Das Suppenhuhn (1/2)

Es gibt Gefühle auf deiner Haut, die wirst du so schnell nicht los.

Das ist so ähnlich wie Familie. An der bleibst du auch ständig kleben. Und wenn es so läuft wie bei mir, dann verfolgt die einen bis in die Träume hinein.

Ich hab mal geträumt, dass ich sturzbetrunken irgendwo zwischen zwei Dörfern auf der Umgehungsstraße zu Fuß nicht mehr weiterkomme. Also rufe ich meinen Bruder an und der würde mir gern helfen, muss sich aber erst noch anziehen. Also gibt er das Telefon schnell seiner Freundin und die will mit mir über Weißgottwas reden. Ich sage. „Kannst du mir bitte Tom wieder geben.“ Versteht sie den Namen meines Bruders nicht – zu ihrer Verteidigung: im Traum nuschelt mein betrunkenes Ich aber auch wirklich unerhört. Und dann werde ich an jemand anders weiter gereicht. Einen, der gerade zu Besuch ist, und den ich nicht kenne und mit dem ich nichts zu reden habe. Der gibt mich auch einfach weiter und so wandere ich von Gesprächspartner zu Gesprächspartner und alles, was ich will, ist meinem Bruder sagen, wo auf dieser Welt ich stehe und er mich abholen soll. Natürlich ist der Clou, dass ich am Ende sogar den Hund an die Leitung kriege, der mir in gestochen scharfer Sprache mitteilt, er würde mir sehr gerne meinen Bruder an den Fernsprecher holen (der Hund hat im Traum wirklich das Wort ‚Fernsprecher’ verwendet), aber der sei eben mit dem Motorrad weggefahren, um etwas irgendwo aufzulesen.

Als ich auflege und langsam spüre, dass ich am Aufwachen bin, denke ich ununterbrochen: Motorrad! Wieso um alles in der Welt denkt mein Bruder, dass ich zu betrunken zum Laufen, aber nicht zu betrunken zum Festhalten auf dem Motorrad bin?

So läuft das bei mir in der Traumwelt. Und leider auch viel zu oft in der Wirklichkeit. Na gut, mein Bruder hat keinen Hund und ich habe seit fünf Jahren keinen Alkohol mehr getrunken, aber es geht ums Prinzip.

Mein Schwiegervater zum Beispiel, der kann nur zu Besuch kommen, wenn er uns auch etwas Gutes tun kann. Das klingt jetzt unfassbar nett und ich würde ihn um nichts auf der Welt austauschen. Außerdem war es tatsächlich oft so, dass auch wirklich zufällig etwas fehlte. Nein, wirklich zufällig. Ich rede von den echten Zufällen.

Wir wollten ihm eine Freude machen und Hühnerbrühe ansetzen. Nicht, weil wir die so gut können, sondern weil er die so gern isst und weil es ein gutes Gewissen gibt, wenn man mal wieder Essen ‚echt’ macht. So nennt er das. Essen ‚echt’ machen. Also nicht auftauen oder Mikrowellen-Essen, Fastfood oder mit Geschmacksverstärkern. Es geht um echtes Gemüse, das über Nacht mit einem echten Hühnchen in einem echten Topf mit echtem Wasser leibhaftig kocht und auf magische Art zu einer gesunden wie schmackhaften Brühe wird.

Das Gute ist, dass es auf dem Wochenmarkt immer einen Bündel mit „Suppengemüse“ gibt. Das Schlechte, dass es an diesem Tag ausgerechnet keine Suppenhühner mehr in der Metzgerei gab.

„Kann doch nicht sein, dass heute jeder Suppenhuhn haben wollte!“, sage ich erstaunt.

„Issauchnich“, antwortet der Metzgereifachverkäufer nuschelig.

