Die Sache mit Cosima (1/2) WM-Repost

Sie sagen, dass du dir alles leicht und schnell ruinieren kannst.

Es gibt zwei Arten von Fehler, sagen sie.

Die Fehler, die du machst und die dir die Menschen aus dem Leben entziehen, die dir wichtig gewesen wären, weil sie dir Halt und Stärke geben. Nein, sorry: gegeben hätten, wenn du nicht deinen verdammten Fehler gemacht hättest.

Und dann die zweite Art von Fehler: den, den die anderen machen. Und der dich von ihnen wegkatapultiert. Die Art von Fehler, für die du nichts kannst. Die Fehler der Anderen, die du nicht hattest verlieren wollen.

Sie sagen, dass du dir alles leicht und schnell ruinieren kannst.

Sie posten immer wieder und wieder auf den Social Networks, dass du stark zu sein hast, dass loslassen Stärke bedeutet.

Sie schreiben, als ob es falsch wäre, den Schmerz zu empfinden und die Sehnsucht nach einer Zeit ohne Fehler.

Mein Lieblingsspruch war der: Die einen sind deine Segel, die treiben dich voran im Leben und bringen dich hinter die Horizonte. Und es gibt Menschen, die sind dein Anker. Zeit, die Segel zu setzen und die Anker zu lichten.

Bullshit.

Wir spielten früher immer in der Kieselgrube hinter Ohlmanns Wertstoffhöfe. Von der Grube aus hatte man einen guten Ausblick auf die am Rand der Deponie aufeinander gestapelten Autowracks.

Wir spielten Fußball. Kickten wie die Profis. Und am Ende des Tags gab es den „Meisterschuss“. Der schlechteste Spieler des Tages sollte die Chance bekommen, noch einmal seine Ehre zu retten. Er musste nur mit dem Ball eins der Autos drüben treffen. Wir hatten vor einem Jahr eine Spraydose gefunden gehabt und auf einem gelben, arg verbeulten Kadett B Treffkreise aufgemalt und mit Zahlen versehen. Zwanzig Punkte, wer das linke Vorderrad trifft. Zehn für die Fahrertür. Fünfzig, wenn der Ball auf das Dach oben aufschlug. Cosima hatte die mal am Ende eines richtig lausigen Tags geschafft. Sie war wirklich eine gute Fußballerin.

Wenn man am Ende eines Tages der schlechteste Spieler den Ball auf ein Auto am Rand eines Wertstoffhofs schießt, dann muss natürlich auch ein Spieler rüber gehen und den Ball wieder holen. Das musste der beste Spieler des Tages tun. Das war nur fair, oder? So eine Art natürlicher Ausgleich. Malik hatte diese Idee gehabt. Auf der Sommerveranda bei ganz viel selbstgemachter roter Limonade. Er meinte, die Welt wäre ein beschissener Ort zum Großwerden. Er meinte, alles sei so unfassbar friedlich und der Mensch ein Arschloch. Also würden wir, sobald wir erwachsen wären, erleben, dass die Welt in einen neuen Weltkrieg reinrutscht.

„Und wisst ihr, woran das liegt? Das liegt daran, dass die Reichen großkotzig sind und die Armen so dumm wie Brot. Hab ich euch schon mal von dem Monopoly-Experiment erzählt?“, fragte er. „Das geht so: Man hat zehn Leute Monopoly spielen lassen. Aber zuerst hat man per Zufallsgenerator ausgelost, dass es drei Spieler geben wird, die mit doppelt so viel Startgeld anfangen. Außerdem durften die drei zwei Würfel benutzen und die anderen nur einen Würfel. Es ist klar, was passiert, oder? Wenn man so spielt, dann werden die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer.“

„Was ein Experiment. Und für so was zahlen meine Eltern Steuern?“, fragte Cosima zynisch.

„Klappe!“, fuhr Malik sie an. „Es geht doch gar nicht ums Spiel. Es geht um das, was danach passiert. Man hat nämlich die Spieler gefragt: ‚Und? Woran lag es, dass du gewonnen hast?’ Die drei mit den besseren Startbedingungen haben geantwortet: ‚Weil ich so gut bin. Weil ich so geil bin. Weil ich immer in Monopoly gewinne.’ Außerdem sind sie auch während ihres Spiels viel arroganter aufgetreten. Sie haben geprahlt, haben mehr Chips und Brezeln gefressen und waren laut und einfach nur scheiße protzig.“

„Wie im echten Leben.“, sagte ich.

