Die Klassenfahrt (2/2)

In Deutschland muss eine Autobahnbrücke mindestens 4,50m hoch über der Straße gebaut sein. Wenn heute eine gebaut wird, geht man sogar grundsätzlich von einer Mindesthöhe von 4,70 m aus. Ein Reisebus hat eine Höhe von höchstens 4 m.

Das macht eine Differenz von geschätzten 50 bis 70 cm. Das heißt, man könnte zwischen die Decke eines Busses und die Unterkante einer Brücke folgende Gegenstände quetschen:

Einen Couchtisch.

Einen durchschnittlichen Spiegelschrank, wie er in einem durchschnittlichen Badezimmer hängt.

Einen Wäschekorb.

Eine aufrecht gestellte Mikrowelle.

Einen Klavierhocker.

Knapp einen ganzen menschlichen Arm eines Halbausgewachsenen.

Als Mareike schlief und Björn in seiner Musik verschwand, redeten Jessy und ich noch die ganze Nacht durch. Es war wundervoll. Genauso, wie ich es mir immer vorgestellt hatte und noch viel besser. Am Ende hatten wir die ganze Nacht hinter uns gebracht und wir wurden erst still, als wir in den Sonnenaufgang hinein fuhren und mir bewusst wurde, dass von meiner verdrehten Sitzhaltung der ganze Rücken schmerzte.

Es waren die 90er. Das war eine andere Zeit als heute. Damals lief jedes Gespräch irgendwann auf Musik zu. Und jeder an unserer Schule war irgendwie durch Musik definiert und davon geprägt. Wir lebten alle unsere jeweilige Richtung aus. Björn zum Beispiel war Metaller. Er trug nur schwarze Jeans und schwarze Pullover und T-Shirts und Longsleeves mit Bandaufdruck. Das waren meistens schrille Monster und zackige, kaum lesbare Buchstaben mit Blitzen und Feuer. Er hatte lange Haare, die er immer zu einem gepflegten Zopf gebunden hatte. Jessy hörte Trance und Dance und melodische Sachen wie Dune. Vor einem halben Jahr hatte sie sich tatsächlich die Haare rosa gefärbt und ihr Mäppchen war aus flauschigem Plüsch und sah aus, wie ein geschimmelter Glitzerhamster.

Levis war Punker mit Irokesenfrisur und riesengroßen grünen Löchern in den Ohren. Er trug zerfranste Hosen im Karomuster und kaufte grundsätzlich nur Sachen im Secondhandladen ein. Und Roger? Der stand auf die Sachen von den Toten Hosen und auf die Cranberrys. Aber zur Zeit hörte er rauf und runter diesen einen Song von White Town: Your Woman.

Das hatte in den Wochen vor der Klassenfahrt begonnen und er spielte die Nummer so oft, dass wir während der Klassenfahrt kurz davor standen, den Song grad eben nicht mehr zu mögen.

Die 90er waren auch die Zeit der Walkman, tragbare Kassettenrecorder. Und Kassetten, das war sowieso das Beste. Denn es gab keinen, der sich nicht selbst Kassetten aufgenommen hatte für die Fahrt. Wir hatten alle unseren eigenen Mix-Tapes erstellt, eine Auswahl der besten Lieder und eine Kassette, Jessy, die auf der einfach nur in meiner krakeligen Teenagereddingschrift „Best Songs“ stand, das war mein Jessy Tape. Da war meine Musik drauf, die ich auflegte, um an dich zu denken. Und als wir in den Sonnenaufgang hinein fuhren und du mich antipptest und sagtest: „Hast du ein gutes Tape dabei?“, rate mal, woran ich da denken musste!

Ich sagte: „Klar“ und war froh, dass dieses Wort so kurz war, dass du mein Zittern nicht hören konntest. Ich legte die Jessy Kassette rein und wir teilten uns mit den Kopfhörern die Welt. Du leicht vorgebeugt, ich mit dem Rücken an die Fensterseite gelehnt und mit angezogenen Knien. Unfassbar unbequem, könnte man meinen. War es aber nicht. Ich fragte, ob es so geht und dankte meiner Mutter dafür, dass sie mir vor der Fahrt diese Hörer mit extra langem Kabel gekauft hatte.

