Die Eroberung einer ganzen verdammten Welt (1/2)

Die Kessler war unsere Deutschlehrerin. Und sie zitierte unglaublich gern Liedtexte oder hochtrabende Bücher. Meistens waren es Sprüche, bei denen man das Gefühl hatte, dass sie irgendwie darauf gemünzt waren, über uns zu spotten. Wir hatten ein paar Schülerinnen, die sich die Hände unbedingt waschen mussten, nachdem sie etwas an die Tafel geschrieben hatten. Dann zitierte sie: „Alle Wohlgerüche Arabiens werden diese kleine Hand nicht wohlriechend machen.“ Wenn einer etwas sagte, das recht oberflächlich war, sagte sie ihm: „Aus, kleines Licht! Ein Märchen ist’s.“ Da war ja wohl so richtig deutlich, dass sie mehr sagte, als wir verstehen konnten.

Es gab auch Augenblicke, in denen ihr der Zorn so richtig in den Kopf stieg. Und dann stemmte sie meist die Fäuste in die Hüfte und donnerte: „Vor ihm hab ich, wie immer schuldigen Respekt! Er aber sag’s ihm …“ und dann irgendwann verkürzte sie nur noch: „Er aber sag’s ihm!“ und wir wussten, dass wir gerade beschimpft worden waren, und verstanden doch nicht wie.

Bei all dem war sie von geradezu beeindruckender Ruhe erfüllt. Ich hasste sie dafür.

Aber erst, als wir sie eigentlich zum ersten Mal Lachen hörten, bemerkten wir, dass wir sie noch nie zuvor auch nur Lächeln gesehen hatten.

Es war einer von den üblichen heißen Tagen. Die Fenster des Klassenraums waren alle sperrangelweit offen. Und trotzdem wehte überhaupt kein Luftzug an uns vorbei. Uns lief der Schweiß in Bahnen von der Stirn. Ein paar Schüler hatten kleine, leise surrende Tischventilatoren dabei. Aber auch das brachte nicht wirklich etwas. Die kleinen Dinger schnitten nur hauchdünne Scheiben aus der Luft, mehr nicht. Die Kessler ließ uns Texte über Cortez lesen und dessen Angriff auf die untergegangene Wasserstadt. Es waren Abenteuergeschichten, in denen es genauso drückend schwül war wie bei uns. Einige Zeilen waren tatsächlich so lebendig und klar geschrieben, dass ich das sumpfige Tropenwasser fast zu riechen glaubte.

Der Kessler ging es darum, dass wir den Unterschied begriffen, zwischen Beschreibungen und Schilderungen. Ich verstand das Prinzip recht schnell. Und als wir im Text die Stellen markieren sollten, die eindeutig zur Schilderung gehörten, war ich schon einen Schritt weiter. Mich faszinierten irgendwie mehr die Wörter. Ich schäme mich ja fast, das zuzugeben, irgendwie geht das keinem so. Kein Mensch findet Wörter geil. Aber ich bewunderte, dass es den Wörtern so gut gelang, mich in die Geschehnisse hineinzuziehen. Ich fühlte mich von ihnen wie katapultiert in die Mitte zwischen Moctezuma und Cortez. Ich stand am Fuß jenen Berges, von wo die Atzteken Steine auf uns niederwarfen, ich schlug mich mit meinen Conquistadors durch den Dschungel und roch die stickige Luft in der Mitte jahrhundertealter Bäume, von deren Stämmen das Harz wie zähes, goldenes Blut herabtropfte. Mich stachen die Moskitos. Ich verfluchte meine matt gewordene Rüstung, die mich mehr behinderte, als dass sie mir half. Ich feilschte mit Eingeborenen, verhandelte mit Häuptlingen und spuckte den zähen Brei angewidert auf den trockenlehmigen Boden, den sie hier Kakao nannten.

