Der Mann von den Kirchenstufen hat enormes Zahnfleischbluten. Es gibt Tage, an denen ihm das Blut von den Lippen rinnt. Das Kinn sieht aus, als sei es tage-, wenn nicht wochenlang in Wasser aufgeweicht worden. Bizarr ist, dass er ein unglaubliches Talent hat. Es hat tatsächlich eine Zeit gedauert, bis es mir auffiel. Er flüstert Zitate. Mit einem Buch kann ich ihn mir gar nicht vorstellen. Er sitzt ja immer nur auf den Stufen, hält uns Vorbeigehenden seine Mütze hin, legt seinen Kopf schräg und zieht laut schlürfend das Blut in seinen Mund zurück, das ihm in Fäden aus den Mundwinkeln rinnt.
Er ist ein hässlicher Mensch, mit all seinen Falten. Und wenn er mal spricht, hört man, dass er auch eine hässliche Stimme hat. Sie ist rauh und tief, aber nicht sonor, sondern sie schwankt. Als ob sich das Gehrin nicht mehr erinnern kann, wie man der Brust befiehlt, gleichmäßig zu atmen. Er stinkt. Er schaut grob auf einen drauf. Und er sagt, als ob ihn irgendwas nervt: „Mein Kummer ist meine Burg!“ Und er sagt: „Mir ist zumute wie es einer Figur zumute sein muss, wenn der Gegenspieler beim Schach von ihr sagt: Diese Figur darf nicht bewegt werden!“
Und als er sagt, dass ihm seine Seele so schwer vorkommt, dass kein Gedanke sie mehr zu tragen versteht, kein Flügelschlag sie aufheben kann in den Äther, da bleibe ich stehen, starre ihn entgeistert an, dann an ihm vorbei, auf die Kirche, meine Augen wandern an dieser Fassade empor, bis ich oben das Kreuz sehe. Und da kommt mir ein Gedanke. Und zu Hause schlage ich alles nach und ich muss ewig suchen bis ich es endlich finde.
Am nächsten Tag regnet es. Es dauert eine Woche, bis ich die Zeit finde, zu ihm zu gehen. Und als er da sitzt, bin ich erleichtert, dass er nicht fortgegangen ist. Und ich sehe ihn und er lächelt nicht, als er mich sieht, sondern er fletscht die Zähne. Ich stelle mich aber vor ihn, habe keine Angst. Und ich zitiere nun auch: „Lass andre sich darüber beschweren, dass die Zeit böse sei. Ich klage darüber, dass sie jämmerlich ist; denn sie ist ohne Leidenschaft.“
Zu meiner Überraschung spuckt er Blut auf die Treppenstufe zwischen seine gespreizten Beine und er sagt: Dann bin ich wohl kaum jämmerlich, wie? Leidenschaft hab ich genug. Und er kichert blöde, hält mir die Hand entgegen und will, dass ich ihm auf die Beine helfe.
Da frage ich mich, was ich mir erhofft hatte. Er sitzt da, hat ganz offensichtlich Flöhe, so wie er sich in den Haaren kratzt. Und er hat ganz offensichtlich eine Hautkrankheit. Und das Zahnfleischbluten! Sein fleischiger Mundinnenraum- eine stinkende Eiterhöhle.
„Jaja.“, sage ich und winke ab.
Ich ziehe von dannen und er brüllt mir hinterher, dass ich ihm wenigstens einen Euro hätt in die Mütze werfen können. Dann packt er sich seine Mütze und wedelt damit durch die Luft und vor lauter Rufen muss er Husten, Blut spucken, sich am Treppengeländer festkrallen und sich krümmen vor Elend.