„Klar.“, sagte sie und grinste mich schräg an. „Was hörst du denn da so?“, fragte sie. Wenn man die 90er kennt, dann weiß man, dass diese Frage was ganz besonderes bedeutet. Sie bedeutete: Was bist du für ein Mensch? Es war die intimste Frage, die man stellen konnte. Vor allem dem anderen Geschlecht. Wenn du dir deine Musik in die Ohren steckst und sie mit einem anderen Menschen teilst, dann versinkst du in dem Sound und in den Liedtexten und ihr beide hört zum selben Zeitpunkt das ein und selbe. Es ist nicht so wie in der Normalität, wo jeder so seine eigene Perspektive hat und seine eigene Interpretation von der Realität. Beide hören das gleiche, beide teilen die gleichen Gefühle. Und dass Jessy jetzt da saß und mit mir gemeinsam das hören würde, was ich extra für sie aufgenommen hatte, das war schon etwas Besonderes.

Und das erklärt auch, warum ich mich auf einen Schlag so richtig entblößt fühlte und schämte. Weil ich mir unsicher war, wie du reagieren würdest. Es war nämlich kein Rock oder Punk oder modernes Zeug. Es waren ein paar wirklich ungewöhnliche Sachen dabei und ich hatte das Bedürfnis, mich zu erklären. Mir fehlten nur total die Wörter dafür.

„Mach einfach an!“, sagte sie, als ihr meine Pause zu lange dauerte.

Ich machte an.

Die erste Nummer war ausgerechnet Westernhagen. Von Thomas Gottschalk, dem Entertainer der Nation, angekündigt als „Das muss ich meiner Mutter sagen, der Marius Müller heißt nur noch Westernhagen“, war eigentlich klar definiert, dass dieser Musiker keiner sein konnte, den einer in unserem Alter hören durfte. Aber ich empfand die Sachen nie als Hausfrauenbügelrock. Für mich war das eine sehr subtile Anarchie. Es lief „Tanz mit dem Teufel“ und kaum fing der kleine Röhrenrocker an zu singen, zog Jessy die Augenbrauen hoch und unter ihrem Grinsen färbten meine Wangen sich rosa.

„Es ist schwer nicht durchzudrehen“, wehklagte Westernhagen und sie fragte: „Sowas hörst du?“

„Ist besser, als man denkt.“, antwortete ich und zog mir die Kapuze des Pullis über den Kopf.

Das musste man Jessy lassen. Sie blieb dabei. Sie hörte mit weiter, ob es jetzt ihre Musik war oder nicht. Sie ließ sich auch nichts weiter anmerken, als dann Lou Reeds „Perfect Day“ folgte und natürlich The Cure.

Aber jetzt ehrlich: die Musik trifft heute noch die Atmosphäre für mich, wenn ich an den Sonnenaufgang denke. Sonnenaufgänge sollte es nie ohne Songs geben wie „Pictures of You“ von The Cure.

Das furchtbarste an diesem Tape war die Tatsache, dass in der Welt außerhalb unserer Musik alle anderen allmählich wach wurden. Zuerst gab es ein klein wenig Unruhe und Arme wurden hoch gestreckt. Man hörte wie aus dem gleichmäßigen Atmen das Seufzen und Stöhnen von erwachenden Teenagern wurde. Und dann begannen die ersten zu flüstern, das Flüstern wuchs zum Murmeln. Gemeinsam mit dem sich orange färbenden Tageslicht wuchsen die Stimmen und ich spürte dieses wohlig taube Gefühl in den Knochen, das man immer hat, wenn man die Nacht durchgemacht hat.

„Beine vertreten.“, nannte Roger es. Er wanderte durch den Mittelgang langsam nach vorne. Björn nannte es „Präsenz zeigen“. Roger setzte sich mal hierhin mal dahin und schließlich kam er nach vorne um Doc Dockers zu fragen, wann wir mal anhalten könnten.

„Ganz viele müssen mal. Morgenurin. Sie wissen schon.“

Und dann kam er zu uns und setzte sich hinter Jessy. Er quetschte seinen Kopf zwischen den Sitzen zu ihr vor und fragte: „Na, was hört ihr Schönes?“

„Zeug.“, sagte ich.

Jessy stöpselte sich aus und gab mir die Hörer zurück. Sie lächelte mich an. Und ihr Blick verriet mir, dass sie wirklich das gleiche wie ich bei dieser Musik empfunden hatte.

Sie sagte dann auch: „Sonnenaufgangmusik.“, und da war wieder das Gefühl von einmal komplett ausgehöhlt zu werden.

„Irre, wie gut man in so einem Bus schlafen kann, was?“

„Wir haben durchgemacht, Roger.“, erklärte ich. Und das konnte er nicht fassen. „Dann werdet ihr heut Mittag richtig gerädert sein. Irre. Was ein Mut!“

Wir waren wirklich wie gerädert, nicht wahr, Jessy? Aber aus anderen Gründen.