Meine Fantasie verschwand aus dem Klassensaal. Ich war zwischen die Zeilen gerutscht und hatte hinter dem Weiß des Papiers die Welt untergehender Städte betreten. Dann stieß ich beim Lesen auf Worte und Sätze, die mich noch tiefer hineinzogen und ich markierte mit gelbem Textmarker und schrieb an den Rand ein Ausrufezeichen. Die Worte warfen Anker nach mir aus und versanken in meiner Brust. Sie rissen mich tiefer und tiefer hinein, bis ich nicht mehr hinaus wollte.

Erst als Camille neben mir flüsterte: „Oh, eine Katze!“, schreckte ich auf und ließ den Blick vom Papier. Auf der Fensterbank saß sie. Ein räudiges Vieh. Schwarz wie die Nacht und giftgrüne Augen. Nein, nur ein einziges Auge. Das zweite war zugekrustet und vernarbt, so unbrauchbar geworden wie das linke Ohr, das ganz zerfetzt war. Ein Kampfkater war das. Das Fell so verfilzt, dass einem schlecht wurde. Unwillkürlich verzog ich das Gesicht.

Aber die Kessler nicht.

Sie hatte Camille wohl auch gehört. Denn sie sah erst zu Camille und mir auf, dann folgte sie unserem Blick und dann sah sie die schwarzen Bestie da sitzen.

Das Tier gab ein lautes, halb krächzendes, halb quieckendes Geräusch von sich, das nur mit viel Fantasie an ein Miauen erinnerte. Dabei fiel ihm das Ding aus dem Maul, vielleicht sogar aus dem Rachen. Es klatschte auf den Boden neben dem Pult und machte laut Flatsch. Es war ein Stück Vogel. Ein Häufchen Dreck, fast noch widerwärtiger als dieser verschlissene Teufel.

Da quoll es mit der selben haltlosen Reaktion aus der Kessler hervor, wie es mir das Gesicht verzogen hatte. Sie lachte. Und es waren nur zwei kurze Geräusche. Darin steckte eine unverholene Freude, die Überraschung vor dem Unerwarteten, der Genuss an dem Widerwärtigen. Spitz waren diese beiden Silben, die aus ihr hervorbrachen. Und dann trat sie auf diese Missgestalt zu, nahm sie auf und fragte sie, was sie denn hier tue.

„Hast du dich verlaufen, mein Kleiner?“, beinahe zärtlich nahm sie die Katze in ihren Arm und streichelte sie. „Armes Ding.“, sagte sie und wir hörten den Kater schnurren.

„Du siehst ausgehungert aus.“, sagte sie dann noch. „Bald ist Pause. Hältst du so lange durch, dann wirst du dein Fressen bekommen, ja?.“

Er gab wie erwartet natürlich keine Antwort.

Er grinste uns nur gehässig an.

*

Ich hatte keine Lust auf Deutschhausaufgaben gehabt und sie deshalb so weit vor mir her geschoben, oder besser: von mir weg geschoben, bis ich sie schließlich vergessen hatte. Und dann war es achtzehn Uhr, ich war totmüde und mir fiel beim Abendessen vor Schreck fast das Messer aus der Hand, als mir einfach so wieder einfiel, dass ich noch etwas für morgen zu erledigen hatte. Mir wurde schlecht, weil ich eigentlich immer noch keine Lust darauf hatte. Und so genau wusste ich auch gar nicht mehr, was ich aufhatte. Ich erinnerte mich gerade nur noch daran, dass es eine aufwändige Aufgabe war. Ich zog mich also zurück in mein Zimmer und sah nach, was wir in der letzten Zeit gemacht hatten. Ich sah mir die letzte Deutschstunde nochmal genauer an, all das Zeug mit den Schilderungen und den Beschreibungen. Und ich sah, dass da ein Text war über das erste Treffen von Cortez mit den von Moctezuma entsandten Atzteken. Als ich den Text überflog, kam die Erinnerung schleichend wieder zurück. Die Atzteken hatten die Spanier wegen ihren glänzenden Rüstungen für Götter gehalten und hätten sie ohne weiteres zu Moctezuma gebracht, den vielleicht sogar abgesetzt und Cortez an dessen Stelle auf den Thron gesetzt. Aber Moctezuma spürte, ahnte oder wusste, dass Cortez auch nur ein Mensch sein musste. Deshalb beschloss der große König Moctezuma, dem kleinen Krieger Cortez und dessen Schiffsbesatzung eine Falle zu stellen. Das Volk glaubte, der glänzende Kerl da unten sei ein Gott, also würde er ihn wie einen Gott behandeln und ihn vor die Wahl stellen: entweder er nähme die typischen Opfergaben, die so typisch eklig und blutig sind, wie es sich für Atzteken gehörte, oder er würde die menschlichen Dinge wählen wie Schmuck und menschliches Essen. Natürlich tappte Cortez genau in die Falle und als die Besatzung sich für das Menschenzeugs entschied, hatte Moctezuma seinem Volk damit bewiesen, dass dieser Kerl ein Krieger und Eroberer war und nicht ein Gott, dem man die Füße so zu küssen hatte, wie alle das bislang getan hatten.

