Die Eroberung einer ganzen verdammten Welt (2/2)

Marisol fragte: „Na, wie geht’s?“

Und dann: „Siehst ein bisschen gehetzt aus.“

Es genügte ihr, dass ich mit den Schultern zuckte und so tat, als würde ich lächeln.

Dann schlenderten wir langsam los und sie fragte: „Warum bist du heute eigentlich so pünktlich?“ Keine Antwort. „Steht dir, die Pünktlichkeit.“

Und dann erzählte sie einfach drauf los, von irgendeiner Musik und von Gitarrenmarken und von Zeug eben. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Dann, bei den Bahntrassen, an der Stelle, wo wir auch letztens nebeneinander gelegen hatten ohne etwas zu sagen, hielt sie an und musterte mich. Ich wich natürlich ihrem Blick aus.

„Was ist los?“, fragte ich unschuldig.

„Wollte ich grad fragen. Was ist los? Du hast noch nicht ein einziges echtes Wort gesagt. Das steht dir überhaupt nicht.“

„Ich hab dir doch von der Kessler erzählt.“, begann ich zögernd. Sie nickte. „Ich hab die Hausaufgaben nicht. Die wird mich in der Luft zerreißen. Und du bist schuld dran.“

Das letzte war mir irgendwie rausgerutscht. Ich lief sofort knallrot an.

„Ich bin schuld?“, fragte sie erstaunt und mit weit aufgerissenen Augen. Verdammt nochmal. Es waren aber auch wirklich die selben Augen, wie sie sie in meinem Traum hatte. Genauso dunkel und tief, genauso durchdringend und unnachgiebig. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als noch einmal lupenrein zu denken: „ich bin verliebt!“

Aber ich riss mich am Riemen und sagte: „Du hast mir doch gesagt, dass ich wieder einen Text schreiben soll. So ein Gedicht. Sowas halt. Und wir sollten einen Perspektivwechsel schreiben und jetzt hab ich dieses scheiß Gedicht in der Tasche.“, ich zog es sogar raus und wedelte damit rum, steckte es aber schnell wieder ein.

„Darf ich sehen?“

„Nein.“, knurrte ich. „Dann wirst du mich nicht mehr Ernst nehmen.“

„Nicht mehr Ernst nehmen?“

„Mein Problem! Ich werd in nicht einmal zwei Stunden von der Kessler auseinandergenommen. Die kennt keine Gnade. Erst recht nicht mit mir.“

„Hast du dich mit ihr angelegt?“

Ich errötete schon wieder. Es wäre schön gewesen, wenn ich jetzt hätte „Ja“ sagen können. Dann wäre ich der große, starke Rebell gewesen oder so. Aber ich schüttelte den Kopf. „Sie kann riechen, wenn jemand Angst vor ihr hat.“, sagte ich statt dessen.

„Aha.“, meinte sie. Dann lachte sie und nahm mich in den Arm, so als wäre ich ihr kleiner Bruder oder so. Das fühlte sich richtig mies an.

„So ein Perspektivwechsel, das gibt es in Wahrheit doch gar nicht.“, sagte sie. „Ich kenn das, wir mussten auch immer wieder sowas schreiben. Aber da geht es gar nicht darum, dass man am Ende einen Text hat, der Perspektivwechsel heißt. Es geht darum, dass du mit dieser Methode dich in eine andere Figur hineinversetzt. Dass du verstehst, warum die so redet, wie sie redet und so handelt, wie sie handelt. Darum geht’s. Und wenn du das eben nicht auf die normale Art gemacht hast, sondern mit einem Gedicht, dann hast du trotzdem die Hausaufgaben gemacht. Und die Kessler wird dich nicht zerreißen, es sei denn, dein Gedicht ist so scheiße, wie du sagst. Aber dafür kenn ich deine Texte viel zu gut. Du bist ein Wörterschmied. Du hast da echt was drauf.“

„Ein Wörterschmied?“

Sie lachte. „Ja, das hab ich letztens irgendwo im Internet gehört, musste direkt an dich denken.“

Ich war ein wenig beruhigt. Vor allem war ich erleichtert, dass sie nicht danach fragte, das Gedicht lesen zu können. Sie fragte auch nicht nach dem Text, den ich hätte für sie schreiben sollen. Sie ließ das ganze Thema dabei einfach bewenden und wir gingen wieder nebeneinander her, als hätte sie mich nie wie ihren Bruder an der Schulter genommen, sondern als wär es genau so wie gestern. Genauso, als wäre alles normal.