Weil Dinge geschehen können, die dich über den Rand pushen. Wie du von Polizeiwache zu Krankenhaus zu Psychiater, von Experte zu Experte geschleppt werden kannst, ohne das Gefühl zu haben, jemals wieder aufwachen oder einschlafen zu können. Du bist irgendwo in einem Dazwischen, hab ich Recht, Jessy? Nicht Fleisch, nicht Fisch. Nicht Mensch, nicht Tier. Nicht Körper, nicht Seele. Nicht gesund und nicht krank. Du bist kaputt. Durch und durch kaputt, wenn dir die Schreie nicht mehr aus dem Kopf rausgehen. Die Schreie von anderen. Und du selbst weiß nicht, ob du auch geschrien hast. Und ob du jemals wieder schreien kannst.

„Heute wird ein geiler Tag, hab ich Recht Leute?“, rief Roger auf einmal. Und damit machte er auch den letzten aus unserem Jahrgang wach. Er rief: „Geiler Tag! Geiler Tag! Geile Fahrt! Geile Fahrt!“

Und Björn sagte: „Oh Gott, Roger, halt die Fresse. Halt einfach die Fresse.“

Aber Björn sagte es ganz leise, nur so, dass ich es hören konnte. Und nicht so laut, dass Roger sich darüber aufgeregt hätte und die Stimmung ruiniert gewesen wäre. Nein, die Stimmung war gut. Wie auf einer Rutsche war die Stimmung.

Man stößt sich ab, so wie Roger von den beiden Sitzen hinter Jessy und Missy Mareike. Und dann sitzt du mit hochgereckten Armen da wie Roger im Mittelgang des Busses. Und du spürst, wie der Wind lauter wird, wie die Rutschtour schneller geht. Wie alles an Fahrt gewinnt. Die Stimmung geht hoch.

Roger hatte dieses Talent, keine Frage. Die Sache in „Schwung zu bringen“, so nannte er das. Keiner, der nicht grinste. Die Laune muss oben sein, in Rogers Welt. Wenn da nur einer mies geschlafen hatte, weil wir in einem gottverdammten 08/15-durchschnittlichen Reisebus quer durch Europa fuhren und eine gottverdammte Nachtfahrt gebucht hatten, weil wir mit Leuten unterwegs waren, die sich gegenseitig nicht unbedingt leiden konnten, weil es im Laufe des Tages immer heißer und drückender und unangenehmer wurde, der Himmel immer blauer und strahlender, … wenn nur einer mies gelaunt gewesen wäre, dann hätte das Roger nur noch mehr angestachelt, sein bestes zu geben, die Sache in „Schwung zu bringen“.

Wenn er beworfen worden wäre, mit einem Päckchen Tempo zum Beispiel, um ihn zur Ruhe zu bringen, aber ernsthaft, nicht mit diesem Grinsen, wie es Levis an den Tag legte. Dann wäre Roger vielleicht noch am Leben.

Und wir wären noch ganz.

Und the Cure wäre noch immer unser Song für Sonnenaufgänge.

Und wer weiß, Jessy, vielleicht …

 

Auf der ersten Raststätte kaufte Roger am Tankstellenshop Mixgetränke. Halb Cola, halb Bier, halb synthetischer Aufputschgeschmack.

Ausgelassen heizte er die Truppe auf einem Spielplatz an und es gab einen Wettschaukelwettbewerb, den Missy Mareike gewann, obwohl sie einen Minirock trug. Die Stimmung geriet in Fahrt.

Wir überzeugten den Busfahrer, unsere Musik laufen zu lassen. Dernbrecher und Berger gaben ihm natürlich ihre Tapes. Das war die Musik der Coolen. Und dann wurde mitgesungen und gegrölt „Lauter! Lauter!“.

Der Busfahrer war ein alter Kerl, der irgendwie das Bedürfnis hatte, wieder jung zu sein. So ein Midlifecrisis-Typ, der mit den ersten Sonnenstrahlen sich schon das Hemd aufknöpfte und Brusthaar und Goldkettchen sehen ließ.

Und dann noch Doc Dockers. Die beiden waren die einzigen, die jetzt noch etwas hätten verhindern können. Statt dessen erzählte Dock Dockers Roger und Dernbrecher die Geschichten von seiner Jugend und seinen „Studien“fahrten.

„Wir haben unsere Lehrerin abgefüllt und sie ins Bett gebracht und dann unseren Spaß in der Stadt gehabt. Aber vergesst es, Jungs. Mich kriegt ihr nicht ausgetrickst. Ich werde immer ganz genau wissen, was ihr so tut.“, und damit tippte er sich von der Seite an die Nasenspitze, als ob das irgendetwas bedeuten würde.

