Ich glaube mich an den letzten Strohhalm
Verstaue mich in meinem letzten Revier
Ich vertraue auf meinen letzten Wortqualm
belauere das zerbrechliche Stückchen im Hier.
Die Schlucht atmete. Ich war mir sicher.
Langsam beugte ich mich vor und blickte nach unten. Nichts als Schwärze. Da war nichts, außer diesem Atem, der überraschend warm gegen mein vorgestrecktes Gesicht stieß. Und, wenn mich nicht alles täuschte, dann war da noch … dieser Sog. Anders kann ich es nicht nennen. Ein unwiderstehlicher Drang, der dem Vorbeugen folgte, als griffen unsichtbare Hände verführerisch nach meinem Kopf, als umspielten zärtliche Finger aus Dunkelheit meine Schläfen und als lockte mich tatsächlich ein Etwas.
Es war zum Frösteln kalt. Deshalb hatte ich mir meine Weste enger um den Leib gezogen. Die Arme waren vor dem Körper überkreuzt. Für einen Sekundenbruchteil stellte ich mir vor, wie ich in dieser Haltung da hinunter stürzen würde. Und ich empfand die Vorstellung an einem Sturz in diese unbekannte Leere nur halb so erschreckend, wie es hätte sein müssen.
Steine rieselten von meinem Fuß angestoßen nach unten.
In meinem Kopf drehten sich soeben die Gedanken und die Worte umkreisten die Bilder meiner Fantasie, als ich es zwischen meinen Beinen hindurchkriechen spürte.
Dieses Gefühl, das mich tatsächlich fast zu Fall gebracht hätte, riss mich wieder in die Realität zurück. Denn jetzt von etwas Unbekannten gestoßen zu werden, war überraschenderweise wirklich erschreckend. Es war merkwürdig genug: wäre ich selbst dem verlockenden Sog, der von dieser grauenhafte Tiefe ausging, gefolgt, ich bin mir sicher, ich wäre friedfertig, fast selig gestürzt. Doch gestoßen zu werden, auch wenn es das selbe Ergebnis gehabt hätte, das machte mich panisch genug, mehrere Schritte zurück zu springen und einen rasenden Herzschlag zu bekommen.
„Um Himmels Willen!“, schrie ich, als ich sah, dass es aschgraue Katze mit entsetzlich verfilztem Fell gewesen war, der ich es gleichermaßen zu verdanken hatte, dass ich beinahe wirklich gestürzt wäre, als auch, dass ich nicht gestürzt war.
So paradox dieser Gedanke auch war, viel absurder war die Art, mit der sie mich ansah, geradezu musternd und herausfordernd.
Sie legte sich zwischen mich und den Rand der Schlucht und begann in aller Seelenruhe ihre Pfote zu lecken.
„Du hättest mich beinahe im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode erschreckt.“, warf ich ihr trotzdem vor.
„Hätte ich das?“, maunzte sie, mit einer Stimme, wie sie nur einer Katze zu Eigen sein konnte. Lauernd und abschätzig, fast spöttisch. So sehr es mich auch überraschte, dass sie zu mir sprach, war doch die Art wiederum derart typisch, derart erwartbar, dass ich keineswegs zögerte.
(Es hatte sogar etwas Beruhigendes, wie sie da sprach. Fast, als ob die Art ihrer Sprechweise das erste Vorhersehbare in dieser Zeit gewesen wäre.)
„Ich bin jedenfalls froh, dass ich mich noch retten konnte.“, log ich. Froh war ich vielmehr darüber, dass sie mich durch ihren sanften Stoß gerettet hatte.
Katzen sind merkwürdige Tiere.
Ihre Anmut beziehen sie vor allem aus der simplen Tatsache, dass ihr gesamtes Wesen von Uneindeutigkeit und Geheimnis durchwoben war.
„Nun.“, sagte sie und legte ihren Kopf zwischen ihre Vorderpfoten. Dass sie ihre Augen schloss, wertete ich als Provokation. Denn sie war es ja gewesen, die auf mich zugekommen war.
