Das Ding unter der Erde

Hi Cain,

wenn ich malen könnte, wäre es vielleicht einfacher, dir alles zu erzählen. Ich würde mit einem ganz einfachen Bild anfangen. Mit mir, wie ich als siebzehnjähriger Ende September in dem großen Sonnenblumenfeld stand. Die ganzen Köpfe der Sonnenblumen waren so tot wie der Sommer. Die Blumenköpfe waren nach allen Richtungen verrenkt und verdreht. Sie waren so schwarz, weil ihnen die Augustsonne das ganze Leben aus dem Leib gebrannt hatte. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sich um das Feld zu kümmern.

Niemand sah rüber.

Man hätte herübersehen können, weil das Feld in direkter Sichtlinie zu den letzten Häusern von Kehl lag. Ich war mir nicht sicher, aber da standen bestimmt an jedem Fenster Leute. Nur blickten sie nicht zu mir herüber. Sie kümmerten sich um ihre eigenen Leben. Ihre Puzzles auf den unaufgeräumten Esstischen, ihr Mittagessen in den schäbigen Küchen, ihre Katzen auf den Schränken, ihre Puppen auf den Sofas.

All ihre Leben in kleinen Quadraten.

Nicht einmal, dass die Septembersonne blutrot hinter mir den Sommer im Horizont hinter der Autobahn ertränkte, nahmen sie wahr.

Ich fiel völlig erschöpft auf die Knie. Absurderweise spürte ich, wie die von der Sommerhitze grobkörnig gebrannte Erde mir in die Knie stach. Von mir tropften Schweiß und Tränen und Blut auf den Boden. Die Hände krallten sich zu Fäusten in den Staub.

Ein teilnahmsloser Wind kam auf, ließ die toten Sonnenblumen um mich herum erzittern, wirbelte den braunen Staubboden auf und nahm mir den Atem.

Genauso würde ich die Geschichte beginnen, wenn ich malen könnte.

Denn so hat die Geschichte geendet und ich liebe es, mit dem Ende anzufangen.

 

Der Anfang ist nämlich bei weitem nicht so poetisch.

Er beginnt in der Schule. Und weil ich an diesem Tag blau machte, kann ich dir nicht sagen, ob alles wie immer ablief. Also ob Schreier wieder den Geschichtsunterricht ganz monoton und fast flüsternd vortrug, dabei aber so heftig gestikulierte, dass ihm das linke Brillenglas aus der Fassung fiel. Ob Liv Meisberger wieder ihre Brüste zur Schau stellte und sich im Physikunterricht bei Doktor „Dok“ Dreieich besonders provokant über ihr Schreibpult beugte beim Melden. Es gab nämlich diese Wette zwischen ihr und Nathalja Aljeowitich, wem es als erstes gelang, ihm einen Ständer in die Hose zu zaubern. Es gab sogar eine Ständerliste, die passenderweise am Kartenständer in unserem Physiksaal geführt wurde. Daniel Liebermann, der als Erwachsener tatsächlich alles andere als ein lieber Mann werden sollte, ritzte mit seinem schwarz lackierten Butterfly eine Kerbe für jede Erektion ein, die seine Nathalja bewirkte. Und niemand anderes als Liv selbst grub mit ihrer Nagelfeile ein rundes Loch, wenn sie die Stundensiegerin gewesen sein sollte.

Ich war damals nicht anwesend und kann dir nur sagen, dass die Bäume hinter der Turnhalle sich langsam färbten. Direkt hinter der Halle gab es einen Kiefernwald. Die Bäume standen so dicht, dass man kaum hineinsehen konnte. Aber wenn man sich einfach zwischen der Turnhallenwand und dem ersten Baumstamm durchquetschte, gab es für den Preis von ein paar Abschürfungen ein gemütliches, kleines Versteck. Eine Höhle, die früher von den Oberstufenschülern immer zum „Rummachen“ genutzt worden war. Jetzt, da wir Oberstufenschüler waren, war irgendwie eine andere Zeit. Keiner versteckte sich, wenn er rummachen wollte. Man knutschte einfach offen auf dem Schulhof. Und deshalb war die Höhle von den meisten in Vergessenheit geraten, zugewachsen und erst von mir und Hatice wieder entdeckt worden.

Wir hatten gefühlt den ganzen Sommer hier verbracht. Im Unterschied zu den anderen, genossen wir das kleine Versteckspiel. Hier wagte sie es, ihr Kopftuch für mich auszuziehen. Sie erlaubte mir, ihre Haare zu berühren.

