Die Sache mit Cosima (2/2)

Wir hatten damals Ordner in der Schule statt Hefte. Vorsichtig zogen wir die Folie vom Umschlag ab, bis wir an die graue Kartonoberfläche kamen. Dort konnten wir uns mit Edding unsterblich machen. Wir schrieben die besten Liedtexte und Filmzitate drauf, malten Bandlogos nach und gestalteten unsere eigene Wall of Fame mit den Unterschriften unserer besten Freunde.

Bei mir stand: „We are all mortal – until the first kiss or the second glass of wine

Nach Cosimas Kuss dachte ich sofort an diesen Satz. Und ich dachte, dass er absolut falsch war. Denn ich fühlte mich nicht unsterblich. Ganz im Gegenteil. Umgeben von dem ganzen Müll und davon, dass irgendwo auf der anderen Seite der Mauer Malik nach uns rief, fühlte ich mich so verletzbar wie noch nie zuvor.

Meine Mutter sammelte diese Bilder von diesem bekannten Fotografen, der Blumen beim Verwelken mit langer Belichtungszeit fotografiert hatte. So fühlte ich mich! Wie ein in ein einziges Bild eingefangenes Vergehen. Ein Vernichtetwerden im Zeitraffer. Wenn sie in Filmen zeigen, wie sich die Kamera um das küssende Paar dreht, dann nicht, weil sich jetzt die ganze Welt um das Liebespaar drehte und nur noch die beiden von Bedeutung waren, sondern weil sich alles auf die beiden zubewegte, weil die Zeit einen gefangen hielt wie den Sand in einer Sanduhr. Der Kuss, das ist allenthalben dieser eine Augenblick, wo du dieses eine Sandkorn bist, das sich gerade durch die Engstelle durchquetscht.

Aber verdammt noch Mal, es war nicht gelogen, als ich Cosima sagte, dass es sich so was von gelohnt hatte. Es gab nur wenige Augenblicke in meinem Leben, die sich ähnlich intensiv anfühlten. Ungelogen, ich wage zu Behaupten: Es war der Moment des Absoluten. Und anders kann ich das nicht beschreiben. Ja, ich misstraue auch jedem, der es anders beschreibt, mehr Worte dafür verwendet und dann noch behauptet, es besser getroffen zu haben als ich.

Ich kannte Cosima schon seit zwei Jahren. Mir war nie aufgefallen, dass sie vom anderen Geschlecht war. Also so, dass man sich in sie hätte verlieben können. Sie war ein guter Freund. Ein Kumpel. Eine von der seltenen Sorte Mädchen, die gut Fußballspielen konnte, sich auch für Horrorfilme und für Bücher interessierte. Sie war eine, die gute Bücher zitieren konnte – nicht nur Shakespeare, wie ich später herausstellte – und sie war eine, die genau wie ich auf der Innenseite ihres Ordners die Bibel zitierte: Ezekiel 25,17. Nicht etwa, weil wir gläubig gewesen wären. Sondern wegen Tarantino.

Bis heute gibt es zwei Arten von 90er Kids. Die, die Ezekiel 25, 17 zitieren können und die anderen.

Das andere Zitat, das wir alle noch kennen und zuordnen können: „Und was heißt Liebe rückwärts buchstabiert? – Leck mich am Arsch!“ Aber das war ein anderer Kultfilm.

Wir waren schon eine merkwürdige Generation. Klar, das sagt bestimmt jede von sich. Aber im Ernst: wir teilten uns unsere Leben in zwei Phasen ein: die Schulzeit und das Leben. Im Leben hatten wir das Gefühl, dass wir uns verwirklichten. In der Schule gelang uns das nur mit Symbolen. Wir trieben wie Treibgut von einer Unterrichtsstunde in die nächste. Wurden von Fach zu Fach und von Raum zu Raum geschwemmt. Ein Glasgefäß, worin die Zeit anders tickte als außerhalb. Und das Tragische daran: Wir hatten alle das Gefühl, dass wir etwas Grundsätzliches im Leben wahrnehmen konnten. Etwas, das nur Jugendliche sehen und Erwachsene nicht.

Wir rutschten in eine Zeit hinein, in der die Zeit selbst träge geworden war und immer langsamer wurde. Wie hatte Malik gesagt:

„Alles ist so unfassbar friedlich und der Mensch ein Arschloch. Also werden wir, sobald wir erwachsen sind, erleben, dass die Welt in einen neuen Weltkrieg reinrutscht. Oder in ein neues Chaos versinkt.“

Und warum?

Nur damit die Zeit nicht wieder einschläft. Darum! Die Menschen brauchen das Chaos, damit die Zeit nicht vor lauter Friedlichkeit einschläft.

