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Über eine ganz und gar außergewöhnliche Kindheit
Wann immer von der Geburt dieses Jungen die Rede war, erzählte man die Geschichte, dass über der Brust des Jungen eine zweite, dunkle Haut klebte in der Form eines Herzens. Der Vater nannte es „das Zweite Herz“. Die Mutter war beunruhigt, ob dieses Zeichen etwas Dunkles und Düsteres zu bezeichnen habe, immerhin sei schwarz keine positive Farbe. Der anwesende Arzt sagte nichts, der Pastor las ein paar Psalme aus der heiligen Schrift, die alte Hebamme, die anwesend war und die, seit sie vor vier Jahren von einer schweren Krankheit mit entstellten Gesichtszügen erwacht war, nicht mehr reden konnte, wischte ohne auf Aufforderung zu warten, mit einem feuchten Tuch das Zeichen einfach hinfort.
Wann immer von der Geburt dieses Jungen die Rede war, erinnerte sich Dorothee daran, dass ihr kleiner Bruder mit geschlossenen Augen zur Welt gekommen war. Und im Unterschied zu allen anderen, ludt sie eine solche Erscheinungsweise durch irgendwelche mystischen Spekulationen nicht auf. Sie dachte sich schlichtweg nichts dabei. Einmal fragte sie ihren Vater, ob auch sie mit geschlossenen Augen zur Welt gekommen wäre und der Vater, der ja glaubte, ein ungebildetes Mädchen stünde vor ihm, antwortete lediglich mit einem desinteressierten Schnauben.
„Es gibt Fragen“, sagte die Mutter daraufhin, „die sind so dumm, dass es keine Antworten darauf gibt.“
Den selben Satz sagte sie übrigens auch zu anderen Gelegenheiten.
Der kleine Bruder war in etwa sieben Jahre alt und Dorothee mochte zehn sein, da fragte sie ihren Vater, ob es denn möglich sei, dass es Farben überhaupt nicht gäbe. Immerhin wisse man von den Farben doch nur dadurch Bescheid, dass man sie mit den Augen sähe. Jeder Mensch habe aber eine andere Augenfarbe. So könne es doch sein, dass auch jeder die Welt in andere Farben getaucht sähe. Was sie für blau empfinde, könne für die Mutter ganz anders aussehen, denn sie habe ja braune Augen. Und bisher sei der Irrtum halt eben nicht aufgefallen, weil ja sowohl sie als auch die Mutter auf den selben Gegenstand zeigten und das selbe Wort sagten: „BLAU“, dieses Wort aber beide anders meinten. Um die Wahrheit herauszufinden, müsse man schon durch die Augen eines anderen sehen, was man ja aber nicht könne. Und …
Der Vater unterbrach seine Tochter mit einem ganz und gar desinteressierten Schnauben und die Mutter sagte daraufhin:
„Oh, es gibt Fragen, die sind so dumm, dass es keine Antworten darauf gibt.“
Ein weiteres Jahr später, man befand sich gerade bei einem Sonntagsausflug und saß auf dem rückwärtigen Anhänger eines Pferdegespanns, umflogen von Geschmeiss der nervigsten Sorte, da sagte Dorothee: „Warum glauben wir, dass wir so was so viel besseres sind? Papa hat ja vorhin selbst gesagt, dass es auf der ganzen Welt viel zu viele Insekten gibt. Es gibt doch bestimmt viel mehr als es Menschen gibt. Vielleicht sind die Insekten ja die bedeutendsten Tiere im Universum und wir Menschen …“
Der Vater, der aufgesehen hatte, als die Tochter ihn erwähnt hatte, unterbrach sie jetzt mit einem so lauten desinteressierten Schnauben, dass selbst die Pferde einen Moment im Trab stockten und ihre Ohren sich aufrichteten, ob es da eine Gefahr gäbe, derer sie auszuweichen hatten.
„Oh Schatz, es gibt Fragen“, besänftigte die Mutter den Vater, „die sind so dumm, so dumm, dass es keine Antworten darauf gibt.“
Und damit war auch dieses Gespräch zu Ende und der Bruder, der mit dem Kopf an der Schulter der Schwester eingeschlafen war, zog leise die Nase im Traum hoch, was aber in Dorothees Ohren so unsagbar laut klang, als wäre das ganze Universum nur dieses eine Geräusch, dieses eine geräuschvolle Hochziehen der Nase. Im nächsten Augenblick war wieder Stille, vom gleichmäßigen Traben und Stampfen der Pferdehufe auf dem Straßenstaub abgesehen.
Die Stimmung war an jenem Tag aber nur kurz getrübt, denn es trafen sich die Familien der Grubenarbeiter des Dorfes etwas außerhalb auf einem Feld, das weit und flach begann und dann zu einem Hügel aufwuch, worauf ein kleiner, immerzu schmutziger Badesee lag, um ein gemeinschaftliches Treiben zu veranstalten. Es wurden Decken ausgebreitet und Getränke und Obst und Naschereien verteilt, es wurden Musikinstrumente ausgeladen und von Hand zu Hand gereicht, bis endlich jemand die Instrumente zu bedienen verstand. Und dann wurde gespielt und gesungen, gelacht und getanzt, es wurde gegessen und getrunken und Kinder und ausgelassene Männer sprangen in den schmutzigen Badesee und tauchten nach Katzengold.
Ihr kleiner Bruder war ein begeisterter Taucher. Er liebte das Wasser und er verstand es wie kein zweiter, lange die Luft anzuhalten, um unter Wasser zu bleiben. Daher war er einer von zwei Jungen, die die besten und schönsten und größten Steine an die Oberfläche brachten.