Es war gegen 11:00 Uhr, da brachte uns Doc Dockers ein paar Lieder aus „seiner Zeit“ bei. Unnötig zu erwähnen, dass es völlig unanständiges Zeug war.

Als Dernbrecher und Berger und Roger die Texte drauf hatten, wurden die Lieder rauf und runter gesungen. Naja, gesungen. Sagen wir, sie wurden modernisiert.

Dann kam die nächste Rauchpause und als wir losfuhren, hätten wir fast Doc Dockers auf dem Rastplatz zurückgelassen.

Der Busfahrer sagte: „Typisch Lehrer.“

Und wir johlten als der Doc wieder auf seinem Platz saß und es weiter ging.

„Das nächste Mal fahren wir ohne sie weiter.“, johlte Dernbrecher.

Und da sagte Doc Dockers: „Kühl dich ab, Junge!“ oder sagte er sogar wirklich: „Kühl deinen Kopf ab, Junge!“?

Weiß es noch einer von euch?

Jessy, weißt du es noch?

Björn?

Was war es, dass Dernbrecher auf diese dämliche Idee kam?

Doc Dockers jedenfalls konnte bei größtem Stress und wildestem Lärm einschlafen. Er packte sich Ohropax in die Ohren und saß da mit überkreuzten Armen über dem Schmerbauch wie ein sarkastischer Buddha mit selbstgefälligem Grinsen.

Niemand hatte bis jetzt etwas dazu gesagt, dass Roger und Dernbrecher und Berger und Levis durch den Mittelgang getigert waren. Niemand hatte etwas gesagt, dass Berger eine halbe Stunde im Mittelgang stand und mit den beiden Gothic-Bräuten flirtete.

Niemand sagte etwas, als Berger auf die beiden Armlehnen links und rechts vom Mittelgang kletterte und die Dachluke öffnete.

„Endlich frische Luft.“, rief Levis. „Man glaubt ja, das hier ist der Schwitzenpritschenbus vom Saunaverein.“

Alles lachte.

Roger lachte.

Er bog sich vor lachen.

Und konnte den Furz nicht zurückhalten.

Alle lachten noch lauter und Dernbrecher zog Roger zu sich und rief, er müsse die Mädchen vor seinen Giftgasangriffen verteidigen.

Es war ein furchtbarer Anblick, wie aus ihm binnen Sekunden eine willenlose Puppe wurde, weil er nicht wusste, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Roger ließ sich von Dernbrecher hin und her bewegen und er ließ sich vom Gelächter und der Stimmung durch die Gegend schleudern.

Er versuchte noch eine Entschuldigung zu stammeln.

Aber das hörte keiner mehr.

„Luft!“, brüllte Berger. „Ich brauche Luft! Wir ersticken. Roger hat der Bussauna einen Aufguss verschafft.“

„An die Luft!“, rief auch Levis und er tat es Berger nach, kletterte auf die Armlehnen und streckte den Kopf aus der Dachluke. Er johlte. Schrie gegen den Fahrtwind.

Berger stieß ihn von den Armlehnen und stieg nun auch nach oben.

„Mach Platz!“ Kopf raus.

Beide mit hochrotem Gesicht.

Beide mit Glut in den Augen.

Zwei Mädchen sprangen auf, wollten auch.

Nasen in den Fahrtwind strecken.

Der Bus rauschte unter einer Brücke durch. Dann steckten die beiden Mädchen nacheinander ihre Köpfe durch und eine rutschte ab und fing sich und landete sanft in Bergers Armen.

Berger.

Ich hab ihn wieder gesehen, Jessy.

Ich sagte ja, ich bin jetzt Lehrer.

An unserer alten Schule. Sie haben unseren Klassensaal kaum verändert. Immer noch die selben alten Bänke und die Tafel mit der Delle im linken Flügel. Immer noch der selbe Geruch. Immer noch dieser Boden, diese Wände.

Sogar die Schulbücher sind noch fast die selben.

Und wir sind jetzt in der Zeit, da wir selbst Kinder haben, nicht wahr? Und die gehen auch in die Schule.

Ich unterrichte Bergers und Dernbrechers Kinder. Beide haben sie Jungs.

Aus Dernbrecher ist das geworden, was unsere Generation ein abgefucktes Arschloch nennt. Einer, der die Wochenenden in Muskelbuden verbringt, weil er nicht wahrhaben will, dass er älter wird. Der sich um seinen Körper kümmert, weil er in seinem massiven Körper längst keinen Plan mehr hat, wo sich da das letzte bisschen Seele versteckt hält.