Und dann … Es war der größte Lichtfunke meiner Schulzeit: von so viel umgeben, was alles im Begriff war, vor unseren Augen zur vollständigen Untätigkeit zu erstarren, so als ob unsere Zukunft nur aus Stillstand zu bestehen hatte – so kam es uns vor. Und dann, Musikunterricht, 8. Stunde, hieß es auf einmal: Augen zu! Dann erklang Debussy. Hinter geschlossenen Augen wurde es hell!

Ich hatte nie Bezug zu klassischer Musik gehabt. Aber das hier war eine neue Welt.

Und sie kam auf einer Schallplatte daher. Es war die „Prélude à l’après-midi d’un faune“. Von nichts war ich bis dahin so bewegt gewesen als von diesen wabernden, auf- und abschwellenden Klängen, die sich durch diesen alten holzvertäfelten Raum rankten, in mich hinein schlängelten und sich in meinem Brustkorb verrankten.

Nach der Schule packte ich Cosima an der Hand und zog sie mit mir. Sie wollte natürlich wissen, was los ist. Aber ich verriet nichts. Wir fuhren auf meinem Fahrrad gemeinsam runter in die Stadt. Direkt neben dem alten Odeon-Theater gab es einen Musikladen, der bei allen an unserer Schule als Kultschuppen galt.

Es roch herrlich muffig. Es gab einen kleinen Extraraum nur für Schallplatten. Dort hielt ich mich eigentlich nur auf, weil ich die Atmosphäre genoss, die von Vergangenheit und Nostalgie geprägt war.

Hier war alles brav sortiert und gelabelt. Der Großteil des Verkaufs war Metal und Punk und alte Sachen wie Queen, Kiss, Tangerine Dream, Toto, Deep Purple, Jethro Tull, usf.

Es gab einen schmalen Rollschrank, dort fand ich Platten von der deutschen Grammophon. Und eine war tatsächlich Debussy.

Ich hielt es ihr entgegen wie eine Trophäe. Und ich sagte ihr: „Die müssen wir hören!“

Überall auf der Welt lagen Tag für Tag in irgendwelchen Betten Teenager beieinander und über die Hifi-Anlagen schummerte die Kuschelrock.

Das war die Sammlung perfekter Kuschelmusik. Und es gab tatsächlich keinen, der das gewagt hätte anzuzweifeln. Selbst die hartgesottenen Typen, die den ganzen Tag Techno oder Trash Metal gehört hätten wagten sich nicht an dieses Sakrileg. Sie konnten behaupten, dass ihnen die Musik nicht gefiel. Oder dass sie lieber zu keiner Musik kuschelten als zu diesem seichten Gedudel. Aber am Ende mussten sie doch wenigstens eingestehen, dass da jemand eine verdammt gute Arbeit beim Zusammenstellen der Songs gemacht hatte. Da waren Metal Balladen mit Simon and Garfunkel vereint, Cat Stevens, Rolling Stones, Sinéad O’Connor, Roxette, REO Speedwagon, Marillion, Scorpions und Phil Collins. Das waren Mixalben, die einen in egal welcher Stimmung man gerade war, einfach nur umhauten.

Meine erste Kuschelrockromanze hatte ich mit Cosima. Sie hatte hundert Kerzen in ihrem Zimmer verteilt, das Fenster mit einem großen, dunkelblauen Tuch abgehängt. Es roch nach Sandelholzduftstäbchen. Auf einem Tablett stand Tee, wir hatten Knabbereien und natürlich das blaue Glühen der Displayanlage, aus deren Boxen Nazareth Love Hurts kreischte. Während wir in die dick aufgebauschten Federdecken fielen und von ihnen verschlungen wurden, verlor ich mich in den Weiten ihrer Augen, die nur aus Pupillen zu bestehen schienen.

Es war ein Abgrund. Und dieser Abgrund wurde von dieser Musik umschlossen. Dan McCafferty weinte „Love is like a cloud, it holds a lot of rain“ und ich dachte nur: ‚Lass diesen Song nie zu Ende gehen!’

„Was ist das?“, fragte Cosima als ich bei ihr im Zimmer mich an der Hifianlage zu schaffen machte.

Mir wurde klar, dass es unmöglich sein würde, dass dieser Lichtblick, den ich heute in der 9. erlebt hatte, jetzt auch bei ihr in Erscheinung treten würde. Ich würde es auch nicht schaffen, einen ähnlichen Moment herbeizuzaubern wie es ihr mit Nazareth und den Wolkendecken gelungen war. Aber bis zu diesem Augenblick hatte ich auch überhaupt keinen Gedanken daran verschwendet, einen Moment oder eine Atmosphäre herbeizuzaubern.

