Circus Maximus (2/2)

Androklus hatte sich oft gefragt, wie Lanista sich in der Arena schlagen würde.

Wahrscheinlich würde er keine fünf Minuten überleben.

Die Fresser sahen aus wie Menschen. Sie rochen sogar wie Menschen. Da konnte man sagen, was man wollte. Aber Androklus erinnerte sich daran, wie es sich angefühlt hatte, in heißen Hochsommertagen in Straßenbahnen zu sitzen. Dieser derbe säuerliche Geruch, den einige Menschen ausdünsteten und der sich mit den Gerüchen von anderen vermengte, dass es in den Nasen biss und man das Würgen unterdrücken musste. Diese Mischung aus Kohl, Schweiß, Urin und ständiges Verwesen, das einem in der Arena entgegenschlug. Der Tod war schon immer widerwärtig gewesen. Aber noch nie so widerwärtig wie in der heutigen Zeit.

Rocko hatte gesagt, dass die stärkste Waffe der Fresser die Psychologie sei. Der Geruch und die Gesichter, alles ist so menschlich. Aber sie stürzen vor und wollen ihre fauligen Zähne in dein Gesicht schlagen und sie zerreißen dich, als wären es wilde Raubtiere. Du kannst ihnen nicht einfach entgegen treten und sie bekämpfen. Denn du siehst in ihren Augen etwas, das dich dazu bringt, mit ihnen reden zu wollen.

Ein paar Monate vor Rockos Tod – und bevor Lanista den Jungen zu Androklus in die Zelle geworfen hatte – war eine Gladiatorin bei dem Versuch drauf gegangen, die Fresser davon zu überzeugen, stehen zu bleiben.

Sie hatte gebrüllt: „Bleibt, wo ihr seid!“ und „Ich weiß, dass ihr mich hören könnt. Dass ihr mich versteht!“

Die Fresser hatten gebrüllt und gegrunzt, geschmatzt und gesabbert. Der Vorderste hatte tatsächlich inne gehalten. Den Kopf hatte er schräg zur Seite gelegt, als würde er lauschen. Und sie hatte gegrinst und die Arme ausgestreckt und gerufen: „Ja! Hören. Du kannst mich hören! Nicht wahr?“, so als rede sie nicht mit einem Fresser, sondern mit einem behinderten Kind, dem man nur laut genug ins Gehirn hineinbrüllen musste, damit es verstand, worum es hier ging.

Dann war der Fresser vorgetreten, hatte wirklich und wahrhaftig die Arme ausgebreitet und die Gladiatorin zu sich herangezogen. Er hatte sie umarmt, so wie ein Kind seine Mutter umarmt. Und sie hatte geweint und die Umarmung zugelassen. Sie hatte zugelassen, dass er ihr über den Rücken sabberte und ganz langsam und genüsslich ihr die Schneidezähne in das weiche Fleisch der Schulterpartie bohrte.

„So langsam und intensiv ist noch keiner von uns drauf gegangen.“, hatte Rocko das grauenvolle Geschehen kommentiert.

Nur, wenn du begreifst, dass du der Gladiator bist und die, die dir gegenüber stehen die Tiere sind, die Raubtiere, nur dann hast du eine Überlebenschance.

„He, Kleiner.“, rief Androklus. Der Junge sah auf.

„Sag mir, wie du heißt.“

„Lusio.“

„Wie alt bist du?“

„Neun.“, er sagte es schnell und etwas undeutlich. Es klang wie ‚nein’.

„Ok. Lusio, ich möchte, dass du mir vertraust. Und dafür musst du mir eine Frage beantworten. Wenn du das tust, dann kann ich dir vielleicht helfen, etwas zu überleben, was schon härtere Brocken als du und ich … das Leben gekostet hat.“

Lusio nickte.

„Wie hast du da draußen überlebt?“

Er gab keine Antwort, statt dessen starrte Lusio ihn nur mit flackerndem Blick an. Androklus rückte zu dem Jungen hinüber.