*

Ich saß bei der Kessler im Unterricht und hatte keine Hausaufgaben.

Roassad übrigens auch. Aber der hatte einen guten Grund. Er sagte, er wüsste, dass er heute nicht drankäme. Wer sonst? „Na du! Die wird dich heute fertigmachen. Hoffe, du hast was gutes dabei.“

Nix hatte ich.

„Wie kommst du drauf, dass ich heute dran bin?“, hakte ich nach.

„Letzte Stunde?“, blaffte er, als sei es ja wohl mega selbstverständlich und als hätte die ganze Welt es schon seit Wochen gewusst, dass ich heute zur Schlachtbank geführt werde.

„Wegen dem bisschen?“, meinte ich.

Er lachte mich aus und ging. Ich war es nicht Wert, dass man es mir näher erklärte.

Letzte Stunde. Ich hatte vor mich hingeträumt und mich in diesem Text verloren. Sie hatte mich drangenommen und ich hatte keine Ahnung, worum es ging. Jeder andere hätte die Augen verdreht und mich zurechtgewiesen, dass ich wieder aufpassen solle. Aber die Kessler war die Kessler. Und das bedeutete, dass sie mir sagte, dass jemand wie ich besser aufpassen solle. Dann hatte sie ein Geräusch von sich gegeben, dass halb Schnattern, halb Lachen war, aber voller Verachtung. Und das tat sie, um zu unterstreichen, was sie über mich dachte: „Wenn du schon keinen Draht zu Literatur findest, solltest wenigstens so tun, als wärst du fleißig. Wenn du aufpasst und dich bei den leichten Fragen meldest, kann ich dir wenigstens keine fünf mehr geben. Alles klar? Und im schlimmsten Fall würdest du lernen, wie man sich mit Büchern auseinandersetzt.“ Dann die Pause, die andeuten sollte, dass sie das Thema wechselte. Sie drehte sich sogar von mir weg und dem Rest der Klasse zu. Und dann sagte sie, so als rede sie nicht mehr über mich, überhaupt nicht mehr, sondern über die ganze Welt: „Es gibt Menschen, die haben Leidenschaft und lieben die Wörter und die Sätze und die Geschichten. Und die anderen nennt man Banausen. Merkt euch das Wort!“

Was Leidenschaft ist, das sollten wir von dieser Frau mit der Teufelskatze lernen.

Aber Rosad hatte leider Recht. Ich war der erste, den sie drannahm. Und es lag dabei eine Gleichgültigkeit in ihren Augen, die mir Angst machte.

Ich schwieg zuerst, aber dann traf mich ihr vernichtender Blick und da dachte ich an Marisol und was sie gesagt hatte über Perspektviwechsel und fasste so etwas ähnliches wie Mut:

„Ich hab die Aufgaben, aber ich hab sie ein wenig falsch gemacht, ich …“

Ein Krokodil. Sie schnellte vor und schnappte meinen Namen.

„Du hast die Hausaufgaben gemacht und weißt, dass sie falsch sind.“, während sie so sprach, glaubte ich, es aus ihren Mundwinkeln zischen zu hören.

„Warum hast du sie dann überhaupt gemacht? Dann wäre es ja wohl besser gewesen, aufzuhören und wieder neu anzufangen und sie direkt richtig zu machen. Schon mal über sowas nachgedacht?“

Rosads Grinsen war nicht zu ignorieren.