Ich erstarrte inmitten meiner Bewegung. Und ich sah zu ihr hoch. Sah, wie sie sich neugierig auf ihr Bett setzte und zu mir rüberblickte. Die Beine übereinander geschlagen und die Arme nach hinten auf dem Bett abgesetzt.

Mir wurde klar, dass ich das Zaubern der Musik selbst überlassen musste. Es gab nichts, was ich hätte tun können. Außer auflegen. Und warten bis aus dem Knistern langsam das Klavier emporstieg.

Es war nämlich nicht das selbe Stück wie heute Morgen. Es war eine Tautropfensymphonie. Das war jedenfalls mein erster Gedanke.

Die Anlage war auf ganz laut gestellt. Im Unterschied zur Kuschelrockatmosphäre floss gleißendes, weißes Tageslicht in den Raum. Es gab keine Kerzen. Alles war fast klinisch sauber aufgeräumt. Und ich stand da, zwischen ihr und den zu Klängen gewordenen Träumen. Ich spürte die Welle, die mich gleichermaßen sanft als auch stürmisch von hinten erfasste, wie sich das ganze Zimmer flutete.

Cosima starrte mich an, starrte mir durch die Musik hindurch entgegen.

„Komm her.“, hörte ich mich flüstern.

Und dann tanzten wir und es war unheimlich, wie lupenrein und klar die Welt durch Musik werden kann.

„Das ist Debussy.“, sagte ich. „Ich glaub, ich werd jetzt nur noch dieses Zeug hören.“

„Das klingt toll.“, sagte sie und sie schmiegte ihren Kopf an meine Brust beim Tanzen.

„Ich hab noch nie Klassik gehört. Ein paar Sachen von meinem Vater. Aber das hat nie … gewirkt.“

„Ich weiß, was du meinst.“, sagte sie.

Und dann schwiegen wir wieder so lange, bis der letzte Klavierton verklungen war und die Plattennadel sanftmütig knisternd zum Tellerrand zurückkehrte.

„Das hier war er.“, meinte sie mit weicher, fast verschlafener Stimme.

„Was denn?“

„Na der Augenblick. Der, den ich nicht vergessen werde. Niemals. Ich hab immer gedacht, es würde der erste Kuss sein oder … das erste Mal …“, sie errötete, ich konnte es genau sehen. „Aber es war der hier. Genau der vor zehn Sekunden. Das ganze Zimmer ist weiß geworden und die ganze Welt. Und da waren nur wir beide und Debussy und dieses Klavier.“, sie zog sich an mir hoch und küsste mich.

We are all mortal – until the first kiss, or the second glass of wine, schoss es mir durch den Kopf.

Ich sah jetzt in ihren Augen, was das bedeutete. Sie verschlang mich mit ihren Blicken. Durchströmt von etwas, was die Steigerung von Glück hätte sein können.

„Wir Mädchen fragen uns immer, was dieser eine Augenblick sein wird, weißt du. Dieser eine Augenblick, der sich für immer in uns aufhalten wird. Dieser Augenblick Perfektion.“

„Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich vielleicht etwas besseres angezogen.“, scherzte ich unbeholfen. „Jetzt muss mein Ich in deiner Erinnerung immer diese abgewetzte Hose tragen.“

„Mach es nicht kaputt!“, schimpfte sie und schlug sanft mit der Faust gegen meine Schulter. Ihr Lächeln verriet mir aber, dass ich noch gar nichts kaputt gemacht hatte.

„Entschuldige.“, sagte ich und drückte sie an mich.

Es gelang ihr, mich dabei nicht aus den Augen zu verlieren. Im Gegenteil, sie zog mich zu sich runter, zu sich rüber, zum Bett. Sie biss sich auf die Unterlippe dabei, so als müsste sie sich zusammenreißen.

Dann sagte sie auf einmal: „Malik hat nicht Recht.“

„Womit?“

„Mit nichts.“, flüsterte sie.

Sie zog mich in die Federdecken. Wieder umschloss uns das weiche Deckengestöber. Wir ertranken. Sie legte mir tausend Küsse ins Gesicht und ihre Hände schlichen sich unter meinen Pullover auf meine Haut.

„Die Welt ist nicht so schlimm.“, sagte sie. „Sie kann nicht so schlimm sein, wenn ein einziger Augenblick alles auflösen kann. Und nur dich und mich zurücklässt.“

„Das solltest du aufschreiben.“, meinte ich.

Ich spürte, wie sich ihr Körper unter meinem spannte.

Sie biss mir auf die Unterlippe.

