatte „Na so was, na so was.“, gemurmelt und sich wieder ins Bett gelegt. Und am nächsten Tag hatte er sich einfach zu Claudine, Bernard und Marie Mallarmé an den Frühstückstisch gesetzt. Und draußen tobte der unfassbar widerliche Regen, weshalb der kommende Tag alle Kinder des Heiligen Geists zum Drinbleiben verdammte.

(Ende Kapitel 2)

Was sagt ihr dazu?