Der Zug der Wölfe (2)

Ausgehend von euren Antworten auf Instagram und Facebook geht es weiter mit dem nächsten Kapitel unseres kollaborativen Schreibprojektes. Viel Spaß beim Lesen. „Ich habe befürchtet, mein Warten wäre umsonst gewesen“ Mühsam gelang es Andrew gerade mal die Hände im Schnee zu Fäusten zu ballen. In seiner Brust wühlte ein grauenhafter Schmerz. Sobald er einatmete, verbrannte ihm die kalte Luft das Innere seines Brustkorbs. Ein röchelnder Laut quälte sich aus seiner Kehle. Er schmeckte Blut. Die fremde Stimme klang völlig unbeeindruckt, fast teilnahmslos: „Ich bin eigentlich sehr ungeduldig, musst du wissen. Selbst wenn die Welt nicht gerade auf dem Spiel steht, gibt es nichts, was ich mehr hasse, als tatenlos irgendwo zu sitzen, nur um zu warten.“ Andrew versuchte, sich irgendwie aufzurichten. Aber mehr, als die Knie unter seinem Leib anzuziehen, wollte ihm nicht gelingen. Die einzige Frage, die er hätte stellen wollen: warum war er nicht längst tot? Mit grausamer Detailliertheit kam die Erinnerung an die Wölfe zurück, die abwechselnd auf ihn zugesprungen waren und ihm knurrend, jaulend und zitternd vor Erregung die Zähne ins Fleisch geschlagen hatten. Er war gestürzt, aber sie hatten ihn auf die Beine gerissen. Mit ihren Sprüngen war er hin und her geworfen worden. Er hatte ein einziges Mal um Hilfe gerufen. Aber natürlich war sein Schrei vom eigenen Blut und dem Lärm der Tiere erstickt. Als sie endlich von ihm abgelassen hatten, war er sicher gewesen, jetzt einfach nur zu sterben. Er hatte ihnen zugesehen, wie sie weitergezogen waren. Und immer mehr und mehr von ihnen waren aufgetaucht. Ein gigantisches Wolfsrudel, das wie ein Meer über ihn hinweggeströmt war. Sie hatten ihn aber nicht alle ignoriert. Er erinnerte sich, dass der ein oder andere an ihm genagt hatte. Ihm, der vollkommen regungslos dalag, aber doch mit einem letzten Schwachen Abglanz von Bewusstsein alles mitbekam, Fleisch von den Beinen rissen, an seinen Kleidern zerrten. Er hatte beschlossen, in Ohnmacht zu fallen, es war wirklich eine freie Entscheidung gewesen. Ein Augenschließen und ein sich Fallenlassen. Weil er gedacht hatte, dass das keine Ohnmacht wäre, sondern ein Sterben. „Lass ihn in Ruhe, Kleiner!“ Durch die Dunkelheit hatte er die Stimme gehört. Es war die gleiche, die ihn jetzt geweckt hatte.  „Ich will aber nicht!“, hatte etwas geantwortet, was auf seinem Rücken kniete. Er spürte wieder Wolfshauer in seinem Rücken. Aber dann konnte er den Kampf spüren, der auf seinem Rücken ausgetragen wurde. Nur ein kurzes, halbherziges Ringen um Vorherrschaft; ehe ihm endgültig das Bewusstsein weggekippt war. Jetzt sagte die Stimme: „Gib mir doch mal ein Zeichen, dass du noch genug am Leben bist, dass sich das Warten auch lohnt.“ Statt etwas zu sagen, robbte Andrew Yelzin sich zur Seite, er krümmte den Rücken durch, stemmte sich mit den Füßen in den Schnee und drückte sich langsam aber stetig ab. Irgendwie musste Andrew versuchen, seine Position zu verändern. Irgendwie musste er sich so drehen, dass er den Sprecher sehen konnte. Als er endlich eine halbe Drehung geschafft hatte – wobei ihm Blut und Schweiß über seine Stirn in die Augen liefen – war der Sprecher zwar in seinem Sichtfeld, aber dadurch, dass die Bäume zu viel Nachtlicht abschotteten, war nicht mehr zu erkennen, als ein an einen Baum zusammengekauerten Schatten. „Guten Morgen, Sonnenschein“, kicherte die Stimme. „Kannst du noch sprechen?“ Andrew wollte es versuchen. Er röchelte, spuckte einen schleimigen Blutspfropfen vor sich in den Schnee und brachte mit äußerster Mühe ein „Wer bist du?