„Ja, das ist es eben. Und deshalb müsste man nicht nur am Anfang des Spiels einen Ausgleich schaffen, sondern auch am Ende. Versteht ihr?“

Das war die Geburtstunde der Ausgleichstheorie.

Wir waren fünfzehn, aber Malik hatte es echt drauf. Ich war mir sicher, dass wenn wir dreißig wären, es irgendwo auf der Welt eine Malik Statue geben würde und auf dem Sockel die Aufschrift: „Kämpfer für eine bessere Welt – die Ausgleichstheorie.“

Das war also der Grund, weshalb der schlechteste Spieler den Ball Richtung Wertstoffhof bolzen musste, um zu beweisen, dass er es doch drauf hatte. Und warum anschließend der beste Spieler des Tages rüberzugehen hatte, um den Ball wieder zu holen.

„Das soll die Besseren daran erinnern, dass es auch Vorteile hat, mal der Schlechteste gewesen zu sein!“

Es gibt diese Sommertage, in denen der Himmel den ganzen Tag über gleissend hell ist und nicht eine Wolke am Himmel steht. Die Farben auf den Wiesen sind dann total ausgeblichen, so als hat Gott mit einem klatschnassen Schwamm einmal über die ganze Welt drüber gewischt und die Farben verschmiert. In der Luft schwebte zum Abend hin unglaublich viel gelber Pollenstaub. Und als die Sonne am Horizont versank, färbte sich die ganze Welt in eine Mischfarbe aus Vanille und Kupfer.

Wir hatten Sommerferien und an diesem Tag wirklich von Morgens früh bis in den späten Abend hinein gekickt. Erst als Ohlmanns Zeitschaltuhr die merkwürdige Beleuchtung einschaltete, die eine abstruse, selbstgebastelte Mischung aus Weihnachtslichterkette und Sommerlampions war, bemerkten wir, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen. Die beiden Spieler wurden gekürt: der schlechteste und der beste.

Ich war der beste an diesem Tag gewesen und Malik der schlechteste. Er hatte den ganzen Tag ohne Shirt gespielt und war nass geschwitzt. Sein Kopf war hochrot und er sah aus, wie einer, der jeden Moment zusammenbrechen würde. Aber er grinste und er legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: „Ich ziel für dich heute extra tief auf das Vorderrad.“

Das tat er auch, da bin ich mir sicher. Aber er hatte wirklich einen miesen Tag. Denn der Ball flog über die Motorhaube hinweg und durch eine Lücke im Lattenzaun direkt auf Ohlmanns Hof.

„Scheiße.“, sagte Malik. „Tut mir Leid. Das war echt keine Absicht.“

„Jaja.“, brummte ich und machte mich auf den Weg.

Die Deponie ist bei Tag schon unheimlich. Aber es ist was Eigenes, wenn man bei Sonnenuntergang und einbrechender Dunkelheit über ein paar Autowracks klettert, damit man auf die andere Seite eines Zauns springen kann. Als ich beim Klettern einen Blick über die Schulter riskierte, war ich wie in einem Bild von Louis Royo gefangen. Die demolierten Autos, das vertrocknete Gras, das Licht der Abendsonne. Und dann ganz da hinten die Jungs, die auf mich warteten, was so aussah, als wären sie Outlaws in einem Camp außerhalb einer untergegangenen Stadt.

„Danke, dass du wartest.“, hörte ich auf einmal. Und dann sah ich, dass Cosima mir hinterher gekommen war. Ich streckte ihr die Hand entgegen, um ihr hochzuhelfen. Aber das hatte sie nicht nötig. Sie kam zu mir und als wir da oben auf der Motorhaube des alten Kadetts balancierten und der Wagenturm unter uns knirschte, ächzte und leise jaulte, roch ich sie. Cosima roch nach Staub, gelben Pollen und vanillefarbenen Sonnenuntergängen. Von jetzt ab bis heute.

Wir lächelten uns an und dann sprangen wir rüber auf Ohlmanns Grundstück.

Deponien sind immer scheußlich. Bei Ohlmann war das keine Ausnahme. Weil der Wind von der denkbar ungünstigsten Seite wehte, war überall dieser Geruch von verfaultem Grünzeug in der Luft. Draußen mochte es idyllisch sein, hier war die Atmosphäre einfach nur düster.

Die bunten Lampen am dicken Kabelgurt, die quer über uns durch die Luft baumelten, machten die Stimmung nicht gerade romantisch.

„Warst du schon mal hier drin?“, fragte Cosima mich.