Das klingt bestimmt lächerlich, nicht wahr? Einfach nur zwei Teenager, die sich verstecken, damit das Mädchen dem Jungen den Kopf an die Brust legen und sich von ihm die Haare streicheln lassen kann. Aber so war es halt. Hatices Eltern und ihre beiden älteren Brüder waren sehr streng. Hätten sie unser Geheimnis auch nur geahnt, hätten sie erst mir und dann Hatice die Hände abgehackt. Vielleicht ist auch „streng“ das falsche Wort. Aber Hatice hatte es für sie gebraucht und deshalb verwende ich es jetzt hier auch.

Glaub ja nicht, dass die Welt still steht, wenn du beim Blaumachen die Zeit vergisst und das hübscheste Mädchen weit und breit ihren sorgenvollen Kopf an deine Schulter drückt.

Als sie ihren Hidschab wieder ordentlich umband und mit einem kleinen Taschenspiegel jede Richtigkeit überprüfte, fragte sie, ob ich an mein Versprechen denken würde.

Wenn ich mich richtig erinnere, war das auch das einzige, was sie an diesem Tag zu mir gesagt hatte. Und mein einziges Wort zu ihr, war ja.

Sie begleitete mich noch von der Schule aus über einen etwas verschlungenen, von Hecken umwucherten Pfad zwischen zwei Neubauvierteln hindurch Richtung Feld. Aber als wir an die Böschung kamen, die mich zur Autobahnunterführung brachte, trennten sich unsere Wege. Ich will glauben, dass sie sich noch einmal zu mir umblickte. Denn ich stelle mir vor, wie eindrucksvoll ich ausgesehen haben mag, einfach nur eine schwarze Silhouette in dem Tunnelschacht zu sein, von dessen omega-runden Wänden das späte Mittagslicht nach draußen reflektiert wurde.

Du kennst die Gegend nicht Cain, deshalb muss ich dir zwei, drei Dinge darüber verraten: Auf der einen Seite des Tunnels, dort, wo Hatice mir vielleicht nachblickte, geht ein sehr grobsteiniger Weg bergan zurück Richtung Dorf. Man kommt vielleicht an drei, vier Bauernhöfen vorbei, aber trifft sicher nie einen Menschen. Wenn auf den halbherzig abgetrennten Weiden mit den angerosteten Badewannen voller Stroh vielleicht einmal ein schäbiges Pferd steht, ist das schon ein Wunder. Auf der anderen Seite des Tunnels dagegen liegen die Felder. Zuerst die Sonnenblumen, die schon längst schwarz geworden sind. Dann ziehen sich Mais- und Getreidefelder über weite Hügelkämme zum Himmel hinauf, als wäre man auf dem Weg zum Herrgott selbst. Aber dort gibt es auch einen Weg, der führt am Himmel direkt vorbei, macht einen Umweg, hinüber zu einem Wald, wo man in den 90ern immer noch gerne Helme aus dem zweiten Weltkrieg hat finden können. In Baumstämmen stecken abgefeuerte Kugeln. Das wissen wir, weil Liebermann uns mit einem Metalldetektor die Bäume gezeigt hat. Wir haben sie mit einem geheimen Zeichen markiert, um sie immer wieder zu finden. Und manchmal trafen wir uns dort unten und gruben auf gut Glück in der Nähe von ein paar Bunkern, träumen und schwärmen davon, wie es wohl wäre, etwas mit einem Hakenkreuz oder einem Reichsadler zu finden. Eine Münze, eine Auszeichnung, vielleicht auch einfach nur eine Gabel aus dem Tornister einer längst vergessenen, armen Seele.

Beim Suchen hatten wir dabei vor Jahren einen halb offengelegten Bunker entdeckt. Mit Klappspaten war dort inzwischen von uns eine beeindruckend tiefe Höhle ausgehoben worden. Genau dahin war ich an diesem Tag unterwegs. Liv Meisbergers Bruder, Leo, wartete auf mich. Er hatte alles für mich und mein Versprechen vorbereitet.

Cain, du weißt doch, für Jugendliche ist jedes Versprechen besonders dramatisch aufgeladen, nicht wahr? Man verspricht unhaltbar auf ewige Freundschaft; schwört, auf den Tod; schwört, weil man glaubt, Geheimnisse bedeuteten wirklich die Welt und man wäre bis in alle Ewigkeiten vernichtet, wenn sie ans Tageslicht kämen.

Genau ein solches Versprechen hatte ich Hatice gegeben, sonst hätte ich mich nicht mal mit Leo getroffen. Denn Leo war anders als ich, verkehrte in anderen Kreisen. Er hatte die Haare lang wachsen lassen und schwarz gefärbt, trug schwarzen Kajal um die Augen, hatte unangenehm lange, spitz gefeilte Fingernägel und trug Mäntel in die Schule, die unter den Armen wie Fledermausflügel geschnitten waren.