“ zustande. Der Schatten schnalzte mit der Zunge. „Hervorragend. Mein Name ist Hypatia. Und ich habe ein kleines Angebot für dich. Ich habe eine lange Reise vor mir und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wird sie beschwerlich und … entscheidend. Man sagt, dass solche Reisen, wie ich sie vorhabe, am besten mit einem Begleiter zu bewerkstelligen sind. Es gibt Abenteuer, die man nur zu zweit bestehen sollte, verstehst du? Mein Vorschlag ist jetzt folgender: Wenn du mir beweisen kannst, dass du es Wert bist, versorge ich deine Wunden und nehme dich mit.“ Eine feuerrote Schmerzwelle rollte wieder durch Andrews Brustkorb hindurch. Der Schmerz war es, der seinen gekrümmten Rücken wieder streckte, ihn vornüber in den Schnee warf und ihn dazu zwang, eine gefühlte Ewigkeit lang um Atem zu ringen. Als die Welle verebbt war, fand Andrew sich auf dem Rücken liegend und frischer Schnee fiel ihm vom Himmel ins Gesicht. Die Stimme lachte. „Die Wölfe haben dich ganz schön zugerichtet“, befand Hypatia. „Das waren keine Wölfe“, meinte Andrew. „Was sagst du? Keine Wölfe? Oh, ich bin neugierig, was war es denn sonst?“ Andrew gab keine Antwort. Er winkelte die Beine wieder an und drückte sich in Richtung des Schattens. „Hilf mir!“, bat er. Hypatia schnalzte mehrmals abfällig mit der Zunge. „Dann komm her. Komm zu mir. Sobald du hier bist – und zwar genau hier – rette ich dich.“ „Warum?“, keuchte Andrew. Er quälte sich weiter in Hypatias Richtung. Aber beim nächsten Versuch, die Beine anzuwinkeln, versagte ihm das rechte Bein vollends den Dienst.  „Wer leben will, muss darum kämpfen“, sagte Hypatia geheimnisvoll. „Das ganze Leben ist ein Kampf, ist es nicht so? Aber viele nehmen das Leben als eine Selbstverständlichkeit hin. Einen solchen Begleiter kann ich nicht gebrauchen. Und um ehrlich zu sein, ein solches Leben kannst du nicht gebrauchen. Nein: Am Leben bleiben, das muss verdient sein. Und jetzt mach!“, befahl Hypatia. „Ich sagte doch: ich hasse es, untätig zu warten.“ Andrew rührte sich nicht. Er atmete tief durch, atmete gegen den Schmerz an und fast noch mehr: gegen die Taubheit, die sich in seinem rechten Bein ausgebreitet hatte. Hypatia schnalzte wieder abfällig mit der Zunge. Wahrscheinlich deutete Hypatia seine Regungslosigkeit falsch, er hätte sich aufgegeben. Aber die Wahrheit war, Andrew wollte nicht aufgeben. Er wollte am Leben sein und er wollte, dass, wer auch immer Hypatia war, in ihm erkannte, dass er das wollte. Er hatte das Leben noch nie einfach so angenommen. Zumindest hatte er sich das eingeredet. Als er damals in die sibirische Kälte gezogen war, in die vollkommene Einsamkeit, da war er fest von dem Gefühl beseelt gewesen, so nah am wahren Leben dran zu sein, wie noch nie zuvor. Er hatte die Menschen verachtet, die in den Städten lebten, und über das Elend klagten, nicht genug Milch im Kühlschrank zu haben. Er hatte sie verachtet, wenn sie über Politik gesprochen hatten, über Kunst und über all die anderen Sinnlosigkeiten der Zivilisation. Gelacht hatte. Gespottet, sie verflucht. Am Leben sein, bedeutete kämpfen. Da hatte Hypatia ganz recht. Und wenn es das jetzt wirklich gebraucht hatte, dass Hypatia ihm das jetzt sagte, dann brauchte es jetzt seinen Kampf als finalen Beweis. Andrew überprüfte die Gefühle in seinen Armen. Er prüfte, ob er die Fäuste bewegen konnte, mehr noch: ob er die Arme bewegen konnte. Ob sie ihn tragen würden, wenn ihm auch die Beine den Dienst versagten. Er prüfte, ob die Muskeln in seinem Genick stark genug waren, seinen Kopf zu heben. Er prüfte seinen Willen, ob er Herr über den gewaltigsten Schmerz werden konnte, der sich anbahnte, von seinem Brustkorb aus die Herrschaft über die letzten Minuten seines Lebens zu übernehmen. Und dann schrie Andrew auf. Er schrie, damit er den Schmerz verdrängen konnte, während er sich mit einem einzigen Kraftakt zurück auf den Bauch warf.  