„Es gibt da draußen, ich meine außerhalb von den Käfigen, außerhalb von der Arena, eine Welt. Und die ist gefährlich geworden, ja, das ist sie, verdammt noch mal. Und ich weiß das, weil ich nicht mein Leben lang in diesem Käfig hier verbracht habe. Verstehst du? Ich hab da draußen Leute kennen gelernt, die nur überleben konnten, weil sie vor der Gefahr wegrennen konnten. Andere, weil sie in großen Teams durch das Land gewandert sind wie Nomaden. Ich habe Kämpfer kennengelernt, die keinem Kampf aus dem Weg gehen mussten. Es gibt so viele Strategien. Welche war deine?“

Aber der Junge sagte nichts mehr. Mit keinem Wort konnte Androklus zu ihm durchdringen. Schließlich gab er es auf. „Gut.“, sagte er. „Schlafen wir. Aber pass auf, eine Sache: Wir sind in einem Käfig. Vielleicht hast du da draußen nie richtig geschlafen. Immer nur mit einem Auge offen und so. Wer weiß. Aber hier drin kannst du dir den Luxus erlauben, mit beiden Augen zu schlafen. Verstehst du? Leg dich hier genau in die Mitte des Käfigs, wenn du mir nicht glaubst. Du kannst ganz ruhig schlafen. Nirgendwo bist du sicherer heutzutage als in einem Käfig.“ Selbst wenn der Käfig keine zwei Räume von einem Raum voller Fresser entfernt ist. Aber diesen letzten Satz sagte er nicht. Den dachte Androklus nur. Er wusste, dass der Junge, wenn überhaupt, nur ausgeschlafen eine Chance hatte. Und wenn er nicht selbst von seinen Sätzen überzeugt gewesen wäre, dann hätte Androklus schon längst nicht mehr in der Arena in einem Käfig gelebt. So viel stand fest.

 

Die furchtbarsten Schreie weckten sie auf.

Androklus erwachte aber erst so richtig, als Lusio auch noch vor Angst zu schreien anfing.

„Ok!“, rief der Gladiator aus und stürzte auf den Jungen. Er nahm ihn, drückte sein Gesicht fest in seine Brust. „Beruhig dich. Es ist alles ok. Ich hätte dich warnen sollen. Tut mir leid. Ich hab es vergessen. Es ist so normal hier, dass ich es vergessen hab. Ruhig!“

„Normal?“, der arme Junge sah ihn mit panisch geweiteten Augen entsetzt an.

Die Augen waren ganz ruhig und dunkel. Aber der Blick flackerte und war so unstet und instabil, als ob man einer Seele beim Zerbrechen zuschauen würde.

„Die Raubtiere werden gereizt.“

Androklus nahm den Kopf des Kleinen in beide Hände und zwang ihn so, ihm direkt in die Augen zu sehen.

„Sie führen Frischfleisch an den Käfigtüren der Fresser vorbei. Ok? Sie wollen, dass die Fresser ‚heiß’ sind. Sie sollen Essen riechen aber nichts bekommen. Das hat man früher auch mit Kampfhunden so gemacht. Erst hat man ihnen rohes Fleisch zum Essen und Blut zum Trinken gegeben und wenn die Tiere ‚Blut geleckt’ hatten, – verstehst du? Da kommt dieser Ausdruck her – dann hat man ihnen nichts mehr zum Essen gegeben, bis es zum Tag des Kampfes kam. Dann waren die Tiere heißhungrig und sie hätten alles getan, den Feind zu zerfleischen. Es war ein wilderes und gierigeres Spektakel. Denn genau darum geht es, verstehst du? Es ist Show. Es geht um ein wildes Spektakel.“

„Warum?“

Er dachte kurz nach, suchte Worte. Dann fragte er: „Hast du schon mal einen Film gesehen? Im Kino vielleicht?“

Der Junge schüttelte den Kopf.

„Das war in einer alten Zeit.“, knurrte Androklus, der sich noch viel zu gut an Kinos erinnern konnte. „Man hat sich Geschichten angeschaut. Geschichten, die einem so gut waren wie das echte Leben. Und dadurch hat man alles genauso gefühlt, wie es die Geschichte gewollt hat. Man hat mit-erlebt ohne, dass man selbst etwas gelebt hat. So als könntest du kurz dein eigenes Leben verlassen und in ein Fantasieleben rein. Verstehst du? Ja, du verstehst das, du bist ein kluger Junge. Das kann ich dir ansehen. Wenn die Leute traurig waren, dann haben sie sich einen traurigen Film angeschaut. Und dann konnten sie über die erfundene Geschichte weinen, weil sie sich das nicht in Wirklichkeit getraut hatten. Niemand wollte über sein eigenes Leben weinen. Das wäre ja erbärmlich gewesen. Aber über das Leben eines anderen, das war ok. Weil es den anderen ja nicht gab. Weil es ja nur Show war. Man identifiziert sich mit dem, was man sieht und man kann all die Gefühle rauslassen, die einem im echten Leben grad im Weg sind. Dadurch bleibt die Seele gesund. Das machen wir hier auch.