„Sondern?“

„Hattendasnie.“

„Was?“

„Hattendas – nie!“

Ich schüttele irritiert den Kopf, weil es ja keine Rolle spielt, wer jetzt Recht hat. Er, der er als Sach- und Fachverständiger jederzeit sich auf seine naturgegebene Autorität hinter der Metzgerstheke berufen kann, oder ich, der ich letzte Woche schon mal ein Suppenhuhn gekauft hatte, um die Suppe mal wieder auszuprobieren. Probekochen gehört zu unserer Familie genauso dazu wie die Generalprobe zum Theater.

Der Vorteil von Probekochen ist, dass wenn dir das Essen an der Premiere misslingt, deine Kinder jederzeit deinen Kopf retten können: „Letzte Woche hat es besser geschmeckt, Papa.“

„Ich weiß, ich hab wohl diesmal das Salz vergessen.“, oder so ähnlich könnte man das formulieren und damit ausdrücken, dass es neben einem DIESMAL auch ein SONSTSO gibt.

„Was soll das heißen?“, fragt er mich erstaunt über den tragbaren Fernsprecher.

„Jeder in der Umgebung macht wohl Hühnersuppe, heißt das wohl.“, antworte ich meinem Handy.

Ich kann förmlich sehen, wie mein Schwiegervater den Kopf schüttelt. Dann sagt er: „Das gibt’s hier nicht.“

„Natürlich gibt’s bei euch auch mal ausverkaufte Suppenhühner.“, widerspreche ich und tappe damit in die Falle.

„Ich komme ja morgen zu euch. Dann tu ich euch was Gutes und bring euch ein Suppenhuhn von hier mit. Sind sowieso besser.“

„Was ist besser?“

„Wollte ich dir das letzte Mal schon sagen.“, erklärt er gut gelaunt. „Deine Hühnersuppe schmeckt ja nie so besonders. Das ist meiner Meinung nach nicht das Salz. Du machst das schon gut mit dem Salz. Nie zu viel und nie zu wenig. Das sind die Hühner. Die leben bei uns in der Region einfach besser. Und unser Metzger hat nur die Hühner vom Treibelhof. Kennste den?“

Und dann werde ich wie im Traum weiter gereicht. Nur ist es nicht von einer Person zur nächsten, sondern von einem Thema zum nächsten.

Und als er dann tatsächlich einen Tag später hier ist, hält er stolz triumphierend drei eingepackte Hühnchen in den Händen.

„Suppenhuhn.“, verkündet er stolz.

„Oh, danke.“, sage ich und ignoriere die Blicke meiner Frau.

„Ich sag dir“, sage ich noch mal. Diesmal laut genug, damit es jeder hören kann, auch meine Frau. „da war wirklich kein Suppenhuhn mehr in der Metzgerei.“, als ob ich zu blöd zum Kaufen wäre.

„Macht ja nix.“, sagt mein Schwiegervater, legt die Vögel donnernd auf die Küchenzeile. „Sind gefroren.“

„Ja … äh … wir haben jetzt für heute Rinderbrühe gemacht. Gemüse und alles war ja da. Hat ja nur der Vogel gefehlt.“, erkläre ich. In Gedanken bin ich schon dabei, zu überlegen, wo ich drei Suppenhühner die nächsten Tage über verstecken kann.

„Sind keine Suppenhühner.“, sagt er dann auf einmal.

„Was?“

„Sind Tiefkühlhühner. Gehen auch.“

Und geht fort.

Meine Schwiegermutter erklärt: „Die hatten bei uns keine Suppenhühner mehr. Waren ausverkauft. Ist grad so ne Erkältungssaison. Da macht sich jeder bei uns zu Hause ne Suppe selbst. Sollten mehr Leute tun.“

„Machen mehr Leute.“, sag ich.

„Glaub ich nicht.“, sagt sie.

„Schade, dass ihr die Hühnersuppe jetzt heute nicht mehr essen könnt.“

„Machst du sie halt nächste Woche. Ihr seid ja auch immer krank.“

Fortsetzung folgt hier: Teil 2

Was sagt ihr dazu?