Mein Zorn bestimmt auch nicht.

„Ich meinte damit, ich hab keinen Perspektivwechsel geschrieben. Aber etwas anderes. Ich habe…“

„Aber das war doch die Hausaufgabe. Was hast du statt dessen gemacht? Mathe?“

Ich nahm mir vor, nicht klein bei zu geben. Dafür war ich jetzt zu wütend. Vielleicht, so dachte ich und klammerte mich dabei insgeheim noch viel stärker an Marisols Worte von heute Morgen, vielleicht war es an der Zeit, dass die Kessler mal einen Kampf führte, den sie verlieren würde. Warum sollte es nicht mal ein Kampf gegen mich sein?

„ein Gedicht.“, sagte ich.

„Ein Gedicht?“, äffte sie mich nach.

„Ein Gedicht.“, wiederholte ich mit nur mühsam unterdrücktem Zorn. „Ich empfand das als angenehmer. Ein Perspektviwechsel soll ja nur dafür da sein, dass wir uns in die Figuren hineinversetzen können und verstehen können, was die damals so gedacht haben und verstehen, warum sie so und nicht anders gehandelt haben. Also von daher, hab ich die Aufgaben gemacht. Nur eben anders. Als Gedicht.“

Sie starrte mich an. Dann kam dieses überhebliche Grinsen in ihr Gedicht. Und sie wiederholte mit gepresster Stimme: „Es war aber kein Gedicht, sondern ein Perspektivwechsel aufgegeben. Na dann mal gut.“, sie begann zu säuseln. Dieses Geräusch klang gefährlich: „Du hast dir ja Mühe gegeben, schätze ich. Dann solltest du auch deine faire Chance bekommen, das Gedicht einmal vorzutragen.“, damit trat sie zur Seite und zeigte auf das Pult. „Gedichte trägt man im Stehen vor.“

Ich fühlte mich schon wieder ausgehöhlt. Diesmal aber von der Angst, die mich überwältigte. Jetzt konnte ich aber nicht mehr zurück. Und so stand ich auf und wollte vorgehen, musste aber noch einmal zurück. Denn mein Gedicht steckte ja noch in meiner Jackentasche am Stuhlrücken. Ich fummelte das Papier heraus, das heute Morgen eindeutig besser ausgesehen hatte. Während die anderen über das Papier kicherten und die Kessler sich sichtlich bestätigt fühlte, dass ich hier einfach nur auf dem Schulweg Worte hingekritzelt hatte, das wäre ja niemals ernst zu nehmen gewesen, trat ich also dorthin, entfaltete das Papier und nahm einmal tief Luft.

Dann trug ich das Gedicht vor.

Mir fiel auf, dass es sich anders anfühlte als heute Morgen. Es war, als läse ich das Gedicht jetzt selbst zum ersten Mal. Und deswegen fehlte mir das, was ich heute Morgen so tief gespürt hatte: Überzeugung. Es war, als wäre es nicht mein Gedicht, nicht meine Worte. Ich wunderte mich sogar über die Worte, weil ich sowas nie gesagt hätte. Es war so, als wäre das gar nicht mein Vokabular, was ich da vortrug. Es hätte mich gar nicht gewundert, wenn jemand laut gerufen hätte, dass das hier gar nicht mein Gedicht, meine Worte, mein Blut gewesen wäre. Aber zum Teufel, klang das gut. Es war ein richtig gutes Gedicht geworden. Ich spürte, dass es da drin einen Funken gab, der zu mir rübersprang. Dann war der Bann für mich gebrochen. Ich war im Gedicht drin, in den Worten. Sie kamen wie von selbst über meine Lippen und die gefühlte Lüge war fort. Ich war stolz.