Wir sind Psychiater. Wir kämpfen gegen die Fresser genauso wie die Besucher unserer Shows auch jeden Tag gegen Fresser kämpfen müssen. Und dann gewinnen wir den Kampf und alle gehen glücklich und zufrieden zurück nach Hause. Vielleicht bilden sie sich auch ein, dass sie durch das Zuschauen sogar noch was für den eigenen Kampf lernen können, wer weiß. Ich jedenfalls nicht.

Wir helfen den Leuten dabei, dass sie überleben können. Sie würden, wenn sie jeden Tag einfach nur kämpfen müssten, nämlich keine Sekunde überleben. Sie würden kaputt gehen daran, dass das Kämpfen nie aufhört.

Das war schon immer so.“

Dann griff Androklus plötzlich neben sich. Er packte sein Kopfkissen, trennte die Naht auf und griff in die Füllung des Kissens hinein. Er zog ein vergilbtes Stück Papier heraus.

„Du bist zu jung, das hier zu verstehen. Neun. Was ist das schon. Aber trotzdem. Pass auf. Ich les es dir vor, ja. Das ist von einem Typen, der hieß Hölderlin. Das war ein … naja … egal. Er schreibt hier etwas, das ist das, was ich für das einzig Wahre halte an diesem Ort hier. Hör gut zu:

Die Darstellung des Tragischen beruht darauf, dass das Ungeheure, wie der Gott und Mensch sich paar, und grenzenlos die Naturmacht und des Menschen Innerstes Im Zorn eins wird, dadurch sich begreift, dass das grenzenlose Einswerden durch grenzenloses Scheiden sich reiniget. In solchen Momenten vergisst der Mensch sich und den Gott, und kehret, freilich heiliger Weise, wie ein Verräter sich um. – In der äußersten Grenze des Leidens besteht nämlich nichts mehr, als die Bedingungen der Zeit oder des Raums.

Das ist schwer, nicht wahr?

Ich weiß auch nicht, warum ich es dir vorgelesen habe. Ich …“, Androklus wollte das Papier wieder zurückstecken. Aber der Junge hielt ihn auf. Er nahm es an sich und las es selbst mehrmals hintereinander durch.

„Früher habe ich Gedichte gesammelt.“, verriet ihm Androklus. „Gedichte, die mir geholfen haben. Aber es war unfassbar schwer, an Gedichte heranzukommen. Das war in einer Zeit, bevor ich hier im Käfig gelebt habe. Da hatte ich in einem anderen Käfig gelebt, weißt du. An einem Ort, den man früher Bibliothek nannte. Aber es war tatsächlich eine Bibliothek, in der es nur wenig Gedichtsbände gab. Also habe ich angefangen, alles andere zu lesen. Um einen Weg zu finden, wie man in dieser Zeit weiter machen kann. Dann bin ich auf Hölderlin gestoßen. Und … darauf.“, er tippte mit dem Finger auf das aus einem Buch herausgerissene Blatt.

„Nur deshalb bin ich hier gelandet.“

„Du bist freiwillig hier?“, fragte der Junge ungläubig.

Androklus nickte.

„Klingt verrückt, nicht wahr?“

„Warum?“

„Nun, weil es egal ist, in welchem Käfig man sich sicher fühlt. Aber es nicht egal ist, wie man sich in seinem Käfig einrichtet. Der Mensch braucht einen Grund, um weiter zu machen.“

„Wir hatten auch in einem Käfig gelebt.“, sagte Lusio plötzlich. „Ein Haus tief im Wald. Eigentlich eine Art Burg. Mit Graben und Mauer. Aber keine Zugbrücke.“, er grinste etwas schief. „Jeden Tag musste er raus und uns etwas zum Essen besorgen und wir haben in der Burg auf ihn gewartet. Manchmal fand er genug für eine ganze Woche. Aber irgendwann musste man immer den Käfig verlassen.“

„Und dann?“

„Ist er nicht mehr wieder gekommen. Und als nächstes mussten wir den Käfig verlassen. Und wir sind auch nicht mehr wieder gekommen.“

„Du wurdest von Lanista gefangen.“

Er schüttelte den Kopf.

