Das Unbequeme – Essay

Die unbequemsten Menschen sind die, welche zum Zweck zu schlecht und zu[m] Mittel zu dumm sind. (Sophie Mereau-Brentano)

 

Meiner Erfahrung nach ist die Unterscheidung zwischen Zweck und Mittel nicht mehr so leicht zu verstehen. Man muss es mit dem Sprichwort erklären, eine Sache geschehe als „Mittel zum Zweck“. Ein Zweck ist ein Ziel. Und wenn Kant sagt, man darf nie einen Menschen als Mittel verwenden, stets immer nur als Zweck, dann bedeutet das: Jedes Handeln soll auf das Ziel „Mensch“ hin ausgerichtet sein. Anders ausgedrückt: Ich darf niemanden (miss)brauchen für meine Zwecke.

Wie kann der Mensch aber ein Zweck sein.

Für die Großen dieser Welt ist die Antwort schnell gegeben: Präsidenten sollen zum „Wohle des Volkes“ entscheiden. Es geht um eine Gerechtigkeit, die auch den Einzelnen trifft. Es geht um Entscheidungen, die im Großen und Ganzen dem Menschen dienen. Präsidenten oder grundsätzlich Staatsherren und –damen, die Entscheidungen treffen, deren Zweck es lediglich ist, dem eigenen Wohl zu dienen, sind unmoralisch.

Aber ich, wie kann ich den Menschen als Zweck und nicht als Mittel sehen? Wenn ich meinen Freund ausnutze, um mir oder einem anderen einen Vorteil zu verschaffen, verwende ich meinen Freund lediglich als ein Werkzeug, ein Mittel zum Zweck des eigenen Vorteils. Wenn mein Handeln allerdings darauf ausgelegt ist, dass es für ihn ist, so ist das Ziel, das Ergebnis, die Vollendung meiner Handlung dann erreicht, wenn es ihn erfüllt.

In der Stadt, in der ich mal lebte, gab es ein, sagen wir mal „berüchtigtes“ Viertel. Es war natürlich gar nicht so schlimm dort, aber der Arbeitslosenanteil war durchschnittlich recht hoch, der Migrationsanteil auch, es gab viele Geschäfte mit nicht auf Deutsch übersetzten Schildern. Durch das Viertel, von dem es hieß, dass man dort nicht nachts unterwegs sein sollte, verlief eine große, breite Fußgängerpassage. Nicht eine von denen, an denen sich Geschäfte und Boutiquen aneinander reihten und allmählich von großen Einkaufszentren in die Ecke gedrängt, allmählich billigen Ramschläden wichen. Nein, es war ganz merkwürdig: rechts und links säumten lediglich Wohnhäuser die Straße. In der Mitte war sehr viel Platz, so viel, dass es ganze Inseln gab, in denen entweder stillgelegte Brunnen oder einfach Bänke, hier und da mal eine Grube mit einem Grünstreifen vor sich hin gammelten.

Das ganze hätte sogar noch recht gemütlich ausgesehen, denn die Häuser waren alte Sandstein- und Jugendstil- und Gründerzeitfassaden. Die Inseln waren teilweise unsinnig, größtenteils vollkommen unbenutzt – auf keinem dieser Bänke dort habe ich je jemanden sitzen sehen, in den Brunnen war nie Wasser, in den Grünstreifen lag nicht einmal Hundekot. Doch die größte Fragwürdigkeit waren die Beschilderungen:

„Fußballspielen verboten!“ stand da. Oder „Skateboard und Fahrradfahren verboten!“ oder ein Piktogramm von einem Gesicht, dass den Finger des Schweigens auf die Lippen legte.

Hier war „Leben verboten“. Das war der Ursprung der Trostlosigkeit dieses Viertels. Vielleicht war ich immer nur zu falschen Zeit dort unterwegs, es zog mich ja nie wirklich hin. Wenn überhaupt waren es Ge- und Verlegenheiten, weshalb ich dort die Straße runter schlenderte.

Aber man hielt sich an die Gesetze der Trostlosigkeit, deren Zweck es wohl sein mochte, dass die Straße „störungsfrei“ funktionierte.

Was ist das für ein Zweck? Er ist nicht ausgerichtet auf das Mensch-Sein, auf das Big Picture. Natürlich kennt man die Stadtbewohner, die es ruhig haben möchten, zurückgezogen und ungestört, denen das Lachen von Kindern so unangenehm ist wie das Treffen von Bällen. Wenn es wenigstens Schaufenster gegeben hätte und nicht einfach nur Sandsteinfassaden. Wenn es wenigstens einen einladenden Spielplatz oder einen Bolzplatz gegeben hätte, dann hätte man wenigstens noch sagen können: „Dort, in diesem abgegrenzten Käfig ist das Spielen erlaubt. Dort darf Leben stattfinden. Aber im Rest der Stadt, soll bitte …“ ja was denn? „… herrschen.“

Nein, es gibt noch natürlich die unbequeme Variante: Der Zweck dieser Stadtplanung könnte ja die Art von Mensch sein, die Sophie Mereau-Brentano die unbequemen Menschen nennt. Vielleicht ist dies die Stadt der Unbequemen, welche als Werkzeug zu ungeeignet sind und denen der gewöhnliche Zweck zu hoch ist.

Fast kommt es mir so vor, dass die Bewohner sich darin fügen. Es gibt kein einziges Schild, das von ungebührlichem Ungehorsam entstellt worden ist. Es gibt keinen Schmutz auf der Straße.

Es gibt nur die Gesichter der Unbequemen, die sich mit den Tatsachen ihrer Umgebung abgefunden zu haben scheinen.

In dem fabelhaften Buch „Hallo Mister Gott hier spricht Anna“ von dem grandiosen Autor Fynn gibt es ein Kapitel „Rasen betreten verboten“. Da heißt es:

„’Blöde Wörter!’

‚Welche Wörter?’

‚Na die da <Rasen betreten verboten>. Immer ist alles verboten. Das schönste Gras darf man nicht haben. In der Kirche darf ich nicht tanzen, keinen Krach machen, nicht mal Mister Gott eine Geschichte erzählen. Alles verboten.’ (…)

Sie war mit dem Kummer noch nicht fertig. Sie fragte: ‚Weißt du, warum ich heute morgen geheult hab?’

‚Ungefähr.’

‚Es war ganz schrecklich. Ich wurde plötzlich immer kleiner und kleiner, so klein, dass ich fast überhaupt nicht mehr da war.’

Ihre Stimme klang dünn, wie von weit weg, aber plötzlich kam sie wieder. Strahlend sagte sie: ‚Aber es gibt mich noch, siehste.’“

Das ist das Bedürfnis der gequälten Menschen, die sich vermittelt fühlen, schätze ich: Durch eine Tat sich zurück ins Gedächtnis des Gegenübers zu rufen: Hallo, Mister, ich bin noch da. Ich BIN noch ein ZWECK. Es geht um mich.

Das kleine Philosophenmädchen Anna wählte das Lächeln, eine wundervolle, moralische, wertvolle, tief menschliche Variante.

Sie hätte aber auch brüllen können.

Von ganz unten herauf.

Regelrecht explodieren.

Beides sind extreme Enden einer Skala. Für die, welche gegen Kants Menschheitszweckformel verstoßen ist beides unbequem: das Lächeln wie das Explodieren.

Wird Zeit, dass wir wieder mit einem Lächeln unbequem werden.

Was sagt ihr dazu?