Wir hatten damals wirklich verdammt gut zusammengepasst. Ja, es mochte sein, dass ich verblendet war, weil ich über sie und unsere Trennung noch nicht richtig hinweg gekommen war. Vielleicht war ich auch einfach naiv, weil ich außer Silvy keine andere Freundin gehabt hatte. In solchen Fällen ist man garantiert extrem naiv. Wenn du keine Erfahrungen hast und keine Alternativen kennst, ist es doch wohl klar, dass das eine Mädchen dann die berühmte eine sein musste. Aber nein, ganz im Ernst: Es brauchte keine großen Anstrengungen, um wieder verdammt gute Filme in mir aufkommen zu lassen. Der Film etwa, wie wir gemeinsam auf Fotosafaris gezogen waren. Sie hatte unbedingt ihre Kamera kennenlernen und ihre Fotografietalente verbessern wollen. Ihr ganz großer Traum hatte sich von Fotojournalistin zu Reisefotografin verändert. Sie wollte durch die ganze Welt reisen und atemberaubende Naturaufnahmen machen. Und während wir durch die Wälder streiften, um die perfekten Bilder einzufangen, redete sie davon, dass es irgendwann in der Zukunft keine Natur mehr geben würde und sie nur noch auf Fotos existierte. Papier gewordene Erinnerungen an die Gegenwart. So nannte sie das.
Oder der Film, wie wir die Zeit in ihrem Zimmer verbrachten. Ihr Zimmer, die Insel, in die wir uns zurückzogen und einschlossen. Das große Bett mit der alles verschlingenden Bettdecke. Die Musik, sie hörte am liebsten Cat Stevens, Chris de Burgh, Brian Adams oder die Kuschelrock. Kuschelrock, das war eine CD-Reihe, die scheinbar nur für unsere Generation gemacht worden war und in Musik einfangen wollte, wie es sich anzufühlen hatte, wenn man verliebt war, wenn es draußen regnete und man mit der Freundin im Zimmer saß, auf einem Bett, händchenhaltend, in die Augen blickend, träumend, verliebt.
Compilations mit nur sanften Klängen. Wenn mein Leben eines Tages verfilmt wird, dann wird meine Jugend unterlegt sein mit einer Schnittcollage mit Kuschelrock im Hintergrund.
Nur durch die Erinnerung allein hatte ich das unwiderstehliche Bedürfnis danach, Silvys Hand zu halten. Ich hätte da unten in diesem nasskalten Loch alles dafür getan, wenn sie sich zu mir umgedreht und mich mit ihren gigantischen Scheinwerferaugen angesehen hätte.
Von jetzt auf gleich hatte dieses kurzes Schlaglicht von einer Erinnerung wieder einen schmachtenden Idioten aus mir gemacht.
„Silvy.“, flüsterte ich. Und ohne mich anzusehen griff sie mit ihrer Hand nach mir. Für einen Augenblick war ich überflutet von der aberwitzigen Idee, dass wir hier das selbe gedacht und gefühlt hatten und dass wir am Ende des Tages in einem Liebesdurchströmten Happy End nach Hause gehen würden. Aber dann zischte sie und ich sah, was sie gesehen hatte: Toni kam. Und ihre warme Hand presste sich auf meinen Mund. Silvys Körper spannte sich an, als wolle sie jeden Augenblick über die Mauer springen. Aus ihren Augen hätte ich die Gefühle von der Seite aus auch lesen können, wenn ich sie nicht so gut gekannt hätte: purer Zorn.
Doch dann flackerte auf einmal eine Spur von Erkennen auf. Sie riss die Augen weit auf. Ich sah regelrecht, wie sich ihre Pupillen erweiterten und ihr Mund aufklappte.
Aus dem anfänglichen Zorn wurde Angst. Angestrengt sah ich zu Toni rüber, um zu erkennen, was Silvy gerade gesehen hatte.
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