„Von Sklavenfänger. Wir wurden verkauft. Jeder in eine andere Himmelsrichtung.“

„Und jetzt bist du hier.“, stellte Androklus fest. „In einem neuen Käfig. Und nichts hat sich zum Überleben geändert. Heute Mittag müssen wir den Käfig verlassen und auf die Jagd gehen. Wir müssen den Fressern gegenüber treten und wir müssen kämpfen, damit wir wieder zurück in den Schutz unseres Käfigs kehren können. Hast du heute Nacht gut geschlafen?“, Androklus kannte die Antwort bereits. Aber er wartete doch geduldig ab, bis Lusio nickte.

„Und das hat seinen Preis.“

„Die Fresser.“, sagte Lusio.

Androklus schüttelte den Kopf.

„Die Arena.“

Mach nie den Fehler und verwechsle das, Junge, schoss es ihm durch den Kopf. Vergiss nie, wer dein wahrer Feind war. Und wen es zu bekämpfen galt. Das waren nämlich zwei völlig verschiedene Dinge.

Lusio gab ihm den Zettel zurück.

„Was bedeutet das?“, fragte er und zeigte auf den letzten Satz.

Androklus las wieder vor: In der äußersten Grenze des Leidens besteht nämlich nichts mehr, als die Bedingungen der Zeit oder des Raums.

„Das bedeutet, dass wenn du da draußen bist, nichts anderes zählt als dieser eine Augenblick und dieser eine Ort. Mit dem Schlamm auf dem Boden“, der Rocko das Leben gekostet hat, „mit der Sonne in den Augen. Und mit diesen Raubtieren, die sich tarnen als Menschen. Die so stinken, dass du am liebsten davon rennen würdest. Die zählen. Nicht die Burg, und dass er nicht mehr wiederkam. Nicht, dass du von Sklavenfängern verkauft worden bist. Nicht, dass du Hunger hast, deine Familie vermisst, dass du einen Stein im Schuh hast, dass das Leben unfair ist. Nichts davon. Hast du das verstanden?“

Lusio nickte zögernd. Dann sah er mit weit aufgerissenen Augen an Androklus vorbei.

Lanista trat ein, näherte sich ihrem Käfig und öffnete ihn.

„Wir fangen mit dir an, Junge.“, sagte Lanista selbstgefällig. „Das heizt die Stimmung ein wenig an.

„Lanista!“, zischte Androklus.

„Was willst du? Willst du mir sagen, wie ich meinen Job zu machen habe? Willst du mich beschimpfen, bespucken oder verfluchen? Um Gnade winseln? Haben wir das nicht hinter uns, Androklus?“

Der Gladiator schüttelte den Kopf.

„Wir gehen zusammen raus.“, sagte er bestimmt. Und dann bückte er sich der alte Gladiator unter der Tür ins Freie und hielt, ohne Lanista anzublicken, Lusio die Hand entgegen. „Komm. Ich zeig dir, was ich meine!“

Der Junge ließ die Hand nicht los. Sie traten nebeneinander in die grell erleuchtete Arena.

Im Durchgang griff Androklus nach einer Lanze und einem Netz. Die Lanze drückte er Lusio gegen die Brust.

„Vergiss ja nicht, was ich dir gesagt habe.

Jetzt erst sah Androklus, dass der Kleine immer noch seine Buchseite in den Händen hielt und nach einem Ort suchte, wo er es unterbringen konnte.

Androklus nahm es, knüllte es zusammen und steckte es ihm unter das Shirt auf die Brust. Er klopfte ein paar Mal darauf.

„Jetzt kann dir keiner das Herz fressen, ohne nicht wenigstens auf diesen Brocken von Hölderlin zu beißen.“, grinste er den Jungen an.

„Wird es weh tun?“, flüsterte der Junge.

„Klar.“, sagte Androklus, der keine Lust darauf hatte, einen Neunjährigen anzulügen. „Überleben tut immer weh. Hat dir das noch keiner gesagt?“

Beifall brandete auf. Sie traten ein und nur langsam gewöhnten sich die Augen an das gleissende Licht.

„Letzter Tipp?“, fragte der Junge.

„Rutsch nicht aus.“, knurrte Androklus. „Und wenn du hinfällst, steh verdammt noch mal wieder auf.“

Dann konnte Androklus endlich etwas sehen. Nämlich wie die Tore sich öffneten und die Fresser mit furchtbaren Fratzen in die Arena stürmten. Es begann zu stinken. Nach Mensch. Und nach Tod. Nach Blut.

„Salve, Lanista. Die Todgeweihten grüßen dich!“, schrie Androklus.

Der Kampf begann.

Was sagt ihr dazu?