Das war eine richtig kluge Falle dachte ich. Und dann fand ich die kleine Randnotiz von mir an mich: „Aufgabe: Perspektivw. schrb. Atztk o Conq/Esp“.

Am liebsten hätte ich mich jetzt übergeben und damit eine Ausrede gehabt, morgen nicht in die Schule zu können. Ich hatte da schon so eine Idee, was die Kessler mit mir machen würde, wenn ich keine Aufgaben hätte. Aber mich jetzt in einen Atzteken oder in einem spanischen Conquistador reinzuversetzen und die selbe Geschichte noch einmal aus deren Sicht zu schreiben, da hatte ich nicht wirklich Lust drauf. Ich sah auf die Bilder, die in Mexiko irgendwo in einem Museum lagen und auf denen man die Geschichte wie mit einem Comic nachlesen konnte. Irgendwo hatte ich gelesen, dass die Mexikaner und die Europäer ganz unterschiedlich ihren Cortez wahrnahmen. Die einen fanden ihn natürlich als unglaublich großartigen Helden, die Mexikaner dagegen sah ihn als Schlächter und Ausrotter an. So richtig hatte ich noch keine Ahnung, was Cortez mit den Atzteken noch so alles anstellen würde, das hatten wir noch nicht gelesen. Aber bis jetzt fand ich ihn immerhin arrogant aber gewievt.

Mir gefiel Moctezuma aber irgendwie besser.

Dieser Typ, der das alles aufgeschrieben hatte, ein Soldat in Cortez Reihen, hatte auch höchsten Respekt vor dem Häuptling der Atzteken. Man spürte, dass er auch diese List, Cortez zu enttarnen, für richtig gut hielt.

Es war acht Uhr, als ich zu schreiben begann. Diese Bilder waren keine gute Inspirationsquelle, weil sie eben nicht wirklich modern gemalt waren, sondern halt eben alt.

Ich schrieb so, als wäre ich ein Abgesandter Moctezumas, der aber genauso wie Moctezumas dachte aber das Pech hatte, nur mit Leuten entsandt zu sein, die so unglaublich naiv waren. Deren einziges Argument auf der Reise zum Schiff lautete: „Aber es sind Götter.“ Und warum sind es Götter? „Na guck mal, wie die Glitzern! Sie tragen Sonnen auf der Brust.“

Ich schrieb, bis mir der Arm abfiel und dann war ich immer noch nicht wirklich auf dem Schiff und bei der Übergabe.