Jede Schule hatte damals wenigstens eine solche Nachtkreatur, oder nicht?

Es waren Gothics, die das Pech hatten, in Gegenden zu leben, in denen man von dieser Kultur keine Ahnung hatte. Darum sah man sie immer allein in den Ecken stehen, sah sie immer mehr zu den Schatten zusammenfallen, mit denen sie sympathisierten.

Weder zog mich das Dunkle im Allgemeinen an, noch mochte ich Leo im Speziellen. Aber Hatice hatte ihn erwähnt. Ihn und das Buch, das er seit ein paar Monaten mit sich herum trug und auf dem Schulhof las. Ein dickes Buch mit schweren, metallenen Beschlägen, für die man grobe Schlüssel brauchte. Der Einband sah abgewetzt aus, wie uraltes, speckiges Leder.

Auch in den Bunker hatte er es mitgebracht. Aufgeschlagen lag es auf einem kantigen, schwarzen Stein. Die Seiten sahen furchtbar schäbig aus. Die Schrift war kaum lesbar. Trotzdem gab Leo vor, dass er genug davon hatte entziffern können, um grundsätzlich die Bedeutung des Ganzen zu verstehen.

„Bringen wir es hinter uns“, sagte ich an Stelle einer Begrüßung. Zu meiner Überraschung war er nicht wütend wegen meiner schroffen Art. Im Gegenteil: er schien erleichtert, dass wir uns nicht mit Small Talk und zeitfressendem Schönreden aufhielten. Er unterdrückte nicht, dass er es kaum erwarten konnte, was auch immer er vorhatte.

Aber ich hatte das Bedürfnis, eine einzige Sache richtig zu stellen. Ich sagte: „Wenn Hatice mir nicht ein Versprechen abgekämpft hätte, …“

Er wusste aber, was ich sagen wollte, lachte kurz und atemlos und winkte ab.

„Das ist mir sowas von egal“, gestand er. „Du bist hier. Wir ziehen das jetzt durch. Einmal, ein einziger Versuch. Wahrscheinlich ist es eh völliger Unsinn.“

„Wahrscheinlich“, stimmte ich zu. Ich unterdrückte die Frage, warum wir es denn überhaupt tun wollten. Denn ganz ehrlich: wir hätten einfach sagen können, dass wir es versucht hätten und nichts geklappt hatte. Das hätte uns jeder geglaubt. Mehr als das: jeder hätte gesagt, dass er genau das erwartet hatte. Was wir denn erwartet hätten? Dass Leo wirklich etwas Kraftvolles besaß? Wirklich?

„Was soll ich tun?“, fragte ich stattdessen und ließ mich von ihm an einen bestimmten Punkt stellen. Er gab mir einen Zettel, auf dem Worte standen, die ich einfach vorlesen sollte, sobald er mir das Zeichen dafür gab.

Und dann fing er an. Er las selbst etwas aus dem Buch vor, kniend vor diesem dunklen Stein unter dieser Bunkerhöhle.

Er sagte, dass wenn alles gut gehen würde, ich hinter ihm an der Bunkerwand es schon sehen könnte.

Und dann flüsterte er, machte merkwürdige Zeichen mit seinen Händen. Er verdrehte die Augen.

Cain, lass mich dir erzählen, dass ich keiner von den Spinnern bin, die an solche Sachen glauben. Ich bin ehrlich aufgewachsen, grundanständig, beide Beine fest auf dem Boden. Nicht einmal christlich oder esoterisch. Ich glaube bis heute nicht an die Kraft von Kristallen oder daran, dass man bei Vollmond oder über einer Wasserader schlechter schläft. Wenn einer vor mir kniet und „shub niggurath“ murmelt, dann sehe ich einen schwarz angezogenen Jungen, der eigentlich immer nur im Schatten seiner großen, verdammt gut aussehenden Schwester stand, der nie genug Aufmerksamkeit bekommen hat, mit dem man Mitleid haben muss. Ich sehe einen verletzten jungen Mann, der eigentlich nur gerade auf der Suche ist, sich selbst zu finden. Und weil ich selbst ein Kind jener Zeit bin, sehe ich, wie überdramatisch und überempfindlich man ist, wenn es um Dinge geht, die den bloßen Menschenverstand zu sprengen wagen. Man hofft, betet inständig, dass es auf der Welt mehr gibt, als der menschliche Verstand zu fassen im Stande ist, der vor allem den Verstand der eigenen, spießigen Eltern bersten kann. Man hofft auf den Windstoß, der endlich den Staub von den Seelen der älteren Generation in Kehl weht, überhaupt: Man hofft, der Wind könnte eigentlich das ganze langweilige Dorf mit Mann und Maus von der Erde wegpusten, als wäre es nichts anderes als eine widerwärtige Schicht losen Schimmels.

