Sie saßen alle schon viel länger an dieser Haltestelle.
Der Vater jedenfalls sagte zu seiner Tochter: „Du weißt doch, wen ich meine.“
Und sie antwortete: „Nein, wen?“
„Die Frau, die auch bei dir im Kindergarten ab und an arbeitet.“
„Saskia?“
„Nein, das ist doch deine normale Erzieherin. Die andere. Die mit den langen Haaren.“
„Dunkel?“, fragte sie.
„Dunkle Haare, ja.“
Das Kind dachte nach. „Wie sieht sie denn sonst so aus?“
„Etwas kleiner als ich. Und so ein wenig …“, er zögerte. Dann sagte er: „Etwas breiter.“
Die Frau, die neben der Haltestelle stand schüttelte demonstrativ den Kopf und machte abfällig „Tststs.“
„Was denn?“, reagierte der Mann sofort.
„Wie sie rumdrucksen.“
„Ich rede mit meiner Tochter.“
„Sie erziehen sie gerade. Sie müssen sich immer bewusst sein, dass sie ununterbrochen erziehen. Un-un-ter-broch-en.“
„Was sie nicht sagen.“, knurrte er und wandte sich wieder seiner Tochter zu. „Ist ja auch egal.“, sagte er.
„Was hat die Frau denn, Papa?“
„Nix.“, knurrte er.
Die Frau hatte aber etwas.
„Dick meint dein Vater. Nennen Sie es ruhig so. Die Frau ist dick, die er von dir wissen will.“
Das Mädchen hob irritiert die Augenbrauen.
„Ich wollte es etwas höflicher formulieren.“, knurrte er. „Immerhin bin ich ja am Erziehen.“
„Das, was sie da tun, das nennt man Bodyshaming. Bodyshaming. Sie ekeln mich an.“
„Was?“, er lief hochrot an.
„Dass sie ein Problem damit haben, dass sie ihrer Tochter beibringen, dass es nicht in Ordnung ist, dick zu sein.“
„Das hab ich doch gar nicht -“
„Das ist die nächste Generation junge Frau, die sich fragte, was mit ihrem Körper nicht in Ordnung sein wird. Selbst, wenn sie sich ganz normal entwickelt!“
„Ich bringe meiner Tochter gar nicht -“
„Dann nennen sie die Sache doch beim Namen. Es ist nicht schlimm, dick zu sein. Es ist sogar wunderschön. Hörst du, Kleine! Es ist wundervoll, wenn man dick ist. So wie ich oder wie die Frau da auf der anderen Straßenseite. Die da drüben. Mit dem schwarzen Kleid. Weißt du, warum die Frau ein schwarzes Kleid trägt? Weil sie sich unwohl fühlt mit ihrem Körper. Weil alle Männer dieser Welt ihr in ihrem Leben gesagt haben, dass es nicht in Ordnung ist, dick zu sein. Man hat sie ‚fett’ genannt. Fett, das ist nicht in Ordnung, das darf man nicht sagen. Weil das gemein ist, eine Beleidigung. Und dann gibt es Männer, die haben Angst davor, der Frau weh zu tun, weil sie so oft beleidigt worden ist und dann sagen sie gar nichts über ihre Figur. Dann sagen sie, die Frau sei ‚vollschlank’ oder ‚untersetzt’ oder sie sei ‚etwas klein’ oder ‚breit’. Als ob die Frau da drüben nicht auch mal gerne ein rosa Blümchenkleid tragen würde, so wie du!“
„Seien Sie still!“, fährt er sie an.
„Jeder Körper ist schön! Jeder Körper ist schön, so wie er ist! Niemand hat Grund, sich über seinen eigenen Körper zu ärgern! Wir sind geboren, haben unseren Körper und wir leben darin! Unser Leben lang leben wir darin. Wäre es nicht furchtbar, wenn wir uns für unseren eigenen Körper hassen würden?“
„Sie belästigen uns!“, knurrte er sie an.
„Sie haben angefangen.“, sagte sie. „Durch ihr Bodyshaming. Die Dinge muss man immer beim Namen nennen, mein Schatz. Hörst du? Wenn jemand dick ist, sag ‚dick’. Wenn jemand schwarz ist, sag ‚schwarz’. Wenn jemand dumm ist, sag ‚dumm’. Und wenn jemand ‚behindert’ ist, dann sag ‚behindert’ und nicht Schwerinordnung. Oder speziell. Oder besonders.“
Das Mädchen nickte verstört.
„Meine Mama ist auch dick.“, sagte das Mädchen.
„Schön.“, sagte die Frau und blitzte den Mann über ihre Nickelbrille triumphierend an. So, als habe sie gerade einen ganz wichtigen Sieg errungen.
„Sie ist total traurig, dass sie dick ist. Mama sagt immer, seit sie dick ist, ist alles anders.“
„Dann sag deiner Mami, dass es keinen Grund gibt, traurig zu sein. Sie sieht bestimmt ganz toll aus, wenn sie glücklich lächelt. Wenn man glücklich ist, dann strahlt man von innen heraus, wusstest du das?“
Das Mädchen nickte.
„Wir fahren sie jetzt besuchen.“, erklärte das Mädchen.
„Schön.“, sagte die Frau, obwohl nicht klar war, ob sie überhaupt dem Mädchen zugehört hatte.
„Sie liegt jetzt nämlich im Krankenhaus.“, erklärte sie und die Frau starrte einfach nur erstmal und wälzte ein paar Antwortmöglichkeiten hin und her. „Papa sagt, das sind die Tabletten. Die helfen gegen die Traurigkeit, die machen aber dick. Und wenn Mama dick wird, dann wird sie doch irgendwie wieder traurig.“
„Das – ehm – das braucht sie doch nicht, weil -“
„Sie sind besser still.“, sagte der Mann und diesmal ist seine Stimme so kalt, dass er die dicke Frau in ihrer Haltung einfrieren lässt.
„Ihre Welt ist vielleicht schwarz-weiß oder dick-dünn oder wasauchimmer. Aber unsere Welt ist das nicht. Und deswegen sind wir unfassbar glücklich über jede Sekunde, in der wir uns haben. Und nicht so jemanden wie sie.“
„Papa“, setzte das Mädchen an, aber der Mann war aufgebracht. Er drehte sich zu dem Mädchen um und sagte: „Die Frau hat Recht. Man muss die Dinge beim Namen nennen, Schatz. Ich liebe dich. Und ich liebe es, dass aus dir nicht ein so lauter Mensch wird, wie diese Frau hier. Laute Menschen, die gibt es schon genug.“
Und den Rest des Gesprächs bekam ich nicht mit, weil die Straßenbahn kam und ich weiterfahren musste.