Paris je t’aime: Die Irrwege des Charles Leroy (2)

Dies ist das erste Kapitel einer Fortsetzungsgeschichte, die abwechslungsweise im Odeon Theater und hier auf Härzenswort erscheinen wird. 

Der erste Teil findet sich hier … und jetzt geht es weiter:

(…) Es war ein kleiner Vogel, vermutlich von einer Katze gerissen und gerade noch mal davongekommen. Er war verletzt, würde mit etwas Pflege und Fürsorge aber überleben. Charlot blieb stehen und überlegte. Wir können uns aussuchen, was wir sind, dachte er noch einmal. Er kniete sich hin, hob das zarte Geschöpf vorsichtig auf und streichelte über das winzige Köpfchen. Er spürte die Wärme des Vögleins auf seiner Haut, spürte wie das Leben in ihm pulsierte. Charlot wusste, was er zu tun hatte. „Du bist zu klein,“ flüsterte er aber und brach dem Tier das Genick. Kopf ab, dachte er und spürte in sich hinein.

Dem Nachhall hinterher, der auf das Klicken in seinen Händen hätte folgen müssen. Er saß da mit geschlossenen Augen und dem Tod zwischen seinen Fingern. Es war, als flösse die Dunkelheit des Todes zu ihm herein. Der Tod, der keinen Unterschied zu machen wagte zwischen dem kleinsten Vogel und dem mächtigsten Herrn.

Sanft legte Charlot das arme Tier auf den kalten Stein. Ein paar Schritt entfernt fand er eine dahingeworfene, schmierige Zeitung. Er faltete ein kleines Schiffchen daraus und legte den kleinen Leichnam hinein, sodass wenig später die Totenbarke für das Tier davon treiben konnte.

Der kleine Charlot, wie er da stand, mit seinen Händen in den ausgebeulten Hosentaschen und dem an ihm herabschlotternden Hemdchen. Wie er mit seinen großen, braunen Augen dem Tier hinterhersah. Und wie es ihm war, als ob das Rad der Zeit zu seinen Füßen sich mit jeder Strömung der Seine schneller zu drehen schien.

Dann verschwand das kleine Totenschiffchen unter der Pont Neuf und verschwand aus seinem Sichtfeld. Charlot rannte los. Ein kaum zu verstehender Drang, so war es ihm, riss ihm an den Hemdskragen und zerrte ihn der Strömung folgend dem Tier hinterher. Er stürzte in den Schatten der Brücke, wo um diese Zeit bereits die ersten Clochards ihr Lager für die Nacht richteten. Er sprang über einen hinweg, wich dem nächsten aus, prallte gegen eine dicke Dame, die ihm mit kreischender Stimme hinterher rief, er solle gefälligst auf seine Schritte achten, sie sei die Comtesse, die Comtesse, hör er? Die Comtesse! Doch er hörte kein Wort, achtete nur auf das Schiffchen, das sich nun in einem Wirbel zu drehen begann, während es unablässig Fahrt aufnehmend weiter hinab trieb. Charlot stolperte über Unrat, rutschte beim Aufstehen auf dem von Algen nassen Boden aus und schlitterte nunmehr in die Richtung. Aber nun war es zu spät: das Boot trieb noch einmal kurz auf die Uferlage zu, wurde aber sogleich gen Mitte getrieben, von einer größeren Verwirbelung erfasst, die gar schäumte. Und sogleich versank der Leichnam mitsamt seinem papiernen Sarg in den Ungründen des Wassers.

Dies war, man kann es nicht anders sagen, die erste Beerdigung des Charlot Leroy. Und es sollte nicht seine letzte sein. Denn zu jener Zeit hatte der Tod zu viel zu tun. Es gibt Zeiten, da füllt sich das von ihm geführte Marginalienbuch der Geschichte zu schnell. Es gibt gar nicht genug Platz an den Rändern der Historie, um all den Namen, die darin verzeichnet sind, ihre Geschichten zu erzählen. Es gibt nicht einmal genug Erde, all ihre Leichen zu bedecken, nicht genug Steine, ihre Namen zu erhalten. Und erst Recht nicht genug Gebete, um die Traurigkeit zu lindern, welche das Erbe und die Pflicht der Hinterbliebenen ist.

Es muss aber gesagt werden, dass auf keiner Beerdigung, zu welchen das Leben Charlot Leroy führte, von ihm auch nur eine einzige Träne vergossen wurde.

Nicht als sein Vater starb, Opfer der Schwindsucht. Nicht als die jüngste Schwester zu Grabe getragen wurde, Opfer des Hungers. Nur einmal, so muss es doch erzählt werden, löste der Tod in ihm eine Woge der Gefühle aus.