Ich besorgte mir was zu trinken und folgte der Idee, erstmal einen großen Teil meiner Geschichte zu überspringen. Ich begann einfach direkt auf dem Schiff. Also beschrieb ich die Santa Maria aus den Augen der Atzteken. Ich suchte mir im Internet alte Bilder von spanischen Schiffen. Dann besorgte ich mir etwas zum Essen. In meinem Zimmer machte ich mir die Musik an und legte mich auf mein Bett, die Decke anstarrend. So klug war der Plan des Moctezuma nun auch wieder nicht, dachte ich. Der Schmuck würde weder Cortez, erst Recht nicht die anderen aus der Besatzung kalt lassen. Die würden doch jetzt erst Recht denken, dass es in diesem Land etwas zu holen gab und die Gier würde sie noch mehr antreiben, gegen Moctezuma vorzugehen. Das war ja so etwas wie der erste Eindruck, den man von einem Land hatte. Und der erste Eindruck der Conquistadores war ja wohl der, dass hier irgendwo El Dorado sein musste. Das Goldland.

Aber wir ahnten davon nichts, als wir das Schiff betraten. Meine Begleiter hörten einfach nicht auf von diesem Schiff zu schwärmen, mit dem man hinter den Horizont und hinter diese Welt reisen konnte. Ununterbrochen redete sie von dem Göttlichen, dem Erhabenen, dem Unglaublichen und davon, dass sie Anteil daran hatten. Es war hier so unfassbar großartig, dass sie statt erhaben zu schweigen, einfach nicht die Klappe halten konnten. Mir fiel nur der Gestank auf. Die Besatzung, von der erst einmal nirgendwo etwas zu sehen war, schien monatelang ohne Hygiene auf engstem Raum gelebt zu haben. Ich sah den Rost an den Metallbeschlägen, die Splitter, die aus dem Holz ragten, hörte das Knarrzen der Schiffsplanken, roch den Schweiß und die Fäule, den Urin und den Kot. Ich sah das gefaulte Wasser in den Fässern und die Läuse im Fell eines Hundes. Ich sah all den Dreck und die sahen all den Glanz. Das Schiff war aber auch wirklich groß. Wir verliefen uns zuerst einmal (oder sollten wir uns verlaufen, damit war ja zu spüren bekamen, wie groß das alles hier wirklich war?). Wir standen am Steuerrad, das so schwer zu bewegen war, dass kein Mensch es drehen konnte. Wir standen an den Segeln, die so schwer zu heben und senken waren, dass auch hier nur Götter etwas zu bewegen vermochten. Wir traten durch übermenschlich hohe Türen ins Innere des Götterschiffes, stiegen hinab durch Dunkelheiten, die kein menschliches Auge durchdringen konnte und hielten uns an glitschig verfilzten Tauen fest. Wir spürten die höllische Hitze, das Infernale und einer fragte, ob das Götter oder Teufel wären, die hier waren. Wir haben aber besänftigende Göttergaben dabei. Mit Blut und Kakao beschmierte Kadaver.

Wir trugen das Zeugs in die Tiefen des Schiffes hinein und immer tiefer und tiefer in diese unterirdische Dunkelheit mit ihren beißenden, sauren Düften. Ich schmeckte auf meiner Zunge diese pelzige Luft und unterdrückte ein Würgen. Ich atmete nur mehr durch den Mund. Dann standen wir vor der letzten Tür. Wir traten ein und wurden von gleissendem Licht empfangen und von frischer Luft. Es war der innerste, tiefste Raum. Aber es war der befreiendste Teil des Schiffes.

Eine große Fensterfront hinter dem Kapitän ließ so viel Licht herein, dass wir blinzeln mussten und uns alle fast automatisch verbeugten. Da stand Cortez mit seinen langen Haaren vor uns. Er trat demonstrativ auf uns zu, mit mächtigen Schritten. Wir sahen zuerst seine Stiefel, dann seine langen, schlanken Beine.