„Nein. Bis jetzt noch nicht. Du?“

„Einmal. Flo hat mal richtig übel daneben geschossen. Der Ball ist bis da drüben hin geflogen. Bis zu den rostigen Gittern da drüben.“, sie zeigt ans andere Ende der Halde.

„Warum bist du mit gekommen?“, wollte ich wissen.

Sie log mich an. Sie sagte: „Malik hat gemeint, ich soll dir helfen.“ Und ich wusste sofort, dass das gelogen war. Aber ich sagte nichts. Malik würde niemals Cosima mir hinterher schicken. Als ich später Malik gefragt hatte, bestätigte er meinen Verdacht. Aber ich hakte nicht nach. Auch nicht ein paar Tage später.

Sie lenkte auch sofort vom Thema ab und redete über das Spiel. Sie gratulierte mir, dass ich heute gut drauf gewesen wäre, dass das eine Tor reines Glück gewesen wäre und solche Sachen. Wir redeten auch über die Spiele der letzten Tage und ehe wir uns versahen, hatten wir uns aus dem bunten Lichtkreis der Lampenketten rausbewegt.

„Warte“, sagte sie. An ihrem Schlüsselbund war eine kleine Taschenlampe. Damit war zwar nicht viel geholfen, aber immerhin genug, um nicht irgendwo dagegen zu laufen.

„Hast du eine Idee, wo der Ball sein könnte?“, fragte ich.

Sie zuckte nur mit den Schultern.

„Weißt du“, sagte sie auf einmal, „ich hab damals eine Menge Schiss gehabt, als ich allein hier drüber laufen musste.“

„Kann ich verstehen.“

„Ich hab Malik echt verflucht für seine blöde Ausgleichsidee.“

„Ausgleichstheorie“, korrigierte ich leise. Sie hörte es nicht.

„Ich hab mir mal die Zunge abgeschnitten.“, sagte sie auf einmal.

„Was?“

„Das Zungenbändchen, um genau zu sein.“

Sie leuchtete mit der Lampe weiter über den Müll um uns herum. Und jetzt erst konnte ich sehen, wie dunkel es eigentlich schon geworden war. Ich versuchte nämlich ihr Gesicht zu erkennen, um etwas darin zu lesen. Aber es war zu dunkel hier zwischen den Halden.

„Wieso -? Wieso sollte man so was tun?“, hakte ich nach. „Und … was ist das Zungenbändchen überhaupt?“

Sie kicherte und drehte sich zu mir um. Mit der Taschenlampe leuchtete sie sich selbst in den Mund. Ich sah, dass sie ihre Zunge hoch streckte und sie zeigte mit dem Zeigefinger auf deren Unterseite.

„Gesehen?“, fragte sie. „Das Bändchen das die Zunge unten mit dem weichen Mundboden verbindet. Das ist das Zungenbändchen. Das war bei mir von Geburt an viel zu kurz. Das da konnte ich zum Beispiel nicht machen.“, sie streckte mir die Zunge raus. Ich konnte erkennen, dass sie die Zunge so weit rausstreckte wie es nur ging, aber trotzdem hatte sie nur eine kleine Zunge. Damit würde sie nicht weit bis unter die Lippen kommen, dachte ich.

„Das ist nicht so schlimm. Könnte man operieren, haben die Ärzte gesagt. Aber warum sollte man? Ist ja nicht schlimm. Ist ja nichts, was einem im Leben so richtig behindert. Ist ja nicht so was als ob man einen Finger zu viel hätte oder einen unbeweglichen Ellbogen oder so was.“

„Ok. Und warum hast du dir dann da reingeschnitten? Ein Unfall?“

Sie schüttelte heftig und mit einem frechen Lachen den Kopf. „Neinnein, das war schon Absicht. Mit einer Nagelschere, weißt du.“

„Nicht dein Ernst!“, ich wich zurück. „Warum?“

Sie lachte mich aus. „Du siehst aus, als ob du nicht weißt, wie du dich grad fühlen sollst.“

„Ist auch so!“, stimmte ich ihr zu. „Das ist so … widerlich. Und doch …“

„Hardboiled!“, ergänzte sie.

Ich fragte nach, was das heißen sollte.

„So richtig hart.“, erklärte sie und machte dabei eine Bewegung wie ein Bodybuilder. Mit tiefer Stimme machte sie: „Mönnlüch!“

Dann lachte sie und ich lachte mit.