 

Nur einen Blick – Und kein zurück

 

Das schlimmste war dann die Reaktion, die ich auf meinen Vortrag bekam. Nämlich keine. Alle starrten entweder mich oder die Kessler an. Die einen mit ausdruckslosen, aufgesperrten Augen und hochgezogenen Brauen. Die anderen mit erwartungsvollem, neugierigem Gaffen. Alle irgendwie in einer Mischung aus Apathie und Bereit zum Sprung.

Die Kessler applaudierte. Aber wie. Sie klatschte so träge und hämisch, dass es mir den Magen umdrehte.

„Du hast etwas als Hausaufgaben gemacht“, sagte sie. „Also gibt es schonmal keine 6. Du hast dir auch sowas wie Gedanken gemacht. Also keine 5. Aber es waren nicht die gestellten Aufgaben. 4. Setz dich! Rosad, lies vor!“, ihre Stimme war so gelangweilt, als ginge sie der Unterricht überhaupt nichts an. Ich setzte mich und sie schrieb mir eine 4 in ihre verfluchte Liste.

Rosad brauchte nicht lange, um sich zu fassen:

„Ich hab keinen Perspektivwechsel geschrieben“, sagte er. „Aber ich hab einen Tanz einstudiert, darf ich vorkommen?“

Alles lachte außer die Kessler.

Es war ein so verdammt befreiendes Lachen, das aus abermillionen Messerstichen bestand, von denen sich jede einzelne Spitze ganz langsam und genüßlich in mein Herz reinquetschte.

Den Rest der Stunde verbrachte ich damit, ganz langsam innerlich zu verbluten. Tropfen für Tropfen.

*

Ich lag auf dem Bett.

Mit einem eiskalten Herz in der Brust, das beim Schlagen knirschte statt pochte.

Über meiner Haut war sowas ähnliches wie Rauhreif.

Ich bewegte mich nicht, um keine Risse zu bekommen.

Meine Augen starrten nach oben. Irgendwohin.

Ich hatte die Anlage aufgedreht.

Die Musik waberte durch die Luft.

Noch nicht mal meine eigene Musik. Irgendwas von meinem Vater, das ich im Partykeller gefunden hatte.

Ich lag da. Und ich ließ die Welt unter mir sich einfach drehen.

Draußen spielten Kinder und klingelten mit Fahrradklingeln.

Dann klingelte es an der Tür.

Ich war allein zu Hause. Deshalb musste ich aufstehen und hingehen. Völlig verdaddert starrte ich Marisol an. Sie legte den Kopf schon wieder schräg. Das war in letzter Zeit so ihr Ding. Oder hatte sie das schon immer getan und mir war es erst aufgefallen, als ich mich in sie verliebt hatte?

Ich sagte: „Komm rein!“ und drehte mich einfach um und ging nach oben zurück in mein Zimmer.

Sie war zum ersten Mal hier. Und deshalb sah sie sich bestimmt um. Keine Ahnung. Ich warf mich wieder auf mein Bett und so fand sie mich schließlich auch vor.

„Ist nicht gut gelaufen?“, fragte sie.

„Frag nicht.“, bat ich.

Ich versuchte mich wieder auf mein vor Kälte knirschendes Herz zu konzentrieren. Aber wenn sie hier bei mir im Zimmer war, klappte das nicht. Statt dessen stockte mein Herz jetzt sogar ganz kurz, weil es mir durch die Gedanken jagte: Sie ist zum ersten Mal hier. Sie sieht dein Zimmer und wird zum ersten Mal eine Meinung von deinem Leben haben. Was sieht sie? Die schmutzige Wäsche hinten in der Ecke! Die Bücher und Zeitschriften, die von unter dem Bett hervorlugten. Die Poster von Bands. Der chaotische Schreibtisch. Die uralten Legobauten in der Vitrine. Auch der Staub drauf? Die Buchtitel. Die CDs. Das alles ist viel mehr von mir, als sie bisher kennengelernt hat.