„Oh göttliche Macht!“, riefen meine Begleiter aus und sanken vor ihm nieder. Einer fragte mich sogar: „Siehst du denn nicht, was das ist? Siehst du es denn nicht? Verstehst du es denn nicht?“

Und ich sah nach oben, sah die Hüften, die Schultern und dann das Gesicht. Ich erstarrte als mein Blick und der Blick des Kapitäns aufeinandertrafen. Es waren die dunkelsten Augen, die ich je gesehen habe. Es war ein Blick, der tief in mich eindrang, mich aushölte und nur noch als leere Hülle zurückließ. Ein Blick wie ein Laserstrahl. Ich erstarrte, taumelte, fiel, alles zugleich. Ein unglaubliches Taumeln durch die Zeit hindurch.

Der Kapitän, der vor mir stand und den alle Gott und Eure Herrlichkeit nannten, diese von Licht und Glorie umkränzte Figur, mit dem überlegenen Lächeln und dem alles durchdringenden Blick war Marisol.

Ich schrie, sprang aus dem Bett und spürte mein Herz bis zur Kehle hinaufschlagen.

Natürlich war ich eingeschlafen beim Versuch, die Worte zu finden, die ich brauchte. Und jetzt hatte ich in Kleidern geschlafen. Die Uhr zeigte vier Uhr an. Nicht wirklich Nacht, nicht wirklich morgen. Es graute noch nicht, war aber auch nicht mehr dunkel. Auf dem Boden lagen meine Notizen, die ich zerknüllt und weggeworfen hatte. Und auf dem Schreibtisch lag noch immer der Teil meiner Hausaufgaben, der schlecht war und nicht richtig.

Ich stand in der Mitte dazwischen und fühlte diesen Körper, der von der plötzlich Erkenntnis, dass Cortez und Marisol ein und die selbe Figur waren, ausgehölt und nutzlos vor.

Nein, dachte ich. Ich versuchte mich noch einmal genauer zu spüren. Der Körper war nicht einfach nur ausgehölt. Da war etwas. Ganz viel war da sogar. Mag sein, dass ich noch halb am Schlafen war, dass ich mich wie gerädert fühlte, weil mein ganzer Körper in diesem merkwürdigen Traum sich angespannt hatte und dann auch noch von jetzt auf gleich aus dem Schlaf in den Wachzustand gesprungen war. Mag sein, dass ich Trunken und Torkelnd war und immer noch halb vom Träumen durchsetzt. Aber ich fühlte, dass ich da in diesem hohlen Körper voll mit Wörtern war, die nur darauf warteten, aus den Fingern heraus auf ein Blatt Papier zu fließen.

Ich sprang viel zu schnell zum Schreibtisch und stieß mir dabei das Knie an. Aber ich schrie nicht, fluchte nicht, machte nichts anderes als einen Stift zu schnappen und zu schreiben. Es war wie eine Trance. So, als wäre auch das jetzt alles nur ein Traum. Ich meine: es war vier Uhr morgens. Da bin ich nicht wach, da sitze ich nicht wie ein Irrer oder ein Drogenjunky an Hausaufgaben und lasse da Sachen aus mir heraus aufs Papier fließen, die irgendwie richtig gut sind. Das alles, das fühlte sich anders an als alles. Ich schrieb und fühlte mich gut. Ich fühlte, dass das richtig gute Wörter waren, die zusammen passten, so als gehörten sie zueinander und wären jetzt schon viel zu lange getrennt gewesen. Wörter, die gedacht und geschrieben gehörten, weil es an der Zeit war, dass sie jetzt gedacht und geschrieben gehörten.

Nur leider waren es nicht die Hausaufgaben sondern ein Text, sowas wie ein Gedicht oder ein Lied.

Ich hatte viel durchgestrichen und drüber gekritzelt. Am Ende war da ein Textblatt, das selbst ich kaum lesen konnte. Aber ich ging hin und schrieb es wieder neu ab. Und dann änderte ich wieder. Das war wie feilen an dem, was man da hatte. Und dann musste ich es wieder abschreiben, es kamen neue Wörter hinzu, die jetzt besser passten als vorher und dann Wörter weg, die da nicht mehr hingehörten.