Er schrie gegen den Schmerz an, als er sich auf die Ellbogen stemmte. Während er auf den Armen Hypatia entgegenrobbte, war ihm, als ob ihm der Leib unter sich aufplatzen würde, als ob ihm die Lunge zwischen den Rippen auf den Boden fallen würde. Er zog den kraftlosen Leib und die gefühllosen Beine hinter sich her. Wo seine Fäuste etwas zu greifen bekamen, erlaubte er sich das Hochgefühl des Erfolgs, jeder gewonnene Zentimeter verstärkte seine Anstrengung. Als erstes gab die Kraft in seinem Genick nach. Sein Kopf sackte einfach nach unten und sein Gesicht grub sich erneut in den Schnee. Jetzt war jeder Schrei erstickt. Aber noch lange nicht sein Lebenswille. Mit aller Kraft streckte er beide Ellbogen vor und zog erneut seinen ganzen nutzlosen Leib voran. Das Gesicht wurde ihm durch den Schnee gezogen. Er hielt die Luft an. Noch einmal, diesmal nur der linke Arm, kämpfte er sich Hypatia entgegen, die er nicht sehen und nicht mehr hören konnte.  Auf einmal war da Angst, dass er wieder vollkommen allein da lag. Die Begierde brannte in ihm, eine menschliche Stimme zu hören. Er hob noch einmal seinen Kopf, keuchte Hypatias Name, stemmte dabei den rechten Arm vor sich und noch einmal zerrte er den Leib voran. Hypatia schnalzte wieder mit der Zunge. Andrew hatte gehofft, die Stimme würde ihm Mut zusprechen, ihm entgegenkommen. Aber Hypatia sagte schlich: „Das langweilt mich. Anderen Menschen beim Überleben zusehen hat etwas Ermüdendes.“ Und dann gähnte Hypatia laut. „Du kannst mir nicht helfen“, sagte Andrew plötzlich. „Nicht wahr? Du kannst mir das Leben nicht retten. Du kannst nur dasitzen und dich über meine nutzlosen Anstrengungen amüsieren.“ Jetzt lachte Hypatia. Aber die Antwort blieb aus. Diesmal viel schwächer und viel weniger effektiv robbte Andrew ein weiteres Stück auf den Schatten zu. Er spürte, dass jetzt Eis unter dem Schnee lag. Das bedeutete auch: Es würde keine weiteren Äste geben, die er hätte greifen können. Jetzt gab es nur noch die Anstrengung selbst, den Kampf gegen das Sterben und das Gefühl, mit jedem Kraftakt nicht der Rettung, sondern dem Tod näher zu kommen. Erstaunlich leicht fiel es ihm jetzt, sich wieder zur Seite zu drehen. Und jetzt sah er die breite Blutspur, die er hinterlassen hatte. Das viele Blut verriet ihm, was ihm das taube Gefühl in den Beinen und im Unterleib längst versucht hatte zu sagen: die Zeit war da. Sibirien sollte also sein Grab werden. Der Schnee war ein ganz angenehmer Sarg, nicht wahr? Als er damals vor der Zivilisation geflohen war, hatten sie ihm gesagt, dass es keinen besseren Ort zum Sterben gab, als die Gefriertruhe der Welt. Die Kälte machte angeblich jeden Schmerz erträglicher. So ein Unsinn, dachte er. Schmerz war Schmerz. Und es gab keinen Tod, der auch nur ansatzweise erträglich war. „Wenn du mich retten kannst, dann los“, er konnte nur noch flüstern. „Spar uns das Schauspiel und rette mich.“ „Wo wär da der Sinn?“, fragte Hypatia. „Du wärst am Leben, aber keiner von uns hätte etwas davon.