„Was tust du eigentlich hier?“, fragte ich hastig. Ich sah zu ihr rüber. Sie stand an meiner Anlage. Das ist nicht meine Musik, schrie es in mir. Das ist das alte Zeug von meinem Vater. Das bin zum Beispiel grad nicht ich! Ich fluchte und fluchte. Alles was ich dachte, waren Verwünschungen der wildesten Art. Das ging so lange, bis mir nichts mehr einfiel. Ich hatte sie reingelassen und jetzt war sie hier und sah sie sich um. Sie fand noch nicht mal wirklich einen Sitzplatz. Grinsend nahm sie die Bücher und Schulhefte von meinem Drehstuhl und legte sie einfach auf den Boden. Jetzt setzte sie sich.

„Ich wollte mal nach dir sehen. Sicherheitshalber.“

Was sollte das denn heißen?

„Danke. Das ist nett.“

Wow. Vielleicht sollte ich aufhören, mich zu fragen, was das Zeug zu bedeuten hatte, das sie sagte und mich statt dessen um meine eigenen Sätze kümmern.

„War ein mieser Tag.“, das konnte man so stehen lassen. Ein reiner beschreibender Satz ohne weitere Tiefe.

„Die Kessler?“

„Ja.“, noch besser. Die Kürze macht alles so dramatisch und unmissverständlich.

„Hast du ihr das Gedicht vorgelesen.“

„Ja.“

„Und?“

„Thema verfehlt.“, erklärte ich. Sie runzelte die Stirn. Offenbar konnte man nicht sein Leben lang so kurz und eindeutig sprechen.

„Ich hab ihr gesagt, dass ich den Sinn der Aufgaben verstanden hätte, mich in die Figuren reinversetzt und so …“

Sie grinste.

„Und dass ich dann das Gedicht geschrieben habe. Das musste ich dann vor der ganzen Klasse vorlesen.“

Grinsen mit Zähnen.

„Sagen wir mal so: du hast dich geirrt. Ich bin nicht gut mit Worten.“

„Darf ich sehen?“

„Was?“

„Das Gedicht.“

„Ich hab’s weggeworfen.“

„Hast du nicht!“

„Hätt ich aber besser.“

Ich hatte noch nichtmal die Idee gehabt, es wegzuwerfen, dabei wäre das wirklich die beste Idee gewesen.

„Jackentasche?“, fragte sie. Und ich antwortete nicht, weil ich nicht antworten wollte. Sie ging zur Jacke, die an der Tür hing und wühlte in den Taschen herum. Sie fand meinen Schlüssel (mit dem Schwarze8-Billardkugel-Schlüsselanhänger), fand meinen blauen Geldbeutel (der mit dem Klettverschluss), dann das Gedicht.

Sie setzte sich wieder und begann zu lesen.

Ich sah weg.

Es gab nichts Schlimmeres, als in einem Gesicht die Reaktionen abzulesen.

Da hätte ich mich genausogut von einer ganzen Klasse auslachen lassen.

Ich musste irgendwas sagen. Aber meine Kehle war trocken.

Wortlos stand ich auf, ging runter in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Ich goss in zwei Gläser Mineralwasser ein und nahm eine ganze Tafel Schokolade mit nach oben. Die Tafel warf ich ihr in den Schoß, das Wasser stellte ich ihr auf den Schreibtisch. Ich trank mein Glas aus, stellte es vors Bett auf den Boden und dann lag ich wieder über der sich unter mir drehenden Welt. Eine Welt voller Scheiße.

„Wie haben die andern reagiert?“, wollte sie wissen.

„Welche andern?“

„Die Klasse.“

„Ist mir egal.“

„Die haben nix gesagt?“

„Ich bin weggegangen.“

„Wann?“

„In der Pause.“

„Warum?“

„Komm schon. Entweder ist es doch ganz klar oder du verstehst sowas nicht.“

„Versuch mich!“, sagte sie.