Und dann fehlte ein Wort, ich suchte und fand es, schrieb es hin, strich es durch, wieder hin, weil es eben doch perfekt war, aber ein anderes Wort war eben nicht gut. Und dann fehlte ein Reim. Dann passte der Rhythmus nicht und dann wieder von vorne und alles wieder neu schreiben und wieder zurück, da hatte ich eben doch etwas besseres, nein doch nicht, es klang nur gut, aber den Klang kann man ja übernehmen, es gibt da ein anderes Wort, das genauso klingt aber besser passt. Ja das! Ja! Das! Ich schrieb und schrieb und strich und dann schrieb ich noch einmal alles in Schönschrift ab und hatte nichts mehr zu korrigieren.

Das war jetzt ein Guss. Irgendwie alles perfekt.

Und es war klar, dass da nicht ein einziges Mal Moctezuma stand oder Cortez oder Kapitän oder Marisol. Aber es ging um ein Ich und darum, dass es einfach nicht sehen konnte, dass dieser Jemand da vor mir so göttlich war, wie alle behaupteten. Nein, das war kein Gott, der da vor mir stand. Jede Faser in diesem Ich weigerte sich. Die anderen irrten sich. Man selbst kannte sich aus. Und was gab es für ein besseres Argument, als dass man selbst es einfach besser wusste?

Bis zu dem Augenblick, da man dem Anderen in die Augen schaute und überrannt wurde. Dieser Andere war kein Gott, man hatte Recht gehabt. Aber man hatte sich auch grundsätzlich geirrt. Das da war auch kein normaler Mensch.

Ich hörte meinen Wecker klingeln, packte schnell alles ein, was ich hatte und dann stürzte ich ins Bad und duschte mir erstmal die Nacht vom Körper. Ich war so erschöpft wie noch nie, brauchte unter der Dusch fast doppelt so lang aber bekam die Panik und das Gehetztsein der letzten Stunden einfach nicht aus mir herausgespült.

Ich frühstückte wie immer allein in der Küche, weil mein Vater schon längst auf der Arbeit war und meine Mutter noch eine Stunde Zeit hatte. Dann nahm ich meine Tasche und rannte raus. Ich hatte Angst, Marisol zu verpassen und ich hatte Angst, ihr zu begegnen. Eigentlich wollte ich wissen, wie ihre Augen aussahen und wie sie auf mich wirken würden. Aber ich hatte Angst, dass sie erraten konnte, was ich geträumt hatte. Ich hatte Angst, ihr von dem Gedicht zu erzählen, das ich in meiner Jackentasche bei mir trug. Ich hatte aber irre Lust, es ihr zu geben, eben weil sie mich um ein neues Gedicht gebeten hatte. Ich hatte Angst vor Kessler, weil ich keine Aufgaben hatte. Und ich wollte mit Marisol reden, weil sie mir bisher immer irgendwie geholfen hatte, diese Angst in den Griff zu bekommen. Aber ich konnte ja schlecht sagen, warum ich die Aufgaben nicht hatte, ohne etwas von dem Gedicht zu sagen.

Und dann stand sie auf einmal vor mir und grinste mich an und winkte.

Und ich dachte zum ersten Mal seit langem wieder einen klaren Gedanken. Der Gedanke beendete meinen Rausch, in dem ich mich befand, wie mit einem Schlag. Ich dachte: „Du hast dich heute Nacht in sie verliebt.“

Das wäre ein guter Moment gewesen, dieses Kapitel zu beenden und einen Zeitsprung zu machen und einfach nicht mit diesem Gedanken im Kopf und dem Herz voller Angst und der Tasche voller Worte, die eigentlich ihr gehörten und nicht mir, vor ihr zu stehen. Der nächste Satz müsste eigentlich heißen: ich saß bei der Kessler im Unterricht und hatte keine Hausaufgaben.

Aber der nächste Satz lautet:

(…)

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