Dieser zweite Junge hieß Arro Stein. Aus naheliegenden Gründen wurde er aber seit zwei Jahren Arro Edelstein gerufen. Obwohl sein Talent, aus diesem Weiher schön gleichmäßig geformte Pyritsteine zum Tageslicht zu bringen, nicht wirklich etwas mit der tatsächlichen Grubenarbeit zu tun hatte, legten die Erwachsenen sehr große Erwartungen in Arro Edelsteins Zukunft im Bergbau.
Der alte graubärtige Vater Albrecht Stein trug seinen Sohn gern auf den Schultern durch die Gegend und verkündete voller Stolz dabei: „Mein Sohn! Mein Sohn! Ein Edelstein!“, wenn am Ende eines Sommerfestes der gutmütige Arro Edelstein erneut die besten Stücke von allen hervorgefischt hatte.
Doch schon seit letztem Jahr war für die Leute im Dorf klar geworden, dass Edelstein einen Konkurrenten hatte, einen, der es fast genauso gut wie er verstand, das nutzlose, wenn auch glänzende Gestein aus dem See zu angeln. Und das war nunmal Dorothees kleiner Bruder. Es gab jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen Arro Edelstein und ihrem kleinen Bruder; einen Unterschied, den nur die beiden Geschwister kannten: Der Grund, weshalb Arro Edelstein stets so großartige Erfolge zustande gebracht hatte, waren einmal sein Talent, ganz lange die Luft anhalten zu können, zum anderen war es eine ganz gehörige Portion Glück, dass Arro Edelstein im schlackigen Boden unter Wasser so schöne Stücke hervorkramen konnte. Der Grund allerdings, weshalb Dorothees Bruder so gut war: Der kleine Bruder konnte in dieser brackigen Brühe die Augen offen halten. Während Arro eher blind im Sand am Grunde des Sees nach seinem Erfolg tastete, konnte Dorothees Bruder unter Wasser sehen.
Dorothee hatte vor ein paar Jahren bereits bemerkt, wie ihr Vater auf Edelsteins Erfolge im Katzengoldtauchen reagiert hatte. Während die meisten Männer dem stolzen Albrecht Stein kameradschaftlich gönnerisch auf die Schulter klopften, brummte ihr Vater nur ein knappes „Glückwunsch.“, bei welchem die meisten Vokale unterdrückt waren, es also eher wie ein stumpfes „Glckwnsch“ klang. Zudem keine Berührung – kein Schulterklopfen und zu Hause, mit einem Seitenblick auf den eigenen Sohn, sagte er laut und deutlich und sehr gedehnt, als teste er jede Silbe auf der Zunge aus: „Ein Edel-Stein.“
Dorothee hatte daraufhin den Rückschluss gezogen, dass es dem Vater irgendwie nicht gefalle, dass dieser fremde Junge so viel Erfolg hatte und war kurzerhand mit ihrem kleinen Bruder zu eben jenem Teich gewandert, um ihn dort einfach ins Wasser zu stoßen.
„Was soll das?“, beschwerte er sich.
„Schwimmen kannst du. Kannst du tauchen?“
„Klar!“
„Zeig her!“
Wie ein Karpfen hechtete ihr Bruder kopfüber ins kalte Wasser und tauchte kurze Zeit später wieder auf.
„Schwimmen kannst du.“, wiederholte Dorothee mit schneidender Stimme und einem sehr spitzen Grinsen. „Kannst du auch tauchen?“
„Hast du nicht gesehen? Ich war grad unten.“, meinte er und stemmte wütend die Hände in die Hüften.
„Und bist grad wieder rauf. Das kann man kaum Tauchen nennen. Das war kurz man den Kopf unter Wasser stecken.“
„Du willst mich wohl länger unter Wasser haben?!“
„Wollt ja nur wissen, ob du tauchen kannst. Einmal den Kopf nass machen, das kann man wohl jeder, aber –“, sie brauchte nicht weiter sprechen. Schon war er wieder abgetaucht und diesmal blieb er tatsächlich eine Weile unten.
Als der Kopf wieder über Wasser kam, geschah das so hastig, dass das Wasser nur so spritzte. Er schüttelte den Kopf, rieb sich das Wasser aus den Augen und sah zu seiner Schwester herüber, hochrot im Kopf und voller Stolz. Sie stand am Ufer und hatte die Backen gebläht.
„Was soll das jetzt?“, fragte er und sie gab ihm ein Zeichen zu warten.
Dann, es waren etwa dreißig sehr lange und stille Sekunden vergangen, prustete sie mit einem Schlag die Luft aus den Backen heraus.
„So lange hab ich die Luft angehalten.“, log sie. Da hätte ich länger tauchen können als du.“
„Dann tu’s doch!“, knurrte er jetzt wütend.
„Wut steht dir nicht.“, sagte sie frech. „Morgen schlag ich dich wieder.“, versprach sie ihm, half ihm aus dem Wasser und reichte ihm ein Handtuch. Er trocknete sich ab und sie gingen nach Hause.
Von da an übte sie jeden Tag mit ihm. Er tauchte und sie blähte die Backen. In ihren Gedanken zählte sie die Sekunden. Sie trainierten, ganz gleich, welches Wetter war, aber immer nur an Stellen, an denen niemand sie beobachten konnte. Im nächsten Sommer wurden sie beim Tauchwettbewerb Vierter, beim nächsten Mal auch schon Dritter. Von da ab wurde er nur noch Zweiter.