Ich begann ihr die Aufgaben zu erklären. Die Geschichte von Cortez und Moctezuma. Eine Geschichte, die gar nicht so aufregend und spannend klang, wenn man sie einem anderen zu erzählen hatte. Ich wusste auf einmal selbst nicht so genau, was da in mich gefahren war. Und es klang deshalb auch total lächerlich, als ich ihr sagte, dass ich über den Hausaufgaben eingeschlafen sei und von Cortez geträumt hatte. Natürlich sagte ich mit keiner Silbe, dass es nicht Cortez sondern sie war. Ich sagte fast gar nichts vom Traum, nur dass ich die Geschichte eben träumte. Ganz wenig Worte. Fast gar nichts.

„Es war einfach da.“, sagte ich. „Mitten in der Nacht. Einfach da. Jedes einzelne Wort war irgendwie in meinem Kopf ganz vorne drin. So als hätten sich die Gedanken durch mich hindurch nach vorne gewühlt. Und ich musste das alles einfach aufschreiben und das war … es war irgendwie komisch. Wie so eine Hypnose oder so. Oder wie von Aliens gesteuert. Keine Ahnung. Irgendwie so halt.“

Sie tat so, als würde sie verstehen, was ich da von mir gab und nickte andächtig.

„Ich hab das irgendwie aus mir rausgebracht, verstehst du. Und du hast mir vorher ja gesagt, dass das alles irgendwie gut wäre. Und dass das was hat. Ich weiß auch nicht. Ich hab das total müde aufs Papier gerotzt. Und da wunder ich mich, wenn ich ’nen Anschiss bekomme.“

Da musste ich jetzt sogar selbst drüber lachen, über so viel Blödheit.

Sie warf mir die Tafel zu und sagte: „Iss erstmal. Da stecken Glücksgefühle drin.“

Ich aß die Schokolade.

„In deinem Text steht nicht ein einziges Mal Moctezuma oder Cortez oder so.“, sagte sie. „Ist mir direkt aufgefallen. Kein einziges Mal was von Spaniern oder Atzteken.“

„Ja, das fehlt.“, sagte ich.

„Da steht nur, dass alle von einem Menschen glauben, dass er göttlich ist. Sie reden ganz toll von ihm und bewundern ihn und versuchen dich davon zu überzeugen, dass du das gleiche denkst und fühlst. Aber du willst das nicht glauben, sondern ihn erstmal ansehen. Und als du dann vor ihm stehst, siehst du, dass die anderen sich geirrt hatten und dass es richtig war, dass du gezweifelt hast. Du bist stolz darauf, Recht gehabt zu haben. Aber dann siehst du die dunklen Augen …“

Deine dunklen Augen, Marisol.

„… und du spürst, dass du dich auch geirrt hast. Dieser Mensch ist kein Gott, aber er ist …“, sie brach ab.

„Glaubst du, dass die Atzteken wirklich so gefühlt haben?“

„Keine Ahnung.“, sagte ich. Ehrlich gesagt wusste ich überhaupt nichts. Ich fühlte nur. Sie kam zu mir und setzte sich zu mir aufs Bett. Sie hatte eben gar keine Ahnung von mir. Sie wusste nicht, dass ich mich grad ganz klein fühlte und down und dass es das letzte war, das mir helfen konnte, wenn sie, ausgerechnet sie, sich jetzt zu mir aufs Bett setzte. Sie, mit ihren Augen und ihrem Mund und ihrem schräg gelegten Kopf und ihren Haaren, ihren Sommersprossen und ihrer sanften Stimme:

„Das ist ein Song.“, sagte sie. „Ich find den geil.“

„…“

„Da steckt was drin, was einfach geil ist.“

„…“

„Das ist ein Liebeslied, das du da geschrieben hast. Und zwar das beste, das ich seit langem gehört hab. Und ganz ehrlich, ich kenn’ keinen, der sowas aufs Papier bringen kann. Um vier Uhr nachts. Überhaupt. In unserm Alter. Du hast Talent.“