Dann ist man auch bereit, sich nachts mit Freunden auf Friedhöfen rumzudrücken, „huhu“ zu singen, und so zu tun, als ob man an Zombies und Monster glaubt, die einen im mit langen Fingernägeln die dünne Schicht zwischen Traum und Wirklichkeit aufkratzt.

Ja, auch wenn man kein Fan der Nacht ist, tief in uns allen gärte doch in den 90er Jahren das Bedürfnis, Teil zu werden an der Besonderheit, von der man sonst nur im Kino oder in King-Romanen erfuhr.

Das Besondere, wir wollten so sehr daran glauben, nicht wahr? Wir wollten es genauso, wie wir dachten, dass uns Schreckliches erwarten würden, wenn wir unsere Versprechen nicht hielten. Sag mir bitte, Cain, dass es bei dir genauso war damals.

Wie war das Wetter damals an jenem Tag? Ich kann dir nur sagen, dass der Bunker so kalt war, dass die Innenwände feucht waren. Ich kann dir sagen, dass die Tropfen daran herabrannen und ich zum ersten Mal wahrnahm, dass es da Muster im Beton gab. Buchstabenmuster. Da Aber keine Buchstaben, wie ich sie kenne. Keine Worte, die ich dir jetzt hinschreiben könnte. Sie waren nur sichtbar, weil das Wasser um ihre Konturen herum tropfte. Und ich weiß, dass es dunkel genug war, um die schwarzen Umrisse von Leo zu verbergen, aber nicht dunkel genug, als dass ich von meinem Standort nicht auch hätte die Buchstaben sehen können, die auf den grellen, gelben Seiten dieses widerlichen Buches standen.

Diese krakeligen, roten und schwarzen Lettern, die Leo angeblich vorlas.

Dann warf er auf einmal den Kopf in den Nacken, aber so heftig, dass ich glaubte, es hätte ihm ruckartig die Halswirbel gebrochen.

Er krächzte und ich schwöre dir, dass es mein Name war, den er da Krächzte. Erst mein Name, dann etwas, das klang, als ob jemand von Innen gegen die überstreckte Kehle klopfen würde.

Ich bat Leo, dass er jetzt aufhören könne.

Aber statt zu antworten schlug er nur mit der Faust auf den trockenen Waldboden. Und es war so heftig dieser Schlag, dass die Tropfen von der Bunkerwand auf einen Schlag auf uns niederstürzten.

Ich schrie auf, wollte davonstürzen. Aber etwas hielt mich zurück. Vielleicht war es Leos vollkommen widernatürlich überstreckte Körperhaltung, vielleicht war es die Art, wie er die Arme bewegte – so, als ob eine fremde Kraft ihn an unsichtbaren Fäden kontrollierte. Auf jeden Fall zögerte ich gerade lange genug, dass Leo noch einmal etwas sagen konnte.

Er flüsterte: „Shub Niggurath“. Und dann sah ich wie der Boden unter mich sich wellte. Als ob unter dem Laub etwas Riesiges lebte, das sich auf mich zu bewegte. Aber nicht nur an einer Stelle, an vielen. Mächtige, lange Würmer oder Tentakel. Die Erde knirschte, der Wald schrie und jaulte.

Und dann, Cain, dann sah ich es, für den Bruchteil einer Sekunde nur. Denn ich stürzte jetzt wirklich fort, ließ Leo hinter mir in dem Bunker zurück. Ich stürzte über Wurzeln, riss mir blutige Striemen ins Gesicht, weil mich Äste peitschten. Und erst als ich im Sonnenblumenfeld ankam, hielt ich an. Ich stand da und sog den brennenden Atem ein.

Dann, auf den Knien, wagte ich endlich, mich umzusehen.

Der brennende Himmel färbte mein Gesicht.

Der Lärm war sicherlich fort, unhörbar für die Bewohner von Kehl oder für die restlichen Bewohner der Erde.

Aber ich höre es, Cain. Ich höre die Erde unter mir immer noch aufreißen. Ich weiß, dass da draußen etwas ist, das sich auf der Welt ausbreitet, ganz dicht unter der obersten Erdkruste. Die Tentakel, die sich wie Adern und Venen unter der Haut verteilen.

Frag mich nicht, was es davon abhält, zu tun, wofür es gekommen ist. Seine Zeit scheint noch nicht da zu sein. Aber weit sind wir nicht mehr davon entfernt, Cain.

Ich weiß es.

Ich höre es atmen.

 

Was sagt ihr dazu?