Stell dir vor, du bist nicht das, was das ganze Dorf von dir erwartet:
du bist nicht normal, sondern etwas Anderes.
Und dann stell dir vor, dein kleiner Bruder sei ganz normal.
Aber im Unterschied zu dir, kann aus ihm etwas werden.
Nämlich alles, was du willst!
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Über einen ganz und gar außergewöhnlichen Jungen
Es war einmal vor allzulanger Zeit, da lebte in diesem Land ein Junge mit außerordentlichen Fähigkeiten. Äußerlich unterschied er sich natürlich rein gar nicht von anderen Jungen seines Alters. Und auch wenn man ihn lange beobachtet hätte, so hätte man kaum einen Unterschied zu Gleichaltrigen festgestellt. Um ehrlich zu sein, war zu Beginn dieser Geschichte noch niemandem, nicht einmal dem Jungen selbst, bewusst, wie besonders er doch war und welch außergewöhnliches Schicksal ihm dennnoch bevorstand.
Wer aber ganz bestimmt etwas geahnt hatte, das war seine kleine Schwester Dorothee. Sie war von zierlicher Gestalt, hatte langes, blondes Haar – das ihre Mutter abends immer so gerne kämmte und durch die Finger fließen ließ – und ausgesprochen kluge, hellblaue Augen. Man sagte, sie sei „sehr wach“ und meinte damit, dass sie besser denken und verstehen und beobachten könne, als man es von einem Kind ihres Alters, und erst Recht von einem Mädchen, erwartet hätte. Dazu muss man wissen, dass in dieser Zeit, in der diese Geschichte spielt, Mädchen grundsätzlich als dumm galten. Es hatte zwar genausoviel kluge Mädchen gegeben wie es sie heute auch gibt, aber wann immer man auf ein kluges Mädchen stieß, so sagte man entweder: „Oh, das muss sie von einem Erwachsenen aufgeschnappt haben und jetzt plappert sie es nach, ohne dass sie recht weiß, was es bedeutet!“ oder man sagte: „Dummes Gewäsch.“ Und damit meinte man: „Ich verstehe nicht, was das Mädchen da meint, aber es muss dumm sein, weil Mädchen ja grundsätzlich dumm sind.“
Du wirst sicher schon bemerkt haben, dass diese Geschichte in einer Zeit spielt, in der die meisten Erwachsenen nicht besonders kluge Dinge gesagt haben. Leider kann ich dir da jetzt nicht widersprechen. Es war eine recht dumme Zeit mit recht dummen Menschen. Aber immerhin gab es Mädchen, die so klug waren wie Dorothee und die sich sehr früh vornahmen, sich nicht von dummen Erwachsenen etwas Dummes einreden zu lassen.
Leider hatte Dorothee das Pech, mit ihrem Bruder in einem kleinen Dörflein geboren zu sein, worin es zwar für erwachsene Männer gute Arbeit zu finden gab – es handelte sich um ein sogenanntes Grubendorf; dazu später mehr – außergewöhnliche Kinder allerdings gab es hier sonst nicht. Deshalb fühlte sich Dorothee wie sich alle außergewöhnlich wache Kinder fühlen, wenn es kein anderes Kind in der Nähe gibt, das so wach ist wie man selbst: sie fühlte sich einsam. Als ihr Bruder geboren wurde, und ihr Vater ihr sagte, dass jeder sich über die Ankunft dieses Jungen freue und sie, Dorothee, sich deshalb erst Recht zu freuen hatte, denn immerhin war dieses Kind im Unterschied zu ihr ein Junge und von daher klug, ja: da begriff Dorothee, wie wichtig ihr Bruder für sie noch werden würde. Und so ahnte das kleine Mädchen schon von Anfang an, sogar zu einem Zeitpunkt, da der kleine Bruder noch nicht einmal außerhalb des Bauches einen Atemzug gemacht hatte, dass dieses Kind etwas ganz und gar außergewöhnliches sein musste.