Begegnungen – ein Essay

Martin Buber schrieb „Die fundamentale Tatsache der menschlichen Existenz ist der Mensch mit dem Menschen. Was die Menschenwelt eigentümlich kennzeichnet, ist vor allem andern dies, dass sich hier zwischen Wesen und Wesen etwas begibt, dessengleichen nirgends in der Natur zu finden ist.“

Wir Menschen sind schon merkwürdige Wesen. Gefangene sind wir regelrecht. Jeder von uns sitzt eingepfercht in seinem körperlichen Gefängnis voller Sinne und wir blicken aus unserem Gefängnis hinaus in die Welt. Wir sehen: andere Gefängnisse. Und wenn wir dort hinüber sehen und einem anderen Gefängnis durch die Gitterstäbe blicken, dann passiert etwas. Es entsteht etwas im Zwischenraum.

Es passiert mir oft, dass ich auf dieser Welt anecke. Und meist, so habe ich das Gefühl, bin ich recht unschuldig dabei. Ich gehe an einem fremden Mann in der Fußgängerzone vorüber und auf einmal rennt er mir hinterher und brüllt mich an, ich habe ihm auf den Kopf geschlagen. Er bezichtigt mich einer ausländischen Nationalität anzugehören, so als wäre das eine Beleidigung. Und er stößt sich nicht einmal daran, dass ich in gestriegeltem Hochdeutsch zu antworten und zu schlichten versuche, ihm Verständnis entgegenbringe und so alles anstelle, um dem Bild, das er von mir hat, zu widersprechen.

Aber nein, beharrt er, er kenne solche wie mich und er wolle mich anzeigen. Er fotografiert mich sogar, droht mir unentwegt und verfolgt mich, obgleich ich mich ruhig bemühe, von ihm zu entfernen und jeden Stress zu vermeiden. Soll er mich für ein Opfer halten oder für einen arroganten Täter. Wofür er mich hält, denke ich, ist mir gleichgültig. Ich habe ihm nichts getan und er diskreditiert sich durch seine Art des Schimpfens als jemand, dessen Wort und Werturteil nicht viel Gewicht haben.

Es entsteht nichts zwischen uns, denke ich. Ich bin ich, einer, der in meiner Welt eingeschlossen ist und mit jemandem wie ihm – braune Kordhose, zerschlissene, viel zu große Jacke, viel zu nah dem Alkohol zugeneigt und viel zu weit von Sauberkeit und Pflege – mit jemandem wie ihm kann ich von meiner Perspektive aus nur schwer etwas anfangen. Ich kann mich bemühen, mich zu ihm setzen und ihm zuhören. Aber so deutlich wie hier ist es mir noch nie bewusst geworden, wie unterschiedlich die Welten doch sein können, die sich in den Körpern und den Biografien abspielen. Die Leibnizsche Monade: allesamt Spiegel des Universums, allesamt nur einzelne Splitter desselben. Jede Monade unfähig sich in eine andere hineinzuversetzen. Jeder für sich. Jeder allein.

Und dann Buber: Zwischen Wesen und Wesen begibt sich etwas, entsteht etwas. Oder formelhaft ausgedrückt: Das Ich wird am Du zum Ich.

Auf dem Papier ist das vollkommen einleuchtend. Da haben wir ein einzelnes in der Welt stehendes Ich, das dadurch, dass es sich an nichts und niemandem reiben kann, nicht selbst definieren kann. Erst wenn es einen Zweiten gibt, kann das Ich, entweder durch Sympathie oder Antipathie, durch Identifizierung oder Abstoßung und Entfremdung, ein eigenständiges komplexes Ich bilden. Ich will nicht wissen, was aus mir geworden wäre, wenn ich allein auf der Welt gewesen wäre. Selbst Tom Hanks braucht auf der einsamen Insel einen Volleyball mit dem er reden kann, sonst würde er „verrückt“ werden. Er würde sein Ich verlieren.

Aber es ist ja mehr, es heißt ja: Es entsteht etwas zwischen dem Du und dem Ich. Was soll da entstanden sein zwischen mir und dem, der mich, nur gerechtfertigt von irrigen Wahrnehmungen, auf offener Straße beleidigte?

