Wie ein Schock läuft?
Ganz anders als man so denkt.
In dem eigentlichen Augenblick, den „Auslöser“, kommt dir alles lupenrein und klar vor. Eigentlich läuft alles viel zu schnell vor deinen Augen ab. Du kommst gar nicht mehr hinterher damit, deine ganzen Eindrücke im selben Augenblick zu verstehen. Alles stürzt auf dich ein. Die fliegenden Kastanien. Die Treffer. Das Ausweichen, der Lauf um die Kurve. Der Anblick von Toni. Der schwere Ast, den sie über den Kopf hält. Wie er geschleudert wird und Toni fast das Gleichgewicht verliert. Ihr Lachen. Der Treffer. Wie sich Sven überschlägt, vom Weg runter, den Hang hinab. Wie das Laub unter deinen Schritten knirscht. Wie du rufst, wie Silvy ruft, wie Markus’ Gesicht sich in eine kalte Maske des Zorns verwandelt. Wie du den Hang runterrutschtst. Wie Markus hinter Toni her rennt. Wie Toni lacht und wie das trockene Laub unter deinem rutschenden Körper zischt und brodelt. Svens Körper. Sein Gesicht. Das Blut, das das Gesicht verkrustet und das Blut, das auf den Blättern klebt. Milliarden Bilder, die zu Millisekunden komprimiert werden. Durch die du hindurchgeschleudert wirst, bis du mit Handtüchern um die Schultern gewickelt in einer ganz anderen Ecke des Walds neben Silvy hergehst. Und das Laub nur noch trocken knistert und rauscht.
Was passiert dann? Wenn du zur Ruhe kommst?
Dann hast du endlich Zeit dafür, echt schockiert zu sein.
Und das bedeutet, dass du in deinem Kopf auf einen Schlag nichts anderes mehr sehen kannst als „den Auslöser“. Ununterbrochen. Du versuchst dich abzulenken. Versuchst einen Gedanken zu finden, der dich vom großen roten Bild wegzieht.
Aber nur Nebel.
Und keine einzige Stelle, wo du den Anker hinwerfen kannst.
Dein Gehirn hat nichts anderes zu tun, als auf der großen weißen Leinwand den großen roten Film abzuspielen.
Der Weg war ganz gelb.
Der Herbst war noch nicht weit genug fortgeschritten, die Farbe aus den abgefallenen Blättern herauszupressen. Sie waren so zahlreich in den letzten Tagen gefallen, dass der Weg sich wie ein leuchtend gelber Fluss ausnahm.
Wir kamen in die Höhe der Jungfrauenmauer. Von hier aus hätte man einen schönen Ausblick genießen können. Man lag zwar recht tief, aber immer noch höher als die Hauptstraße, die durch den Ort führte. Und gleichzeitig war hier die Hauptstraße an ihrem höchsten Punkt und lief von jetzt ab schnurgeradeaus bergab. Das bedeutete, hier hätte man, wenn kein Nebel gewesen wäre, das ganze Dorf überblicken können, bis hinunter zum Entenpfuhl. Durch den Nebel sah man allenthalben schwach die Farben der nahegelegenen Tankstelle durchleuchten.
Ein paar Schritte weiter tauchte dann der gelbe Roller aus dem Nebel auf. Er stand an die Überreste der Jungfernmauer gelehnt. Und wir erkannten ihn sofort.
Silvy und ich näherten uns ihm vorsichtig und bemüht lautlos.
„Das ist Tonis Maschine.“, flüsterte Silvy.
Wir sahen uns um. Lauschten. Aber kein Geräusch weit und breit.
Sie ging auf den Roller zu, ganz vorsichtig und immer wieder sich umschauend. Ich war nervös. Und sah, wie sie mit den Fingerspitzen sachte über das gelbe Metall strich. Als könne sie es nicht glauben, was da vor uns stand.
„Und jetzt?“, flüsterte sie. „Was tun wir jetzt?“
„Ich hab keine Ahnung.“, gestand ich. An den Seiten war die Wespe aufgemalt, die voller Hass in Fahrtrichtung starrte und mit dem Stachel drohte.
„Es ist auf jeden Fall ihr Roller.“, sagte ich.
„Auf jeden Fall. Und? Was meinst du: Sollten wir uns verstecken?“
„Und dann?“, ich hatte wirklich absolut keine Ahnung, was wir tun sollten. Unsere Handys hatten keinen Empfang. Es war nicht möglich, schnell jemanden zur Hilfe zu bekommen. Und aufteilen hielt ich grundsätzlich für eine schlechte Idee. Man weiß ja aus allen Arten von Filmen, wie solche Sachen dann ausgehen.
„Was soll das bringen?“
„Wir lauern ihr auf.“, erklärte sie.
„Es tut mir leid, wenn ich mich wiederholen muss: und dann? Was soll das bringen, Silvy?“
„Ich weiß es nicht.“, gestand sie. „Aber was willst du sonst tun?“
Und dann sah sie sich gehetzt um und ihr schien ein anderer Gedanke zu kommen: „Und was willst du tun, wenn Toni jetzt einfach durch den Nebel gestapft kommt und uns hier stehen sieht?“
Das war ein verdammt mieses Argument. Bestimmt hätte es genug Dinge gegeben, die wir hätten tun müssen. Aber ich folgte Silvy hinter die Jungfrauenmauer. An einer Stelle hatte mal eine Bank gestanden und nur noch die Betonbeine davon standen verloren davor. Dort lag hinter der Mauer eine tiefere Mulde im Boden. Und weil die Steine ziemlich lose aufeinandergestapelt waren, konnte man sich hier gut verstecken und gleichzeitig gut auf Tonis gelbes Wespenmotorrad schauen.
Es war eiskalt und feucht auf dem Boden. Wir waren auch noch vom Laufen geschwitzt. Da half kein Handtuch. Mir kam der Gedanke, dass wir wohl nicht nur heute in der Schule vermisst werden würden.
„Kommst du morgen zu mir?“, fragte ich. Sie sah irritiert zu mir rüber.
„Ich mein ja nur, wenn wir zusammen krank werden, dann können wir morgen auch zusammen krank sein.“
Sie verdrehte die Augen.
„Im Ernst, ich halte dir einen warmen Platz in meinem Krankenbett warm.“
„Hättest du gern.“, knurrte sie. Aber sie klang nur halb so sauer, wie ich es verdient gehabt und erwartet hatte. Das gab mir irgendwie trotz der aufsteigenden Bodenkälte ein vertrautes Gefühl.
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