Cosima war nicht männlich. Ganz und gar nicht. Sie war zwei Köpfe kleiner als ich. Zierlich und der erste Eindruck, den man von ihr hatte war immer: zerbrechlich. Aber so klein und unscheinbar sie auch aussah, hatte sie es immer faustdick hinter den Ohren. Sie war tough und nicht auf den Mund gefallen. Aus ihren Augen blitzte die gerissene Verschlagenheit, die wenn man sie nicht erwartete, einen einfach nur umhaute.

„Muss trotzdem weh getan haben.“, vermutete ich.

„Klar doch. Aber das weiß man ja, bevor man die Schere ansetzt. Also hab ich jede Menge Eis genommen und mir damit den ganzen Mund betäubt.“

„Ach du scheiße.“, sagte ich.

„Ja. Das war ne ganz schöne Sauerei.“

„Aber warum?“, fragte ich noch mal.

Sie atmete tief durch und dann sagte sie leise: „Romeo und Julia. Der Film war grade rausgekommen. Mit Leonardo Di Caprio.“

„Ja.“, ich verdrehte die Augen. Auch wenn ich den Film für einen guten Streifen hielt, hatte ich ihn mir doch ein paar Mal zu oft ansehen müssen. Das miese Schicksal, wenn man als Junge in den 90ern mit einer größeren Schwester aufwächst.

„Die Ärzte haben ja gar keine Ahnung, was in einem Mädchen so vorgeht. Als ob ein verkürztes Zungenbändchen einen wirklich nicht behindert. Ich hab immer davon geträumt, wie das mal ist, einen Jungen zu küssen. Das ist ja normal. Alle Mädchen schauen sich Romeo und Julia an und finden das so unfassbar toll, wie die beiden da im Pool rumschwimmen. Alles so magisch blau beleuchtet. Und dann schwimmt er an sie heran und sie küssen sich und sie schwimmt weg, er hinterher. Das ist die Szene für uns unschuldige Mädchen, weißt du.“

„Als ob du unschuldig bist.“, lachte ich. „Du willst mir gerade erzählen, wie du dir ein Zungenbändchen abgeschnitten hast. Das ist nicht unschuldig.“

Sie boxte mich auf die Schulter.

„Halt die Klappe.“, sagte sie. Und dann mit noch mal veränderter Stimme zitierte sie: „She speaks. Oh, speak again, bright angel. You are as glorious as an angel tonight. You shine above me, like a winged messenger from heaven who makes mortal men fall on their backs to look up at the sky, watching the angel walking on the clouds and sailing on the air.“

Ich war beeindruckt.

Das war der Effekt, den dieser Film auf viele Mädchen in unserer Zeit hatte.

Genau wie Cosima hatte auch meine Schwester direkt nach dem Film sich das Buch dazu gekauft. Shakespeares R&J, nannte meine Schwester es. Die meisten hatten die gelbe Reclam Ausgabe. Meine Schwester hatte ein großformatigeres Buch gekauft, das im Regal etwas daher machte. Mit Rosen verzierter Einband, zwei umeinander verschlungene Hände und ein Herz, aus dem ein Blutstropfen hervorquoll.

„Wenn ein Mädchen vom Küssen träumt“, erklärte mir Cosima. „Dann darf sie kein verkürztes Zungenbändchen haben.“

„Und deine Eltern?“

„Die haben erst was davon gemerkt, als ich es nicht geschafft hatte, die Blutung zu stoppen.“, sie lachte. „Muss schrecklich ausgesehen haben. Wie in einem Horrorfilm. Erst ist es ganz lange still. Und dann kommt plötzlich die Tochter raus mit einem Mund voller Blut. Bringt kein Wort zu Stande. Einen Eimer mit Eis in der einen Hand und eine blutige Nagelschere in der anderen.“

Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her.

„Und?“, fragte ich schließlich.

„Was und?“

„Hat es was gebracht?“

„Überzeug dich selbst.“, sagte sie, sprang zu mir her und ehe ich etwas erwidern konnte, küsste sie mich. Mitten in der Finsternis einer Mülldeponie. Umgeben von Schrott. Ein Kuss, der wie ein Komet vom Himmel gefallen war und mich niederschmettern sollte. Der von langer Hand mit einer Nagelschere in der einen und einem Eimer Eiswasser in der Hand geplant worden war.

Der Duft von Staub, gelben Pollen und vanillefarbenen Sonnenuntergängen flutete meinen ganzen Körper.

Sie umhüllte mich, flutete mich.

Und wir hörten erst auf, als wir Malik von der anderen Seite rufen hörten.

„Wo bleibt ihr so lange?“, zischte er.

„Der Ball liegt vorne bei den aufgestapelten Motorblöcken.“, sagte sie.

„Ich weiß.“, antwortete ich.

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