Es war September und zur großen Überraschung hatte sich in jenen Tagen zu dem kalten Regen ein bissiger Frost hinzugesellt. Es war in jenen Tagen, da Vater und Schwester noch lebten – gerade noch, möchte man sagen, denn kaum war diese Episode vorüber, sollte die Zeit an Fahrt zu nehmen.

Charlot arbeitete für Monsieur Goudrain, genauso wie es jeder Junge im Viertel tat. Goudrain war ein wohl statuierter Mann. Er trug gerne hochgeknöpfte Westen und darunter jene Hemden, die an den Ärmeln aufgebauscht waren. Weil ihm die Natur einen gewöhnlichen Verdauungsapparat missgönnt hatte, waren ihm unterm Kinn die Schilddrüsen wie zwei kleinere Kanonenkugeln geschwollen. Und dies wiederum zwang ihn, den Kopf stets etwas gereckt zu halten. Er hatte einen Bauch, ähnlich den Figuren in den Karikaturen der Gazette. Von den Kindern wurde er spöttisch „Le petit pélican can can“ genannt. Aber niemand hätte es gewagt, Goudrain diesen Spitznamen ins Gesicht zu sagen. Allenthalben „Le père du quartier“, so nannten ihn nämlich die Erwachsenen, ließ er sich gerne gefallen, als sei es ein heimliches Adelsprädikativ.

Arbeit gab es immer zu verrichten. Man musste nur zu Goudrain, und ihn direkt danach fragen. War man alt genug und gefiel dem kleinen Pelikan das, was er da sah, dann konnte man sich sicher sein, ein paar Sous verdienen zu können. Zu Beginn waren es einfache Paketdienste, die er Charlot erlaubte. Ein kleines Päckchen mit einer Halskette zu Madame Grissot, ein mit rotem Wachs versiegelter Brief an Mademoiselle Chaudchat, eine ganze Kiste mit Kerzen an Frère Bartholomé, im Kloster St. Charmaine, Medizin an die werte Grande Dame im Moulin Rouge, und besonders Frachtpapiere und Ausweise an bestimmte Arbeiter im Port de l’Arsenal.

Und eines Tags ein kleines, silbernes Kästchen an den Place de la Bastille. An jenem Ort gab es zu jener Zeit eine bemerkenswerte Statue aus Gips: Ein Elefant, welcher mittig auf seinem Rücken nichts Geringeres als einen Turm trug. Es handelte sich nur um ein Modell zwar, ein Ansichtsexemplar für einen geplanten Springbrunnen, es war aber doch sehr imposant und ein gerne gewählter, da leicht zu beschreibender Treffpunkt.

Und hier sollte Charlot das silberne Kästchen zu Füßen des Riesen, der speziell nächtens schrecklich wirkte.

Nun, da Charlot zum ersten Mal zu recht später Stunde am Place de la Bastille stand, überkam ihn das Gefühl, am wohl trostlosesten und heruntergekommensten Flecken der Erde zu stehen. Es lag viel Unrat auf den Straßen. Und der Wind konnte auch nicht mehr, als diesen gegen den Sockel des Elefanten zu treiben. Die Straße war bucklig und so aufgeqollen, als kranke die Erde hier an den schlimmsten Schwären. Und über allem diese großen, weißen Augen, dieses schwermütige Antlitz des schweigsamen Ungetüms, dessen Schatten wie zerrissene Leinen kreuz und quer über den Platz kragten.

Goudrain hatte ihm aufgetragen, das Kästchen einfach abzulegen und dann fort zu gehen. Er bräuchte nicht einmal zu überwachen, ob es in Empfang genommen wurde und von daher brauchte er nicht einmal zu wissen, für wen die Sendung gedacht war.

„Wenn ich nicht von dir wissen muss, ob sie es erhält, musst du auch nicht wissen, wer sie ist.“, hatte Goudrain ihm gesagt und damit immerhin verraten, dass es eine „Sie“ und kein „Er“ sein musste. Nun hatte Goudrain aber noch weiterhin viel Geheimnis um die Sache gemacht. Er hatte ihm verboten, sich auf dem Platz nach der Ablage herumzudrücken. Es war untersagt, der Frau zu spionieren. Und es war untersagt, weitere Fragen zu stellen. Selbstverständlich auch das Spionieren in den Kasten wurde verboten, sogar unter Strafe gestellt.

Goudrain hätte tatsächlich besser daran getan, so wenig Worte als üblich über diesen Transfer zu verlieren. Am besten hätte er nichts weiter zu Charlot gesagt, als dass er das Kästchen abzulegen habe und Charlot wäre nie auf die Idee gekommen, dass diese Geschichte weit mehr an Bedeutung zukam wie all die Sendungen zuvor.

Von daher legte Charlot das Kästchen zwar auf den Sockel, doch setzte er sich daneben.

hier geht es weiter…

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