Emmanuel Lévinas verwendet lieber das Wort „der Andere“. Und genau wie Buber geht er davon aus, dass die zunächst ins Zwischen-Menschliche gebrachte Sprache nur mediale Zeichen sind. Aber er setzt der traditionellen Sprachskepsis, welche behauptet, jede Sprache sei zum Missverständnis verurteilt, entgegen: Zweifel an der Sprache dürfen nicht dazu führen, dass das zu Sagende gleichgültig wird oder dass Verantwortung durch Indifferenz ersetzt wird. Was man nicht machen dürfe, wären Mitmenschen durch vereinnahmendes Denken in deren Anderssein zu vernachlässigen. Wir Menschen neigen oft dazu, in Schubladen zu denken oder gemäß dem Sprichwort „Für einen Hammer sind alle Probleme Nägel“ uns gegenseitig zu kategorisieren. Nehmen wir den Fremden aus dem Beispiel und stellen wir uns vor, wie dieser Mann in seinem Leben nur mit Menschen bestimmter Nationalität – in meinem Fall ‚Bulgaren’ – Probleme erfahren hat. Von da ausgehend assoziierte er mich nur deshalb mit einem Bulgaren, weil er das Gefühl gehabt hatte, ich habe Ärger mit ihm gesucht. Sein Denken war vereinnahmend und degradierte mich, wie Levinas sagen würde, zu einer Sache. Ich wurde regelrecht entmenschlicht. Und von da ausgehend versperrte sein Herangehen an mich die Chance, dass tatsächlich zwischen uns etwas entstehen konnte.

Bei Lévinas ist die Rede von Offenheit und gemeint ist nicht etwa eine unbedingte Toleranz oder ein unbedingtes Wertschätzen, weil dies von selbst entsteht. Gemeint ist eine Offenheit, die dem Anderen die Chance gibt, sich selbst zu definieren.

Augen spielen bei Lévinas eine große Rolle, Augen und der Blick in die Augen des Anderen. Denn erst durch diesen Blick gerät das Menschliche im Menschen wieder in den Vordergrund. Im Auge kann die Kategorie, mein Vorurteil, mein sprachliches Missverständnis nicht von Bestand sein.

Ich erinnere mich, dass man Frauen rät, im Falle einer Vergewaltigung dem Angreifer unmittelbar in die Augen zu sehen. Ich erinnere mich, dass in Zeichentrickfilmen meiner Jugend es oft dazu kam, dass in die Ecke getriebene Opfer damit prahlten, siebzehn Kinder zu haben und ob sie dem Täter einmal Bilder der Kinder zeigen dürften, und der Ehefrau. Und hier ein Hund. Ich erinnere mich, dass man den Menschen rät, im Falle eines Angriffs, sich menschlich zu machen.

Und ich erinnere mich, dass der aggressive Fremde auf der Straße noch wütender und aggressiver wurde, als ich ihm unmittelbar in die Augen schaute. Er wich meinem Blick nicht nur aus, es stachelte ihn sogar an. Der unmittelbare Blick vermag eine Kraft auszulösen, die nichts anderes ist als die Kraft der Menschlichkeit. Der unmittelbare Blick offenbart die Selbstsicherheit und die Stärke, dass man sich selbst offen gelegt hat. Diesem unmittelbaren Anblick hält kein Vorurteil stand.

„Betrachtest du den Einzelnen an sich“, schrieb Buber übrigens weiter, „dann siehst du vom Menschen gleichsam nur so viel wie wir vom Mond sehen; erst der Mensch mit dem Menschen ist ein rundes Bild.“

Erst der Mensch mit dem Menschen erlaubt das Dazwischenstehende sichtbar zu machen, also den multiperspektivischen Blick.

Wenn ich an Lévinas denke, erlaubt es mir aber noch etwas: es erlaubt mir die Schubladen zu sehen, die gerade en vogue sind. Diese und die Art der Menschlichkeit, welche zum Augenblick meiner Mondfahrt sichtbar wird. Ein Panoptikum der Gegenwart.

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