“ „Sei still! Komm und rette mich oder verschwinde und lass mich sterben“, er schloss die Augen. Hypatia schwieg. Andrew konnte ihren bohrenden Blick spüren. Der Wind nahm zu. Er wehte den Schnee von den Bäumen, und er verstärkte das eigentliche Schneien. Die Kälte war beißend, aber auch irgendwie beruhigend. Sie erinnerte Andrew an etwas. Er schloss die Augen und war zurück in seinem ersten großen Wintereinbruch in der Hütte. Damals hatte er noch in Notizbüchern alle seine Gedanken festgehalten, seine ganze Verachtung über die Kultur, die ihm wie ein bizarrer Treibsand vorkam. Ein Treibsand, der einen genau in dem Augenblick zu verschlingen begann, da man der Festigkeit des Bodens zu zweifeln begann. Rückhaltlos und oberflächlich war ihm alle Kultur erschienen, realitätsfern und vor allem fern von jedem Respekt gegenüber den Gefühlen Einzelner. Er hatte über seine Entfernung von der Kultur geschrieben, wie erleichtert er war, dass er jetzt nur noch die Kälte der Natur und nicht mehr die Kälte von Menschen ertragen müsse. „Den Winter Sibiriens“, hatte er geschrieben und sofort den erhabensten Stolz gespürt, der einen großen Gedanken auf Papier festhält, „Den Winter Sibiriens ziehe ich jeder menschlichen Kälte vor!“  Aber noch im selben Winter hatte er all seine Notizen im Kamin verbrennen müssen, um überhaupt am Leben zu bleiben. Die Flammen hatten jeden noch so klugen und jeden noch so vernichtenden Gedanken gefressen und ihn als Gegenleistung am Leben gelassen. Bitter hatte er sich so nah es nur ging an die Glut des Kamins gesetzt, in Decken gewickelt, kaum gewagt, sich zu bewegen.  Väterchen Frost war ihm ein unbarmherziger Gast gewesen. Aber Andrew hatte ihm getrotzt. Er hatte den letzten Rest Zivilisation – all seine Worte – aufgegeben und aus dieser Vernichtung heraus, Wärme und Leben gewonnen. Jetzt kam es ihm wie eine Erweckungszeremonie vor. Jetzt, kurz vor dem nächsten möglichen Ende. Eine Zeremonie, die wirklich notwendig gewesen war, um endgültig einen festen Boden unter den Füßen zu haben. Eine Reinigung. Wenn es das brauchte, um am Leben zu bleiben, dann musste es sein. Andrew Yelzin schlug die Augen auf. Es war Zeit. Zeit, sich für das Leben zu entscheiden. Vollkommen lautlos stemmte er sich zurück auf die Ellbogen. Die Anstrengung versagte ihm das Atmen. Der Schmerz explodierte jetzt in seiner Brust, so als brülle ihm sein Körper vehement den Vorwurf entgegen, dass es nutzlos sei. Dass jedes Bemühen umsonst wäre. Der Tod hatte ihn doch bereits mit seinen Klauen berührt. Dennoch warf sich Andrew Yelzin dem Schatten entgegen. Er schlug mit dem Gesicht hart auf das Eis, nutzte aber den Schwung und robbte weiter voran. Er ignorierte den neuen Schmerz in seinem Gesicht. Noch einen Schwung verschaffte er sich mit dem einen funktionierenden Bein und dann noch einmal und noch einmal. Er spürte, wie seine Faust etwas zu greifen bekam, packte es, zog sich daran hoch und jetzt entwich die letzte Luft aus seinen Lungen. Er schrie, schrie die letzten Züge, die er machte hinaus und dann hatte er es geschafft. Direkt vor ihm tauchte das Gesicht auf. Die Augen blitzten ihm durch die Dunkelheit entgegen. „Bravo“, sagte Hypatia. „Wer hätte es gedacht?“ Und dann trat die Gestalt endlich vor, oder der Himmel riss auf, so genau war das nicht zu sagen. Jedenfalls war das Gesicht auf einmal nicht mehr im Schatten. Es war aber kein Mensch. Es war nur wieder ein Tier. Ein Fuchs diesmal.  Mit feuerrotem Fell, einem Maul, in dem das Grinsen die gebleckten Zähne offenbarte und einem überdeutlichen weißen Fleck über dem rechten Auge, dass es fast aussah, als trüge es ein Monokel. „Herzlichen Glückwunsch“, zischte der Fuchs und schnalzte wie zum Applaus mehrmals mit der Zunge. „Du hast dir das Leben verdient. Du schuldest es mir. Wir beide sind nun aneinandergebunden. Du bist mein Begleiter und gehst, wohin ich gehe, tust, was ich dir sage, lebst, was ich lebe und stirbst, wenn ich sterbe.“ Andrew erstarrte. Die Fuchsaugen blitzten auf. Hypatia, der Fuchs, grinste breit und gefährlich.  Und dann riss das Tier sein Maul weit auf und Andrew verlor das Bewusstsein.

Was sagt ihr dazu?