Berger ist Versicherungsvertreter der übelsten Sorte. Einer, der Schleim hinter sich her zieht und immer beflissen lächelt. Selbst, wenn man ihn darauf anspricht, dass Levis inzwischen Selbstmord begangen hat und er in seinem Brief geschrieben hat:

„Es gibt Wunden, die kann auch ein Psychiater nicht reparieren.“

„Wollte er nicht selbst mal Psychiater werden?“, fragte Berger statt Betroffenheit zurück. Scheiß Beflissenheit. „Wäre er mal besser geworden. Hätte sich vielleicht selbst therapieren können.“

Aus Missy Mareike ist Anwältin geworden, hab ich gehört. Aber das weiß ich nicht so genau. Sie ist keine von denen, die noch in der Nähe wohnt. So wie du, Jessy.

Ich hab kaum noch Kontakt zu Björn oder zu sonst wem.

„Kühl den Kopf ab!“, ich bin mir sicher, dass Doc Dockers das so gesagt hat.

Doc Dockers ist natürlich nicht mehr.

Aber ich war unten in der Chemie und was denkst du, was ich da gefunden habe? Dockers altes Chemiebuch. Dieses braune Ding, von dem er immer behauptet hat, es wäre das beste Chemiebuch, das je auf den Markt gekommen wäre, und er unterrichte lieber mit einem alten, zerfallenden Folianten als mit diesem neumodischen Zeugs, Marke: „Hauptsache es sind bunte Bilder drin“!

Doc Dockers hat sogar anstatt seinen richtigen Namen „Doc Dockers“ vorne in die Klappe geschrieben.

Aber da stand noch was.

„Inhaltsverzeichnis“, aber darunter war kein Druck mehr zu lesen. Er hatte ein kariertes Papier eingeklebt und da standen Namen drauf. Keine Ahnung, vielleicht zwanzig oder so. Und ganz unten, der letzte Name: „Roger“.

Und während überall hinter jedem Namen ein Ort hier aus der Nähe stand, stand hinter Rogers Name nur „Autobahn“.

Dernbrecher erzählte mir auf einem Elternabend einmal – und ich glaube, das lag daran, weil er besoffen war, aber beschwören kann ich es nicht – dass Roger es immer gehasst hatte, wenn man ihn festgehalten hat. Da sei er immer fast durchgedreht, hat sich gewunden wie ein Aal.

„Keine Ahnung. Ich hab ihn nie festgehalten.“, sagte ich. Und ich erinnerte mich daran, dass Roger sich immer an alle Leute geklammert hatte. Immer an den Arm dran. Irre, nicht wahr, Jessy?

„Doch doch, glaub mir. Hat sich immer gewunden. Und hat nie ne Chance gehabt, der Kerl. War zu schwach. Ich war damals schon immer in der Bude, weißt du?“

Ich wollte mit Dernbrecher nicht mehr reden. Nie wieder, das versteht man doch, oder?

„Wie kann man so furzen, echt jetzt?“, lachte Dernbrecher Roger damals ins Gesicht. Hochrot der Schädel. Und er schnappte ihn, hielt ihn. Zog ihn zu sich hoch. Kletterte mit ihm auf die Armlehnen.

Ich weiß, dass Roger nicht geschrien hat.

Er hat überhaupt keinen Mucks von sich gegeben.

Ich hab ihn aber auch nicht gesehen. Dernbrechers Rücken war zwischen mir und ihm. Und dieser Rücken ist ein Schrank, so wie seine Arm ein Schraubstock sein können.

„Kühlen Kopf bewahren. Beruhig dich. Ist nicht schlimm.“

Ich frage mich, ob „ist nicht schlimm“ irgendwo im Universum ein Satz ist, der immer wieder und wieder echot und nie aufhören wird ein Echo zu sein.

Roger wurde hochgehoben und sein Kopf verschwand aus der Dachluke des Busses.

„Hepp.“, machte Dernbrecher und rückte ein wenig höher, um nicht den Halt zu verlieren.

In Deutschland muss eine Autobahnbrücke mindestens 4,50m hoch über der Straße gebaut sein. Wenn heute eine gebaut wird, geht man sogar grundsätzlich von einer Mindesthöhe von 4,70 m aus. Ein Reisebus hat eine Höhe von höchstens 4 m.

Das macht eine Differenz von geschätzten 50 bis 70 cm.

Das reicht für einen Kopf bis zum Brustkorb.

Für mehr nicht.

 

Jessy.

Was denkst du?

Keine Ahnung, ob du das hier liest.

Aber ganz ehrlich:

Was denkst du?

Ich denke nichts mehr.

Schon lange nicht mehr.

Wie geht es dir?

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