„…“

„Aber eins, das so eine talentfreie Kuh wie die Kessler nicht erkennen kann. Weißt du, woher ich weiß, dass es gut ist? Mir ist es kalt den Rücken runter gelaufen. Und ich hab keine Ahnung von Cortez gehabt oder von Moctezuma. Ich hab null Ahnung von dem, um was es da geht. Aber ich hab verstanden, was die da gefühlt haben. Verstehst du? Du hast mir das mit deinen Worten beigebracht. Und ich kann was damit anfangen, weil jeder vielleicht so mal gefühlt hat oder so fühlen könnte. Das ist … Es ist einfach … Es ist einfach alles klar, was du schreibst. Verstehst du?“

„Nein.“

„Egal. Es ist ein verdammt geiler Song.“

„Ok.“, krächzte ich. Wenn ich Wasser trinken würde, würde das Kratzen meiner Stimme aufhören. Aber dafür hätte ich an ihr vorbei greifen müssen. Hinter ihrem Rücken vorbei zum Wasserglas auf dem Fußboden neben ihren Füßen. Ich blieb starr wie ein Brett liegen. Ich starrte weiter irgendwohin. Ich ignorierte, dass sie gerade die ganze Welt gestoppt hatte. Notbremse gezogen. Alles hält still. Marisol auf meinem Bett und sie sagt, dass ich ein Talent habe, das ihr gefällt. Draußen sind jetzt wahrscheinlich alle Menschen hingefallen, weil sie nicht damit gerechnet haben, dass Marisol die Welt einfach so anhalten kann. Aber sie kann es. Das ist ihr Talent.

Ich drehe langsam den Kopf zu ihr rüber, was verdammt schwer geht, wenn die Welt sich nicht mehr dreht. Jede Bewegung ist dann ganz schwer. Man kämpft dann gegen die komplette Schwerkraft an. Die Fliehkraft ist ja weg, die einem vorher geholfen hätte, sich vom Boden zu lösen.

„Schenkst du es mir?“, fragte sie und ich fragte mich, ob auch die Vögel vom Himmel runter fallen, wenn die Erde aufhört, sich zu drehen. Wahrscheinlich war das so. Ich wusste nicht warum, aber wahrscheinlich klatschten alle Vögel einfach so vom Himmel runter. Platsch, platsch, platsch. Alle liegen sie da auf dem Boden und können sich nicht mehr bewegen. Alle total irritiert.

„Was?“, krächzte ich.

„Der Song.“

„Der Song?“

„Dein Liebeslied.“

Ich machte so eine Bewegung, die ein Nicken hätten sein sollen, aber halt auf dem Rücken liegend und fest in die Kissen gepresst.

„Du kriegst es wieder.“, meinte sie. Ihr Lächeln hatte etwas zu verbergen. Ich wollte ihrem Blick ausweichen, aber das ging nicht. Ich sah ihr in die Augen und da musste ich an etwas denken, was Onkel Renard damals plötzlich auf dem Balkon gesagt hatte:

„Pass auf!“, hatte er gemeint. „Frauen haben so ihre Fallen. Das ist wie bei einem Spinnennetz. Plötzlich bist du drin, hängst fest und kommst nicht mehr los.“

Ich begriff, was er meinte.

**

 

Die Shortstory wirkt gleichzeitig vollständig und unvollständig. Sie ist der Teil eines größeren Romanprojekts, das ich vor zwei Jahren begonnen hatte und das Mitten in der Überarbeitung steckt. Anfang des Jahres habe ich schonmal eine Passage daraus veröffentlicht. (Nachzulesen hier: „Wenn Männer über Sex reden“). Vielleicht kommt irgendwann mal wieder ein wenig mehr von der Story ans Tageslicht. Aber noch ist es eine Story, von der ich mir nicht absolut nicht sicher bin, was ich davon halten soll. Jedesmal, wenn ich mich an sie dran setze, hat sie eine andere Wirkung auf mich. Mal sehen, was passiert. Mal sehen, ob sie eines Tages laufen lernt.

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