Die Augen schließt man nur, wenn einem das Thema als beendet vorkommt. Ich hätte jetzt weiter gehen sollen, sie hier zurücklassen (wie um alles in der Welt war sie überhaupt hierher gekommen?).
Aber ich blieb. Ich setzte mich sogar hin. Mit angezogenen Knien und sah über ihr im Atemwind bebendes Fell hinweg.
„Ist es verrückt, dass ich das Gefühl habe, die Schlucht würde mich rufen?“, fragte ich sie halblaut.
„Wer weiß.“, antwortete sie gedehnt. „Man sagt, die wenigsten seien verrückt, die noch etwas als verrückt empfinden. Verrückte denken gewöhnlich immer, alles sei normal.“
„War schon mal jemand am Boden der Schlucht?“
„Ein paar.“, sie fletschte die Zähne beim Sprechen. Ein hinterhältiges Grinsen, das mir mehr verriet, als ich wissen wollte.
„So habe ich das nicht gemeint.“, korrigierte ich mich.
„Ich weiß.“, sagte sie. Und jetzt schien sie sich zu langweilen. Denn sie stand auf und schlenderte auf die Schlucht zu.
„Du hast jedenfalls nicht das Gefühl, dass die Schlucht dich ruft.“
„Nein.“
„Oder, dass du einen Schritt weiter gehen müsstest. Du siehst nicht mal hinab, hab ich Recht?“
Sie atmete schwer, dann sagte sie: „Es gibt Menschen, die haben sehr lange ausgehalten. Und an dieser Stelle gestanden und hinabgesehen. Es gibt Menschen, die sich Wachs in die Ohren stopften, um das Rufen nicht mehr zu hören. Und es gibt Menschen, die aus Angst nie auch nur bis zu deiner Stelle gekommen sind.“, dann drehte sie sich wieder zu mir um und ihre Augen funkelten durch die Dunkelheit hindurch, die von dem Boden der Schlucht zu uns nach oben waberte. „Es gibt Legenden, die erklären, warum wir Katzen uns nicht angezogen fühlen. Weil wir da unten geboren werden. Wir sind Hochgekommene.“
Es ist unmöglich zu beschreiben, wie sie dieses letzte Wort aussprach. Es klang fast wie ein Fauchen. Aber es steckte kein Zorn oder Wut in diesem Laut. Sondern ein Gefühl, das uns Menschen abgeht.
(Kein Wunder, dass man Katzen früher als Götter behandelt hat.)
Sie sah mich herausfordernd an und trat wieder zu mir. Ein paar Sekunden später lag sie in meinen Schoß und schnurrte. Meine Finger tasteten sich ihren Weg durch ihr Fell.
„Und jetzt? Was hast du jetzt vor?“
„Ich weiß es nicht.“, gestand ich ehrlich. „Und du?“
„Noch eine Weile bleiben.“
„Warum?“, wollte ich wissen.
„Zwei Dinge.“, sagte sie. „Bitte nie eine Katze um Erlaubnis. Frag nie eine Katze nach einem Grund.“
Ein Grund, schoss es mir wieder durch den Kopf und ich hatte auf einmal das Gefühl, sie könne meine Gedanken lesen. Ihre Augen waren nur zu einem winzigen Schlitz geöffnet. Aber sie glühten so hell, dass es mich zwischen den Schläfen blendete.
„Dann wirst du mich jetzt also eine Weile begleiten.“, sagte ich. Halb Frage, halb Feststellung. Das wiederum gefiel ihr. Und ich begriff, dass ich aufpassen musste, wie ich mit ihr zu sprechen hatte.
„So lange es eben dauert.“
„Merkwürdig.“
„Was?“, schnurrte sie.
„Ich sollte mich jetzt sicherer fühlen.“
Sie grinste mich wieder mit gefletschten Zähnen an.
„Tut es aber nicht.“
„Gut.“, schnurrte sie. „Du lernst dazu.“
(Okt. 2017)