Die Decken verschlangen uns endgültig.

Später ließ sie mich genau in dieser Deckenhöhle alleine zurück und verschwand ins Badezimmer. Ich hörte durch das ganze Haus hindurch, wie unten mit Geschirr geklappert wurde. Und das dumpfe Murmeln von Smalltalk. Wenn sich eine Tür öffnete, konnte ich ein wenig deutlicher Einzelheiten heraushören. Zum Beispiel ein laufendes Radio.

Ich stand auf und ging hinüber zum Dachfenster. Wenn ich auf Zehenspitzen stand, konnte ich über das Dach hinaus sehen. Ich horchte in mich hinein und war überrascht, wie warm und leer sich alles anfühlen konnte. So als wäre alles Wesentliche gerade aus einem ausgewichen. So als hätten alle Ventile zu lange offen gestanden. Es war kein schlechtes oder tragisches Gefühl, aber es war anders als ein gutes Gefühl

Dann setzte ich mich wieder an die Hifi-Anlage. Eine Weile drehte ich die Plattenhülle wieder in meinen Händen, ich starrte das Cover so lange an, bis mir bewusst wurde, dass ich es mir gar nicht richtig ansah.

Ich legte Debussy wieder auf. Schaltete wieder ein. Legte mich vor die Anlage und schloss die Augen.

Es war wie Aufladen.

Wie eine Sanduhr, die Debussy umdrehte, damit jedes Sandkorn wieder seinen Weg durch die Enge zurückfand.

Irgendwann war früher Abend geworden. Wieder die Verfärbungen des Himmels. Wieder Nacht und Tag und Nacht und Tag.

Ich weiß, dass ich innerhalb von zwei Monaten mir sieben Schallplatten von Debussy anschaffte. Mein ganzes Taschengeld ging drauf, diese Platten zu organisieren. Cosima und ich hörten keine mehr zusammen. Keine Ahnung warum. Wir blieben dann bei Kuschelrock.

Und es läuft wie es läuft.

Irgendwann hörte sie Limp Bizkit und Papa Roach, KoRn und solche Sachen, die Malik auch hörte. Malik war in der Oberstufe komplett auf einen anderen Zug geraten. Er las jetzt Gorki und sagte Dinge wie „Die Kultur hat die Aufgabe, dem Menschen in seiner Moral Stärke zu geben.“

Er begann Doc Marten’s zu tragen. Natürlich mit roten Schnürsenkeln.

Er rasierte sich die Haare ab. Und irgendwann hing Cosima an seinem statt an meinem Arm.

Im Internet steht, dass es zwei Arten von Fehler gibt.

Fehler, die du machst und Fehler, die die andern machen. Ist letztlich egal, wer Schuld hat. Wer als erstes mit wem nicht mehr spricht.

Wenn ich Debussy höre, rieche ich immer Vanille. Und ich habe das Gefühl, von dichten, warmen Wolken umgeben zu sein, wenn Nazareth läuft (aber diese gute Musik läuft ja genauso wenig wie Debussy im Radio).

Als ich zufällig bei einer Reise in Amsterdam vor einem abrupten Regenschauer in einen Musikerladen flüchtete, sah ich einen Jungen, der mich an Malik von früher erinnerte. Und ich dachte an seine Ausgleichstheorie von damals.

Ich stellte mir vor, dass es Menschen gab, die für mich einmal Segel waren und jetzt so was wie Anker geworden sind.

Während der Regen in breiten Schlieren über die verschmierte und bekritzelte Fensterfront runterrann, dachte ich: Gut so. Wenn die erste Liebe immer funktionieren würde, wären wir alle viel zu arrogant. Wir würden viel zu viel Platz für unsere Egos in Anspruch nehmen. Es wäre ein verdammt lauter Planet, wenn jeder mit zwei Würfeln beginnen würde.

Auf einmal legte der Typ hinterm Tresen eine Schallplatte auf.

Das laute Knistern, das wir früher immer „Lagerfeuer“ genannt hatten, rauschte durch den Raum, übertönte sogar das Prasseln des Regens.

Es dauerte, bis die ersten echten Töne hörbar wurden.

Und so lange es knisterte, stellte ich mir vor, da würde jetzt gleich nichts anderes als Debussy laufen. Weil das Universum auf irreweise funktionierte. Und vielleicht, weil es wieder Zeit war, meine Sanduhr umzudrehen.

Könnte ja sein, dass es wieder ein Tag wird, dem man alles zutrauen kann.

Zeit, die Segel zu setzen und die Anker zu lichten.

Bullshit, grinste ich.

Und lud auf.

Was sagt ihr dazu?